leibniz # 2/2016: Flucht

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Fremdenzimmer

Es war eine große Provokation, aber auch eine kleine Wahrheit. Das europäische Asylsystem, sagte die damalige EU-Innenkommissarin Anna Cecilia Malmström 2013, gleiche einer Lotterie. Mit ihrer Einschätzung steht Malmström nicht alleine da: Wer bleibt und wer gehen muss, ist in Europa nicht zuletzt Glückssache. Europaweit

Der Markt regelt das besser als die Behörde.

gilt das Dublin-Abkommen. Es legt fest, dass der Asylantrag

sern häufig der Fall ist.« Nur wo Geflüchtete Zugang zu Arbeit, Bildung und sozialer Infrastruktur hätten, blieben sie auch langfristig. Diese Perspektiven sehen sie meist nur in Städten. Oliver Holtemöller schlägt deshalb vor, das Prinzip der Verteilung umzudrehen. »Im Moment wollen die Regionen die Kosten niedrig halten«, sagt er. »Es

wäre aber besser, wenn sie Anreize bekämen, für Zuwande-

im ersten »sicheren Drittstaat« gestellt werden muss, den

rer attraktiver zu werden. Insbesondere für Regionen mit

ein Asylsuchender betritt. Ist das Deutschland, bestimmt der

sinkenden Bevölkerungszahlen kann das sinnvoll sein.« Auch

Königsteiner Schlüssel, in welchem Bundesland er unter-

für Geflüchtete könnten ländliche Gebiete Vorteile haben, sagt

kommt. Dieser berechnet sich zu zwei Dritteln nach der

Felicitas Hillmann: »Viele sind traumatisiert, sie wünschen

Steuerkraft des Bundeslandes und zu einem Drittel nach

sich kleinere, übersichtliche Gemeinschaften.«

der Einwohnerzahl. Über die weitere Verteilung entscheiden

die Landesbehörden.

kann. Nach dem Zweiten Weltkrieg flohen mehrere Millionen

Menschen nach Deutschland. Damals bestimmte die Militär-

Soweit die Theorie. Praktische Fragen stellten sich lan-

Ein Blick zurück zeigt, wie man Integration fördern

ge kaum. Die Flüchtlingszahlen sanken ab Mitte der 1990er

regierung, wer wo wohnte. Einige Flüchtlinge verbrachten

Jahre. Erst mit ihrem Wiederanstieg erhitzte sich auch die

Jahre in Provisorien. Zwei Dinge hätten die Integration damals

Debatte um die Verteilung. Zunächst klingt es logisch, dass

forciert, sagt Thomas Schlemmer vom Münchner Institut für

der Staat, der die Flüchtlinge versorgt, entscheidet, wer wo

Zeitgeschichte: umfangreiche Sozialprogramme für Altbür-

leben wird. Effizient und kurzfristig günstig scheint es, sie

ger und Flüchtlinge. Und ein wirtschaftlicher Aufschwung,

in ländlichen Regionen unterzubringen, wo die Mieten nied-

dessen Bedeutung man gar nicht überschätzen könne. »Der

rig sind. Die meisten Zuwanderer streben aber in Städte, wo

Arbeitsmarkt war die große Integrationsmaschine für Mi­

bereits Landsleute leben. Doch natürlich können dort nicht

granten und Nichtmigranten.«

alle unterkommen — deshalb landen sie auch in den Dörfern

und Kleinstädten Europas.

kurzfristig teurer. »Aber die wirklichen Kosten sind nicht

Zieht jeder Geflüchtete an seinen Wunschort, ist das

Aber ist dieses Vorgehen langfristig günstig für die

die Mieten«, sagt Oliver Holtemöller. »Teuer wird es, wenn

Integration? »Für Phasen mit außergewöhnlich starker Flücht-

ein Zwanzigjähriger herkommt und aufgrund unzureichen-

lingsmigration«, sagt Oliver Holtemöller vom Leibniz-Institut

der Integrationshilfen den Rest seines Lebens Transferemp-

für Wirtschaftsforschung Halle, »ist der Königsteiner Schlüs-

fänger bleibt.« Er ist überzeugt: Die Flüchtlingsbürokratie

sel eine vernünftige Sache.« Sobald geklärt ist, ob jemand

verursacht selbst unnötige Kosten. »Das Geld für die Beam-

bleiben darf, hält der Ökonom gesteuerte Verteilung aber

ten sollte man lieber für Kindergärten und Schulen verwen-

nicht für die effizienteste Lösung. »Der Markt regelt das bes-

den.« Holtemöller plädiert deshalb wie viele Ökonomen für

ser als die Behörde.« Wirkung zeige es eben gerade, wenn

eine andere Verteilung. Wenn schon ein Schlüssel zum Ein-

Geflüchtete dahin gehen, wo sie Gemeinschaften aus ihren

satz komme, sollte er auch berücksichtigen, wie viele Aus-

Heimatländern vorfinden — sie fördern die Neuen mit Jobs

länder in einer Region arbeitslos sind — diese Quote sei für

und Alltagshilfe.

die Integrationschancen aussagekräftiger.

Felicitas Hillmann untersucht am Leibniz-Institut für

Dass diese Idee bald politische Realität wird, ist un-

Raumbezogene Sozialforschung in Erkner, welche Bedeutung

wahrscheinlich. Im Mai hat die Große Koalition eine neue

Migration für Städte hat. Sie sagt: »Für die Integration ist

Wohnsitzregelung beschlossen: Wer Hilfe vom Staat bezieht,

es zentral, dass die Geflüchteten nicht außerhalb der Gesell-

muss in dem Bundesland leben, das ihm zuerst zugewiesen

schaft untergebracht werden, wie das bei den Erstaufnah-

wurde. Und dort auch bleiben — bis zu drei Jahre über das

meeinrichtungen in abgelegenen Kasernen oder Krankenhäu-

Ende seines Anerkennungsverfahrens hinaus.

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