macht masse kollektiv (Ausstellungskatalog)

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KUNSTVEREIN GEGENWART


ein dezentrales Kulturprojekt im Spannungsfeld zwischen Kunst, Politik und Wissenschaft 22.6. – 8.7.17 ein Projekt des Kunstverein gegenwart e.V.

mit Beiträgen von:

ACAD & C Paula Marie Kanefendt Savita Kim Lukas Kreiner Dean Maaßen Hannes Neubauer Agata Pietrzik Ramona Schacht Antje Seeger CaroSell Theresa Szymanowski Daniel Theiler Sebastian Wanke und Julia Schäfer

Text und Vortrag von: Katharina Sturm

Vermittlungsformate von: Ina Luft Maximilian Mandery


macht masse kollektiv – ein dezentrales Kulturprojekt im Spannungsfeld zwischen Kunst, Politik und Wissenschaft

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Die Wirkung und Erscheinungsform von Massen sind und bleiben ungebrochen mitreißend. Besonders bei politischen Protesten und Massendemonstrationen scheint ein diffuses Gemeinschaftsgefühl erlebt zu werden, das dem Individuum suggeriert, Teil einer wirkmächtigen Gruppe zu sein. Aktuell lässt sich in Europa ein immer stärkerer Aufschwung national denkender Bewegungen, gefolgt von rassistischen Ressentiments als kollektives Massengefühl, beobachten. In ihnen pulsiert das Streben nach politischem Einfluss, wobei deren populistische Äußerungen und Vorurteile immer wieder Diskriminierung und Konflikte beinhalten. Anstelle demokratischer und kultureller Reife führen solche Gruppierungen in den Zustand nationaler Abschottung, wodurch es zu einer rigiden Einteilung in Eigen- und Fremdgruppen kommt. Dabei konzentrieren sich beispielsweise die Strategien der sogenannten »Identitären Bewegung« weniger auf Massendemonstrationen und politische Proteste, sondern vielmehr auf das Agieren in Kleingruppen, deren Aktionen vorwiegend massenmedial verbreitet werden. Gerade durch die von den Digital Natives genutzten Internetplattformen des Social Media erreichen sie so eine breite Masse. Inwiefern kann ich mich entscheiden der Masse anzugehören, ihr entgegenzutreten oder ihr lediglich von außen zuzusehen? Welche Mechanismen und Prozesse treiben uns an? Welche individuellen und kollektiven Prozesse steuern die Entscheidungen der Masse? Wie lassen sich Phänomene wie Masse, Kollektiv und Individuum in der Kunst mittels unterschiedlicher Herangehensweisen und Techniken thematisieren? Diese und daran anknüpfende Fragen leiteten das Jahresvorhaben 2017 des Kunstverein gegenwart e.V. ein: Mit dem dezentralen Kultur­projekt macht masse kollektiv nähert sich der Kunstverein dem Spannungsfeld zwischen Masse und Individuum und den damit verbundenen Machtprozessen an – kollektive Praktiken, die nicht nur auf politischer Ebene, sondern

in zahlreichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wie Kunst, Kultur und Wissenschaft, zu beobachten sind. Der 2012 von Studierenden der Universität Leipzig gegründete Kunstverein lädt jährlich unter einer übergreifenden Thematik junge Künstler_innen und Wissenschaftler_innen zur Teilnahme an einem interdisziplinär ausgerichteten Projekt ein. Dieses wird von einem kuratorischen Team gemeinsam erarbeitet und umgesetzt. Dabei liegt der Fokus auf der Kooperation mit verschiedenen Akteur_innen sowie auf der kulturellen Bereicherung des Leipziger Ostens. Der Idee eines mobil agierenden Kunstvereins ohne festen Sitz folgend, konzentriert sich das diesjährige Kulturprojekt macht masse kollektiv nicht auf einen exklusiven Ort, sondern bespielt fünf bereits existierende Örtlichkeiten entlang der Eisenbahnstraße im Leipziger Osten, im Bestreben den gesamten umliegenden Stadtraum zu beleben. Die fünf konzeptuell gleichberechtigten Projektbausteine – Projektzentrale, Ausstellung, Filmscreening, Vortragsabend und Workshop – bilden die strukturelle Grundlage und schlagen einen Bogen zwischen Kunst und Politik sowie Theorie und Praxis. Im Rahmen dieses Projektes freuen wir uns sehr, mit dem Bistro 21, dem Raum Weisz, der Lu 99, dem Vary Plattenladen & Café und Hildes Enkel zusammenzuarbeiten und in deren Räumen zu Gast sein zu dürfen. Der Raum Weisz dient während des gesamten Projektzeitraums nicht nur als Zentrale von macht masse kollektiv, sondern fungiert zudem als Denklabor, das Platz für Workshops bietet. Gezeigt wird hier eine Arbeit von Sebastian Wanke zur kollektiven Intelligenz, die Kunst und Wissenschaft verknüpft und deren Möglichkeiten und Grenzen auf gesellschaftlicher sowie politischer Ebene auslotet. Auch die installativ-partizipative Arbeit followers von Daniel Theiler findet hier ihren Ausgangspunkt: In einem humoristischen Ansatz stellt der Künstler Massenansammlungen von Menschen Gruppierungen von Stadttauben gegenüber und knüpft damit eine Verbindung zwischen Versammlungsrecht und Revierverteidigung. Im Bistro 21 versammeln sich darüber hinaus fünf weitere künstlerische Positionen, die sich auf gesellschaftspolitischer Ebene sowie von einem individuellen Blickwinkel aus mit der Wirkmächtigkeit des Phänomens Masse und der Struktur eines Kollektivs beschäftigen: Für ihre installative Arbeit [m a s ɘ] generiert die Künstlerin Savita Kim aus rund 400 schwarz-weiß Abbildungen von Menschen eine panoramatisch angelegte Collage. Dean Maaßen beleuchtet in seiner Installation kritisch das weit


verbreitete Phänomen der Leiharbeit durch die Abbildung stereotypisierter Arbeiter_innen. In ihrer atmosphärischen Fotoserie, die in dem Künstlerbuch Zeit ist in Träumen sonderbar. – Le temps est étrange dans les rêves. zusammengefasst ist, wirft Ramona Schacht einen Blick auf ein sich neu konstituierendes Kollektiv in einem französischen Dorf und stellt somit die Frage, ob sich in deren Zusammenschluss der Wunsch nach gemeinsamer Meinungsbildung als Alternative zu einer globalen, digitalen Vernetzung abzeichnet. A Gender of Agency, die Videoarbeit des Künstler_innenkollektivs ACAD&C, stellt dagegen in einer cleanen Werbeästhetik Gesten und Bilder einer konformen Arbeitswelt dar. In ihrer Performance Balaclava, die zur Vernissage stattfindet, hinterfragt Paula Marie Kanefendt ausgehend von massenmedial vermittelten Bildern deren ästhetische Kraft und Möglichkeit individuellen Ausdrucks in einem radikal konformistischen globalen Konsumkapitalismus. Das Filmscreening zeigt in der Lu 99 die Videoarbeiten der Künstler_innen Hannes Neubauer, Agata Pietrzik und CaroSell und ermöglicht über das Thema Masse und Kollektiv innerhalb des Formats Film ins Gespräch zu kommen. Die Videoarbeiten thematisieren Prozesse und Energien von politischen Demonstrationen in Istanbul (Türkei), São Paulo (Brasilien) und am Frankfurter Flughafen (Deutschland). Erweitert wird das Projekt von Workshopformaten der Kunstpädagogin Ina Luft und des Theaterpädagogen Maximilian Mandery, in denen das Verhältnis von Masse und Individuum performativ erfahren und erprobt wird. Ergänzt werden die Positionen der bildenden und darstellenden Kunst durch interdisziplinäre Vorträge: Im Rahmen des Projektauftakts setzt die Kunstwissenschaftlerin Julia Schäfer das Werk Sebastian Wankes in einen wissenschaftlichen Diskurs. Zudem spricht Katharina Sturm im Vary Plattenladen & Café zum Verhältnis von Kunst und Spektakel. Der Katalog ist weniger eine begleitende Publikation in herkömmlicher Form – vielmehr soll dieser das Kulturprojekt inhaltlich ergänzen, weitere Denkräume eröffnen und neuen Herangehensweisen sowohl auf künstlerischer als auch auf wissenschaftlicher Ebene Platz verschaffen. Die Künstler_inneninterviews greifen das Format eines standardisierten Fragebogens auf, wie sie massenhaft für Umfragen, PR-Maßnahmen und wissenschaftliche Erhebungen angefertigt werden – jedoch lassen sie den Befragten genug Raum, um individuelle Antwortmöglichkeiten zu finden. Außerdem bietet der Katalog Platz für das Essay von Antje Seeger, die künstlerische Formel zur Unendlichkeit von Lukas Kreiner, illustrative Collagen von Theresa Szymanowski sowie einen den Vortrag begleitenden Text von Katharina Sturm.

Auch dieses Jahr wäre die Realisierung des Projektes ohne die ideelle und finanzielle Unterstützung unserer Partner_innen nicht möglich gewesen. Zuallererst danken wir unseren Kooperationspartner_innen Bistro 21, Raum Weisz, Lu 99, Vary Plattenladen & Café und Hildes Enkel für die Bereitstellung ihrer Räumlichkeiten. Für die finanzielle Förderung danken wir sehr herzlich dem Kulturamt der Stadt Leipzig, dem Studentenwerk Leipzig, dem Student_innenrat der Universität Leipzig, dem Verfügungsfond Soziale Stadt Leipziger Osten sowie den Fachschaftsräten der Kunstpädagogik und Musikwissenschaft, Philosophie, Theaterwissenschaft und Wirtschaftswissenschaften der Universität Leipzig. Darüber hinaus möchten wir uns ganz herzlich bei unseren Mitgliedern sowie allen Helfer_innen und Sponsoren für die Unterstützung unserer Arbeit sowie bei den Künstler_innen und Referent_innen für die Zusammenarbeit bedanken. Elisabeth Würzl

Vorsitzende

Helene Mager

Stellv. Vorsitzende

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das spektakel und die masse katharina sturm


Am 23. Oktober 2015 wird Düsseldorf mit der Tanzperformance MatchAtria¹ zum Zeugen eines multimedialen Spektakels. Geishas geleiten uns in den sorgfältig abgedunkelten Raum, wo wir mit 3D-­ Brillen und Dolby Surround Kopfhörern ausgestattet werden. Dann, die eigentliche Besonderheit des Abends: Das Modell eines Herzens wird uns gereicht. Für technisch modifizierte Augen tanzt nun der Körper Yui Kwaguchis auf der Bühne, 3D-Projektionen umspielen sie mit Blut­körperchen und Atomen. Ihre vorab aufgenommene Stimme flüstert in unsere technisch modifizierten Ohren und in unseren Händen pulsiert das Herz aus Silikon. Aus dem Körper der Tänzerin, in das Modell, strömt der Herzschlag in die natürlichen Sensoren unserer Haut hinein. Ich, die beiden Menschen neben mir, die Menschen vor und hinter mir werden in einem metaphysischen Moment zur vernetzten Einheit, exzentrisch zum Außen. Natur, Mythos und Technik sind, beruhend auf den Thesen, die Daniela Ott in ihrem Buch »Vernetzung« aufstellt, die drei Kernelemente des Spektakels.² Als Dreieinigkeit haben sie einen vernetzenden Effekt auf die Masse. Digitalisierung, die technische Modifikation der Wahrnehmung, macht für einen Abend den inneren Kosmos einer Tänzerin zum Spektakel. Dabei sind die vernetzenden Elemente des Spek­takels nicht starr, ihre Wirksamkeit weder stringent konstruktiv, noch destruktiv, jedoch immer in Bezugnahme auf die Masse und ihr jeweiliges Mediensystem zu betrachten. Niemals darf dabei außer Acht gelassen werden, dass Vernetzung eine tief in der menschlichen Psyche angelegte Sehnsucht ist, die das Spektakel ebenso bedienen, wie torpedieren kann.³ Einerseits hat es das Potenzial, einen der Realität übergeordneten, exzentrischen Raum der Verbundenheit zu schaffen. Andererseits beobachtet Guy Debord noch ehe Theoretiker der Post­ modern wie Paul Virilio, sich mit den zersetzenden Effekten einer eher auf Konsum und weniger auf Erfahrung ausgerichteten Gesellschaft auseinandersetzen, den Übergriff des Spektakels auf die Gesellschaft als Prozess, in dem Repräsentation Realität ersetzt.⁴ Heute, gut vierzig Jahre später, analysiert unter anderem Anke Abraham uns als Gesellschaft, die so besessen vom Spektakulären ist, dass schlichtweg die Zeit für tiefergreifende Erfahrungen fehlt. Diese sind jedoch maßgeblich für den Aufbau von Bindung, von Vernetzung.⁵ An die Stelle leiblicher Beziehungen treten digitalisierte Bilder, an emotionale Wunschwelten

gekoppelt – Identität, Erfahrung und Bindung verkümmern dabei. Die Lösung dieser »Alltagsmisere« scheint, paradoxerweise, ihr Verursacher selbst zu sein. So sieht beispielsweise Max Reinhardt bereits Anfang des 20. Jahrhunderts dem Spektakel inhärent einen »Ort der Freude«, das Spektakel als »festliches Spiel«, das »hinausführt in eine heitere und reine Luft der Schönheit«.⁶

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Was sich abzeichnet ist, dass offensichtlich zwei Varianten des Spekta­ kulären existieren – dienen sie, wie Debord es dem Spektakel in der Gesellschaft unterstellt, in erster Linie sich selbst ⁷ sind sie kaum voneinander zu unterscheiden. Differenziert werden kann, ob die benannte Verbindung Natur-Mythos-Technik darauf ausgelegt ist, aus Masse Kollektive zu formen, zumindest zu vernetzen, oder ob sich lediglich »erstarrte Subjekte« ⁸ bilden. Die Macht dazu scheint in den Händen der Herren des Spektakels zu liegen, seien es Werbetreibende, Regisseure oder Politiker. Zugleich ist auch das instrumentalisierte Spektakel ein Ort der Vernetzung, so wie aktuelle Bewegungen der Gegenöffentlichkeit in den sozialen Medien eine Plattform wirksamen Gegenspektakels gefunden haben. Die vernetzende Wirkmacht von Natur-Mythos-Technik lässt sich im Spektakel-Event zunächst als Rausch technisch gestärkter sensomotorischer Reize und, insbesondere im Massen-Event, der schieren Übermacht leiblich präsenter Körper beschreiben. Koexistent zur Realität wird ein zweiter Raum geschaffen, den ich an dieser Stelle das exzentrische Spektakel nennen möchte. Auch MatchAtria ist ein solcher Raum und modifiziert Realität technisch zu einem metaphysischvernetzenden Erlebnis. Kunst, psychoanalytisch und nach Ansicht aktueller Ritualforschung betrachtet, ist eine Lustquelle, in der das Ritualhafte wiederbelebt wird ⁹ indem das »Bewusstsein einer gemein­ samen Situation« zum Rausch wird.¹⁰ Im »Prozess des Zusehens« verfangen wir uns im Netz »einer gemeinsamen Vorstellungswelt«¹¹, dem schon mehrmals erwähnten Mythos. Im Mythos, dem Unklaren, Uneindeutigen, wurzelt der exzentrische (Flucht-)Raum zur alltäglichen Gegenrealität, dem Logos. Signifikanterweise aber bildet der Mythos darüber hinaus auch »[…] die erste uns bekannte Form der Weltinterpretation«¹². Als »Erzählgut, das fast alle Völker der Gegenwart und Vergangenheit


aufrufen können«, stellt er sich einerseits als Medium individueller »[…] Ausdrucks-, Denk- und Lebensweise eines Volks […]« dar, ist jedoch auch überkulturelles »Mittel der […] Bewältigung« einer zeitlosen Suche nach Erfahrung und Wurzeln.¹³ Im Beschwören und Feiern von »Anschauungen von fundamentalen Wahrheiten«, schafft er »Lebensmotivation und ein Gefühl der Geborgenheit«¹⁴. Diese »sinn­ stiftende und alltagstranszendierende Funktion«¹⁵ ist zeitgleich die Befriedigung eines zivilisatorischen Bedürfnisses: Sind innerhalb einer Gesellschaft einmal Hunger, Durst, Wärme gestillt, verlagert sich unser konstant existentes Wollen in die Sehnsucht nach Gemeinschaft, im Sinne von Transzendenz, im Sinne von Alltagsflucht, im Sinne von Vernetzung.¹⁶ In der neoformalistischen Gesellschaft steht jedoch neben dem benannten Zeit- und Konsumdruck der Eindruck, bereits alles zu kennen, was insbesondere transzendente Erfahrungen fast unmöglich macht.¹⁷ Wie schon angedeutet, wächst das Bedürfnis nach dem vernetzenden Effekt des Spektakels also paradoxerweise, je mehr es aus dem »Zwischenreich der Kunst«¹⁸ heraus und in die Gesellschaft übertritt. In Abgrenzung zum exzentrischen soll es als das invasive Spektakel bezeichnet werden. Das invasive Spektakel hat Realität nicht einfach ergänzt, sondern sich über sie gestülpt, wie die Schutzhülle über das Sofa: Das so ummantelte Möbelstück repräsentiert zwar weiterhin Gemütlichkeit, wie sich der weiche Stoff anfühlt, könnte man dabei aber ziemlich schnell vergessen. Zeitdruck und Konsumzwang tun dann ihr Übriges, um selbstgemachte Erfahrung durch in den Massenmedien vorgefertigte Emotionen des invasiven Spektakels zu ersetzen: Denn ist die Gesellschaft tatsächlich so ausgehungert und übersättigt in einem, dann scheint es tatsächlich zu genügen, eine Wahrheit aus zerfallenen Bildern zu verbreiten. Instrumentalisiertes exzentrisches Spektakel wird bedrohlich, wenn es mit dem invasiven Spektakel paktiert, wenn wir, nach Debord und Abraham, die Ware, das Fertigprodukt, den Beschleunigungsdruck die Herrschaft über Beziehung, Vernetzung und Empathie übernehmen lassen.¹⁹ Die Beschreibung der Inszenierung MatchAtria soll diesem Pessimismus nicht etwa ein hübsches Bild aufsetzen. Das exzentrische Spektakel hat sich nicht an seiner Umnutzung zum Invasiven erschöpft, ebenso wenig endet die Fusion aus Natur-Technik- Mythos an vollen Kassen. Nicht nur

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koppelt hier Tempo und Überfluss wirkverstärkend an unseren Hang zum Mythos, zusätzlich wird hier die Not der Bildübersättigung zur Tugend: Die »aktive und kognitive Persönlichkeit« des vom Spektakel erzogenen Subjekts konstituiert »das Wahrgenommene durch seine teilnehmende Tätigkeit«²⁰, was nichts anderes bedeutet, als dass wir bereits wissen, wie es ausgeht und trotzdem zusehen. Die Durchschaubarkeit des Spektakels ist bereits Teil des Rituals: Im gemeinsamen Durchblicken liegt das Potenzial, die Masse erstarrter Subjekte zum Kollektiv zu vereinen. Hollywood Blockbuster befinden sich dabei vermutlich nicht auf metaphysischen Pfaden, sondern haben lediglich eine spektakuläre Geld­quelle erkannt. Das Spektakel arbeitet hier sicherlich primär für das Spektakel. MatchAtria ist, explizit durch die technische Verstärkung, herunter gebrochen auf das Erleben von Vernetzung in einer durchaus als rein und transzendent zu bezeichnenden Form. Statt dem diffusen Netzraum einer abstrakten Erzählung zu begegnen, sind es meine Ohren, meine Augen, meine Haut, denen etwas widerfährt. Nicht mehr mein überforderter, neoformalistischer Geist, sondern mein Körper wird aktiviert und zugleich abgeschottet. Erst hier findet die Fusion aus NaturTechnik-Mythos statt: Natur wird von Technik modifiziert, Technik transportiert den Mythos – ohne Erzählung, kein Logos, sondern Erleben. 1  Yui Kawaguchi und Yoshima Ishibashi: MatchAtria Extended, 2015 u. a. in Düsseldorf und Berlin aufgeführt. 2  Ott, Daniela: Vernetzung, Würzburg 2015, S. 37. 3  Vgl. ebd., S. 32. 4  Vgl. Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996. 5  Abraham, Anke: Der Körper als Speicher von Erfahrung. Anmer­kungen zu übersehenen Tiefendimen­sionen von Leiblichkeit und Identität. In: Robert Gugutzer (Hg.): Body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld 2006, S. 119–141, hier S. 141. Sie argumentiert hier für den Verlust von Erfahrung durch den zunehmenden Beschleunigungsdruck innerhalb der konsum- und leistungsorientierten Gesellschaft. 6  Rheinhardt, Max (1902) zitiert in Kahane, Arthur: Tagebuch eines Dramaturgen, Berlin 1926, S. 115 ff. 7  Vgl. Debord 1996, S. 13 ff. 8  Ebd., S. 13. 9  Vgl. Freud, Siegmund: Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt a. M. 2000, S 212; 378. 10  Vgl. Köpping, Klaus: Theatralität als Voraussetzung für rituelle Effektivität. In: ff In: Hentschel, Ingrid, Hoffmann, Klaus (Hgg.): Theater – Ritual – Religion, Müns-

ter 2004, S. 120–144, hier S. 144 sowie Hentschel, Ingrid: Dionysos darf nicht sterben. Theater in der Gegenwart. In: ebd., S.10–25, hier S. 25 ff. 11  Ott 2015, S. 34. 12  Skarics, Mariann: Popularkino als Ersatzkirche, Definition und Abgrenzung des Mythosbegriffes, Berlin/Wien, S. 38 ff. 13  Ebd., 41 ff. 14  Ebd., 41 ff. 15  Ebd., 41 ff. 16  Vgl. ebd., 4717 Der Begriff des Neoformalismus geht auf das Wisconsin-Projekt der Filmwissenschaftler David Borwell, Kristin Thompson und Janet Staiger zurück, die sich Ende der 1970er Jahre mit einem durch Medien sozialisierten Zuschauer auseinandersetzen, der durch das Zusehen der filmischen Handlung vorausgreifend Narration konstruiert: Der Zuschauer des Blockbusterkinos kennt sämtliche filmische Zeichen und kann daher von der Handlung nicht überrascht werden. (Vgl. hierzu u. a. Bordwell, David: Narration in the Fiction Film, London 1985.) 18  Freud, Siegmund 2000, S. 212. 19  Vgl. hierzu u.a Abraham 2006, S. 127–128. 20  Bordwell 1985, S. 30.

Katharina Sturm (*1989) studierte zunächst Theater und Medien sowie Anglistik in Bayreuth. Aktuell befindet sie sich im Zweifachmaster der Medienund Theaterwissenschaften. Praktische Erfahrungen in diesen Bereichen sammelte sie unter anderem am Theater »Der Keller« in Köln, dem Schauspielhaus sowie am Forum für Freies Theater in Düsseldorf. Im Rahmen von macht masse kollektiv ist ihr wissenschaftlicher Beitrag »Das Spektakel und die Masse« am 06. Juli 2017 im Vary Plattenladen & Café zu hören.


followers

daniel theiler


Daniel Theiler, Followers, 2017, Tauben im Atelier Š Rouven Faust


Daniel Theiler, Followers

2017, 60 Tauben aus glasfaserverstärktem Beton und Bewehrungsstäben, ca. 28 × 16 × 11 cm, Siebdruck-Poster 42 × 59,4 cm

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Daniel Theiler, Followers, 2017, im Atelier beim Herstellen der Körper für die Gussformen © Rouven Faust

Wie würdest Du die Atmosphäre Deiner Arbeit beschreiben? Die Atmosphäre ist humorvoll, hängt aber stark von der Größe und Setzung der Taubengruppen ab. In kleinen Formationen haben sie beinahe etwas Niedliches, aber in größeren Gruppen bekommen sie etwas Bedrohliches und Zombihaftes. Die stilisierte Form der Tauben weckt Assoziationen von Gartendekorationen, wie man sie häufig in deutschen Vorgärten findet. Erst die Materialien Beton und Stahl lassen die Tauben bei näherem Hinschauen roh und abweisend erscheinen. Die Arbeit thematisiert das Aufeinanderprallen der Ansprüche an eine moderne, offene städtische Gesellschaft mit einer kleinbürgerlichen nur auf die eigenen Vorteile bedachten Geisteshaltung, die sich in den Bannern und Symbolen der Aufmärsche von Pegida und anderer rechter Gruppen zeigt. Die Demonstrant_innen können mit den Werten einer offen städtischen Gesellschaft wenig anfangen. Trotzdem oder gerade deshalb wählen sie die urbane Bühne, um besonders sichtbar zu sein und sich Gehör zu verschaffen. Durch die Setzung der originalgroßen Tauben in Gruppen rückt das Individuum in den Hintergrund. Die Gruppen »wandern« im Rahmen der Ausstellung durch die Stadt. Gruppen tauchen an verschiedenen Stellen auf, wobei sie wachsen und schrumpfen. Eine kleine unscheinbare Gruppe kann innerhalb kurzer Zeit zu einer bedrohlichen Masse anschwellen. Die Arbeit spielt mit diesen Dynamiken: Einerseits durch die Formations­ wechsel, die sich zwischen Individuum und Masse bewegen und andererseits durch die Ortswechsel, welche die Dynamik der Massen zwischen Vorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit in der Stadt deutlich machen. Wo positionierst Du Dein Kunstwerk zwischen gesellschaftskritischem Kunstverständnis und einer kunstimmanenten Sichtweise?

In meinen Arbeiten versuche ich häufig auf humorvolle Weise gesellschaftliche Herausforderungen zu reflektieren und neue Perspektiven und Denkweisen aufzuzeigen. Ich kann das Kunstwerk nicht von einer gesellschaftskritischen Betrachtungsweise trennen, weil es aus der konkreten Fragestellung heraus, nämlich wie sich Massen und Stadt zueinander verhalten, entstanden ist. Ich stellte mir die Frage, welche Massen in der Stadt präsent sind, welche Strategien es zum Umgang mit ihnen gibt und wie sich diese Strategien unterscheiden. Die Gesellschaftskritik ist dem Kunstwerk praktisch eingeschrieben. Welcher Prozess führt dazu, Dich künstlerisch mit dem Thema Masse und / oder Kollektiv zu beschäftigen? Die Themen Masse und Kollektiv beschäftigen mich schon sehr lange. Man muss ihnen viel Beachtung schenken, damit sie nicht aus dem Gleichgewicht geraten. Als ich in Zürich lebte, nahm das Schweizer Wahlvolk gerade das Gesetz zur Masseneinwanderungsinitiative gegen die Zuwanderung von Ausländern an. 2015, kurz nach meinem Umzug nach Leipzig, fing Legida an zu laufen. Brexit, Marine Le Pens Vorstellung eines starken Frankreichs, USA first: Immer geht es um Abschottung, die Teilung in die Eigen- und Fremdgruppe. Ich war von Anfang an auf fast jeder Gegendemonstration zu Legida. Es war schön zu sehen, dass die Zahl der Gegendemonstrant_innen zu Legida, anders als beispielsweise in Dresden, immer deutlich höher war, als die der Legida-Demonstrant_innen. Die Zahl der Legida-Symphatisant_innen nahm zwar mit der Zeit ab, aber auch die Gegendemonstrant_innen wurden immer weniger. Es ist sehr frustrierend, Woche für Woche immer der gleichen aggressiven Masse mehr oder weniger ohnmächtig gegenüberzustehen und es treten Ermüdungs­ erscheinungen auf. Es entsteht ein tiefes Gefühl gesellschaftlicher Spaltung zwischen der Gruppe, der man selbst angehört und der anderen Gruppe da vorne. Diese Ereignisse und dieses Gefühl habe ich in der Arbeit künstlerisch verhandelt. Was bedeutet es für Dich und für Deine Kunst, in einem Kollektiv zu arbeiten? Gerade wenn ich mich kritisch mit gesellschaftlichen Phänomenen auseinandersetze und die Herausforderungen des gemeinschaftlichen Lebens sichtbar machen möchte, muss ich nah an der Gemeinschaft und den verschiedenen Gruppen sein. Im besten Fall werde ich Teil des jeweiligen Kollektivs. Kollektives Handeln und Arbeiten in Gruppen stellt für mich einen unverzichtbaren Teil für die Entwicklung meiner Arbeiten dar – die Werke entstehen aus der Gemeinschaft heraus.


Wie funktionieren für Dich Massen und welchen Dynamiken sind sie unterworfen? Massen üben schon immer eine Faszination auf mich aus. Es ist spannend die Bewegungsströme zu beobachten, die auf den ersten Blick chaotisch wirken, aber bei genauem Hingucken klare Muster erkennen lassen. In meiner künstlerischen Arbeit followers wollte ich die Dynamiken verschiedener Gruppen und den Umgang mit ihnen auf Gesetzmäßigkeiten untersuchen. Dafür habe ich zwei Gruppen von Massen ausgewählt, die auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam haben: Rechte Protestgruppen und Stadttauben. Beide Gruppen sind im öffentlichen Raum präsent, die Proteste aus dem rechten Flügel nehmen weltweit zu und die Taubenpopulation wächst unkontrolliert, wenn man nichts gegen sie unternimmt. Man muss die Dynamiken der Massen verstehen, um Strategien zu ihrer Vermeidung entwickeln zu können. Mich hat besonders die Frage interessiert, ob diese Strategien jeweils auf die andere Gruppe übertragbar sind. Stadttauben sind Hemerophile, Kulturfolger, die dem Menschen in seine Kulturlandschaft folgen und dort die Vorteile, die die Stadt ihnen bietet, nutzen, wie beispielsweise das reichhaltige Nahrungs­ angebot. Im Gegensatz zur natürlichen Umgebung ist diese in der Stadt einfach, also ohne großen Aufwand, verfügbar. Einen Hang zu einfachen Lösungen können wir auch beim Menschen bei komplexen politischen Zusammenhängen feststellen, der ihn vom Kulturfolger zu einer Art Kulturflüchtling macht. Und gerade diese Kulturflucht und Vereinfachung stellt eine große Gefahr dar. Sie öffnet dem Populismus die Türen, der Ängste schürt und so die Massen für sich gewinnt. Wo liegt Deiner Meinung nach die Zukunft politischer Veränderungen: Im Massenprotest, in der digitalen Vernetzung oder in der Kunst? Welche Rolle würdest Du der Kunst oder speziell Deiner Kunst in diesem Zusammenhang zuschreiben? Solange es große Gruppen gibt, die mit der politischen oder gesellschaftlichen Situation unzufrieden sind, wird es auch Massenproteste geben. Wir müssen Antworten auf die Herausforderungen der heutigen Zeit finden. Neben der Politik sehe ich hier die Aufgabe für die Kunst, sich diesen Themen anzunehmen. Die digitale Vernetzung stellt meiner Meinung nach eine Chance dar, mehr Menschen für politische Themen zu begeistern und die Politik transparenter zu gestalten. Aber sie birgt auch Gefahren, wie beispielsweise die Verbreitung von Fake-News und unkontrolliertem HateSpeech. Wir müssen daher Orte schaffen, an denen

sich die Menschen auch physisch begegnen und zu aktuellen gesellschaftlichen Themen austauschen können. Menschsein bedeutet ja nicht nur am Rechner digital und anonym in Erscheinung zu treten, sondern sich auch real zu begegnen. Ich habe vor kurzem mit dem Projekt PdR-Leipzig genau so einen Ort vorgeschlagen: Den Wiederaufbau des Palastes der Republik nach seiner Asbestsanierung als ein Labor für Gegenwartskunst und flexibel nutzbaren Ort der künstlerischen Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Themen. Wir brauchen Orte an denen lebendige Diskussionen möglich sind und die den Menschen die Möglichkeit geben, ihre persönlichen Vorstellungen vom gemeinschaftlichen Leben mit den Anderen zu erörtern und abzugleichen. Daniel Theiler (*1981) studierte Architektur an der Technischen Universität Berlin, der University of Strahclyde in Glasgow und der ETH Zürich. Mit dem Interesse intensiver in einen künstlerischen Prozess einzutauchen, zog er 2014 nach Leipzig und realisierte dort beispielsweise das Grünau GolfResort im Rahmen des Festivals Raster:Beton 2016. In seinen konzeptionellen Arbeiten werden soziale und architektonische Fragen der Gesellschaft beleuchtet. Konventionen werden mit einem Augenzwinkern hinterfragt, Gewohntes umgekehrt und in andere Kontexte gesetzt.

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o. t.

sebastian wanke und julia schäfer


Sebastian Wanke, o.T., 2017, Filmstill


Sebastian Wanke, o.T.

2017, Videoinstallation

und entwickeln sich aus sich selbst heraus – und stehen dabei immer im direkten Kontakt zu ihrer Umwelt. Eine Menschenmasse verhält sich wie eine Herde. Menschen orientieren sich aneinander und vergleichen sich. Dynamiken entstehen durch Entscheidungen, die irrational oder rational getroffen werden. Dabei sind Rollen, Normen und Motivation Schlüsselbegriffe in Gruppen und Massen. Wie würdet Ihr die Atmosphäre Eurer Arbeit beschreiben? Ein immer wiederkehrender Versuch zur Sachlichkeit. Der natürlich scheitern muss.

Welche Potenziale und Spannungen seht Ihr im Zusammenspiel von Masse und Individuum? Das Bestmögliche, was in diesem Verhältnis entstehen kann, ist Schwarmintelligenz. Sie ist das größte Potenzial für Forschung, Wissenschaft und Entwicklung. Das Schlechtmöglichste an diesem Verhältnis ist das Herdenverhalten und die Anpassung, sowohl das Übernehmen von ungeprüften Informationen, als auch irrationale Entscheidungen und daraus folgendes Verhalten. Individuum und Masse stehen immer zwischen der narrativen Freiheit und Disziplinierung. Die Freiheit bedingt immer die Disziplinierung und umgekehrt. Was bedeutet es für Euch und für Eure Kunst, in einem Kollektiv zu arbeiten? Eine Bereicherung. In welchem Verhältnis seht Ihr heutige Formen des politischen Protests und den Möglichkeiten der digitalen und globalen Vernetzung? Die Beziehung zwischen Globalisierung, Digitalisierung und Protest besteht darin, dass sie durch Schnelligkeit geprägt ist. Nach unserer Ansicht ist das die Schwierigkeit hinsichtlich des Herden­ verhaltens – Stichwort Fake-News und die allgemeine Adaption von ungeprüften Informationen oder Verhalten – durch das sich gefährliches Halbwissen, »Mitläufertum« und Herdenverhalten entwickelt. Wie funktionieren für Euch Massen und welchen Dynamiken sind sie unterworfen? Nach der Definition ist Masse ein einheitlicher Körper. Vordergründige Rolle spielt dabei der Begriff »Einheit«. Wenn nun die Masse oder Einheit innerhalb Niklas Luhmanns Systemtheorie gesehen wird, könnte die Masse ein System sein, das immer Dynamiken unterworfen ist. Systeme sind eigenständig

Wo liegt Eurer Meinung nach die Zukunft politischer Veränderungen: Im Massenprotest, in der digitalen Vernetzung oder in der Kunst? Welche Rolle würdet Ihr der Kunst oder speziell Eurer Kunst in diesem Zusammenhang zuschreiben? js  Definitiv in der digitalen Vernetzung. Zukunfts­ orientiert werden Massenproteste nicht mehr die Auswirkungen haben wie bis dato. Meiner Meinung nach kann eine »Revolution nur von oben stattfinden«! sw  Ich habe allgemeine Schwierigkeiten mit dem Begriff der Kunst – ich denke jeder Mensch ist Katalysator seines Umfeldes und beschreibt dieses kreativ neu.

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Sebastian Wanke (sw) (*1986) und Julia Schäfer (js) (*1994) trafen sich an der Bauhaus Universität Weimar und arbeiten heute als künstlerisch-wissen­ schaftliches Team zusammen. Sebastian Wanke schloss sein Studium der Visuellen Kommunikation 2015 mit einem Diplom ab und verdient sich momentan seinen Lebensunterhalt maßgeblich mit der Beteiligung an der Sanierung und Renovierung eines Hotels in Weimar. Julia Schäfer verband in ihrem Bachelor Wissenschaft und Kultur mit Philosophie, arbeitet nun an ihrem Master. Währenddessen ist sie an verschiedenen kulturellen und politischen Projekten in Weimar beteiligt.

unendlich

lukas kreiner


Lukas Kreiner, unendlich,

2016, künstlerische Formel zur Unendlichkeit Lukas Kreiner (*1991), der seit 2015 Maschinenbau an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig studiert, beschäftigte sich in seiner Bachelorarbeit mit einer Roboterapplikation, welche die Sprachkommunikation zwischen Mensch und Roboter in gestörter Umgebung vereinfacht. Schon vor einiger Zeit entdeckte er seine Faszination für das Schreiner-Handwerk und verbringt seither viel Zeit in seiner Werkstatt.

√ 0 = ∞ Wo kommt es her? ∞ + 1 = ∞ Was bin ich wert? ∞ + 0 = ∞ Ist »Nichtstun« eine Option? ∞ + ∞ = ∞ Was für eine Verschwendung! 22

∞ ∞ = ∞ Größenwahn! 0 ∞ = 0 Wie stark ist es? ∞ − 1 = ∞ Kann man es besiegen? 0 × ∞ = Einfach verneinen? ∞ − ∞ = Nicht definiert!


Unser Denken ist auf dem Bestehen der Unendlichkeit fundiert, als auch davon begrenzt. Was ändert sich, wenn wir sie an ihre Widerlegung verlieren? Limes gegen die Endlichkeit. The Limit is only the sky. Nur noch theoretische Unendlichkeit. Praktisch das Ende. Grenzen vereinfachen.

– Ende –

a gender of agency

acad &c


ACAD & C, Research

ACAD & C, A Gender of Agency, 2015, Installationsansicht


ACAD & C, A Gender of Agency

2015, Video / Installation, 3:55 min

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ACAD & C – Agency for Contemporary Artistic Discourse and Collaboration

Wie würdet Ihr die Atmosphäre Eurer Arbeit beschreiben? nk  Das besondere an der Atmosphäre im Kollektiv ist, dass diese sich immer wieder neu generiert und für diesen Zeitraum einerseits auch »nur« temporär gültig ist. Sie setzt sich zusammen aus dem was jede / r einzelne beisteuert – egal wie bewusst dieser Beitrag durch den / die einzelne / n gesteuert ist. Gleichzeitig gibt es eine hohe Verlässlichkeit, dass sich eben genau durch diesen Prozess eine Atmosphäre generiert die einzigartig für diesen Moment und nur für diese kollektive Konstellation gültig ist. Als Individuum innerhalb dieses Kollektivs erwarte ich, dass sich die Atmosphäre im Kollektiv immer von meiner eigenen unterscheidet, weil sie aus der Mischung mit den Atmosphären der anderen entsteht. Im Laufe der Zeit habe ich diese kennengelernt und verstanden, dass ich darauf Einfluss nehmen kann. Von außen kann ich mir gut vorstellen, dass sich nur einzelne Aspekte dieser allgemeinen Atmosphäre, die ACAD & C ausmacht, wahrnehmen lassenund man durchaus die Gelegenheit braucht, einen Stimmungswechsel oder unterschiedliche Momente mitzuerleben, um eine allgemeine Atmosphäre beschreiben zu können. mk  Unsere Arbeit existiert nur aufgrund unserer gegenseitigen Impulse und Ideen. Die Atmosphäre entsteht durch den Austausch, aber auch durch die Formulierung von vielen Vorstellungen zu einem konkreten Plan. Die Atmosphäre ist bei uns nur dann konstruktiv, wenn wir es schaffen einander zuzuhören und Ideen zusammenzubringen. Wo positioniert ihr Euer Kunstwerk zwischen gesellschaftskritischem Kunstverständnis und einer kunst­immanenten Sichtweise? nk  Die Frage verstehe ich nicht ganz, da die Pole mir nicht entgegengesetzt erscheinen. Wir positionieren es durch den Anspruch, es als Kunst oder Nichtkunst kennzeichnen zu müssen.

Die meisten Projekte lassen sich aus jedwedem Blickwinkel einordnen, je nachdem welcher Aspekt besonders vordergründig erlebt wird. Am eindeutigsten sind wohl unsere Filme reine Kunstwerke, egal wie (selbst-) kritisch sie sein mögen, alle anderen Formate werden durch den Kontext, in dem sie gezeigt werden, positioniert. Ein Beispiel dafür ist unsere Arbeit working out: Als Teil einer Ausstellung wurde diese Arbeit als Werk definiert. Dabei kann ein einzelner Dialog auf der Straße sehr wohl auch als Intervention gesehen werden, ohne dem Kunstkontext genügen zu müssen. Office hours kann als Dienstleistungssituation ohne Kunstanspruch oder als Performance gelesen werden. Selbst unsere wöchentlichen Meetings zur Abstimmung von inhaltlicher Ausrichtung und konkreter Arbeitsaufteilung sind sowohl verwaltender Akt als auch Performance. mk  Wir arbeiten selbstreferenziell und üben Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen, auch am Kunstmarkt. Aber wir machen definitiv nicht Kunst für die Kunst. Welcher Prozess führte dazu, Dich künstlerisch mit dem Thema Masse und / oder Kollektiv zu beschäftigen? nk  Es ist einfach unumgänglich und sozusagen ein immanenter Bestandteil der Arbeit. Für mich gibt es keinen Auslöser oder bestimmten Prozess, sondern höchstens die Möglichkeit diesen Aspekt für bestimmte Vorgänge zu ignorieren, bzw. sich selbst zu überlassen und nicht näher zu beleuchten – nicht explizit mit zum Gegenstand des momentanen Projekts zu machen. Mitschwingen tut es so oder so. Darf und soll es auch. mk  Was heißt Gemeinsamkeit an einer Institution (Kunsthochschule), an der wir nur als Individuen Abschluss machen können? Was heißt eine gemeinsame künstlerische Ökonomie mit einem Konto, was von einem Individuum geführt werden muss? Was heißt ein gemeinsames Google Konto? Wir kommen irgendwie gar nicht daran vorbei, uns den bürokratischen Hürden von gemeinsamen Arbeiten zu stellen und das dann in unseren Arbeiten zu verarbeiten. Was bedeutet es für Euch und Eure Kunst, in einem Kollektiv zu arbeiten? nk  Alltag. Den Mut und die Sehnsucht ein anderes Verständnis von originärer Autorenschaft zuzulassen und Arbeitsweisen dafür zu entwickeln. mk  Aushandlung und Kompromisse, die befruchtet werden von geteilter und nicht geteilter Erfahrung, Absprachen und Missverständnissen, sich mehr zutrauen, voneinander lernen.


Wie funktionieren für Euch Massen und welchen Dynamiken sind sie unterworfen? nk  Das ist mir zu allgemein. Uns interessiert weniger die Definition was es ist, als vielmehr genau das zu untersuchen, was eine Masse ausmacht und welchen Dynamiken von innen (Schwarm  / Individualität  /  Spannungsverhältnisse) und von außen (einschränkende oder raumgebende Umgebung prägt die Form mit) sie unterworfen ist. Die Form einer Masse kann als Skulptur verstanden werden, die sich genau aus dem Verhältnis von Innenspannung (Material) und äußeren Bedingungen (Umgebung) generiert. pm  Den Anlass, größere Projekte auch wirklich umzusetzen. Die besten Seiten der einzelnen fusionieren zu lassen. Einen Interaktions- und Sozialraum herzustellen, der es möglich macht, sich ins Zueinander und mit der Welt ins Verhältnis zu setzen, das zu besprechen und verschiedene Formen der Sprache und des Ausdrucks zu durchlaufen. Die Gegenseitige Befruchtung der individuellen Praxis und der des Kollektivs. Denn beides sollte für mich möglich sein. Wo liegt Eurer Meinung nach die Zukunft politischer Veränderungen: Im Massenprotest, in der digitalen Vernetzung oder in der Kunst? Welche Rolle würdet Ihr der Kunst oder speziell Eurer Kunst in diesem Zusammenhang zuschreiben? nk  Uihuihuih… Wollen wir da jeder einen einzelnen Satz zu schreiben? Wieder erscheinen mir Massenprotest, digitale Vernetzung und Kunst keine Gegensätze zu sein. Die Zukunft politischer Veränderung liegt aber so oder so in der individuellen Entscheidung, denn ohne die kann es alles andere nicht geben. Masse entsteht von allein. pm  Im Glauben an Veränderung. In kleinen Schritten. In der Verbindung des großen und des Kleinen.

nk Hmm.

duum Teil der Masse Menschheit, des Organismus Erde, der Gesamtheit Universum. Das Potenzial liegt darin die richtige Distanz zu definieren, um sich je nachdem die Masse oder das Individuum nutzbar zu machen. Sich je nach Vorhaben für den individuellen Zugang oder die Kraft der Masse zu entscheiden, bzw. beides gleichzeitig zu verwenden. pm  Die Masse hat eine potenzierte und vielseitige Kraft. Das kann förderlich für das Fortkommen sein, wenn die Individuen in der Masse untereinander gut in Verbindung stehen. Einzelne Schwächen treten in den Hintergrund. Stehen die Individuen jedoch zu sehr im Konflikt, kann die Energie der Masse sich gegen sich selbst richten. So ist einerseits das Individuum unsichtbarer, scheint jedoch in der Handlungsfähigkeit der Masse indirekt wieder zum Vorschein zu kommen, ergo ist nicht richtig voneinander zu trennen. Hilfreich finde ich immer ein- und auszuzoomen. Potenziell ist dann viel möglich. Das Kollektiv ACAD & C – Agency for Contemporary Artistic Discourse and Collaboration gründete sich 2012 an der Kunsthochschule Kassel und setzt sich aus Studierenden der Fachrichtungen Freie Kunst, Kunst-, Soziologie-, Politik- und Sprachwissen­ schaften zusammen. Ihre kollaborativen Arbeiten setzen sich mit Positionen von Künstler*innen im Kunstsystem, Wirkungsmöglichkeit von Kunst in der Gesellschaft sowie kollektiven Schaffensprozessen und Arbeitsbedingungen auseinander. In Performances, Videos, Installationen und Publikationen gehen sie mit dem Publikum in den Dialog und blicken in eine Zukunft der gegenseitigen Unterstützung. ACAD & C Mitglieder zurzeit sind: Feben Amara, Amelie Jakubek, Michael Gärtner, Andara Shastika, Malin Kuht (mk), Paula Mierzowsky (pm), Inky Kutz, Norgard Kröger (nk)

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In welchem Verhältnis seht Ihr heutige Formen politischen Protests und die Möglichkeit digitaler und globaler Vernetzung?

Welche Potentiale und Spannungen seht Ihr im Zusammenspiel von Masse und Individuum? nk  Masse besteht aus Individuen. Es ist eine Frage der Distanz aus der man es betrachtet ob uns etwas als Masse oder Individuum erscheint. Ich selbst bin eine Masse aus jeder Menge individueller Organe, Gedanken, Funktionen usw. Und bin als Indivi-

balaclava

paula marie kanefendt


Paula Marie Kanefendt, Balaclava, 2017


Paula Marie Kanefendt, Balaclava

In welchem Verhältnis siehst du heutige Formen des politischen Protests und den Möglichkeiten der digitalen und globalen Vernetzung? Welche Potenziale und Spannungen siehst Du im Zusammenspiel von Masse und Individuum? Lebe ich in Zeiten fortschreitender Individualisierung? Lebe ich im Zeitalter der Individuen? Gibt es überhaupt noch Masse? Ist Masse heute nicht wie / genauso wie / ähnlich Masse früher? Wann ist früher? Sind meine Eltern früher? Oder sind meine Großeltern früher? Sind Straßen heute egaler? War oder ist Masse Straße? Ist Kind heute mehr Individuum? Bin ich weniger Individuum als Kinder heute? Bin ich im Internet Individuum? Bin ich im Internet Masse? Bin ich noch Straße?

Wie würdest Du die Atmosphäre Deiner Arbeit beschreiben? Wie funktionieren Massen? Welchen Dynamiken sind sie unterworfen? Verschwinden Individuen? Haben Individuen Dynamik? Was ist mit Zweien? Wie verhalten sich die anderen zu den anderen, wenn alle an einem Ort sind?

Paula Marie Kanefendt (*1980) studierte Kunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig in der Klasse für Installation und Raum bei Prof.  Joachim Blank sowie Kunstpädagogik und Geschichte an der Universität Leipzig. Sie arbeitet als Künstlerin, Forscherin, Lehrerin und Vermittlerin. Beispielsweise war sie Teil des Kunstvermittlung-Leitungsteams des Kunstzentrums HALLE 14 und arbeitet seit 2015 an der Kunsthochschule Kassel. Ihre Kunst basiert auf performativen und installativen Momenten und thematisiert unter anderem massenmediale Kommunikation sowie strukturelle Besonderheiten und Veränderungen im urbanen Raum.

2017, Performance im Bistro 21 (Leipzig-Ost)

Wo positionierst Du Dein Kunstwerk zwischen gesellschaftskritischem Kunstverständnis und einer kunstimmanenten Sichtweise? Wie funktionieren Gesellschaften? Was kann Kunst? Wann fängt sie an? Wo fängt Gesellschaft an? Ab wann ist es Kritik? Immanent auf jeden Fall: Gesellschaft / Kunst.

Siehe oben.

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Welcher Prozess führt dazu, Dich künstlerisch mit dem Thema Masse und / oder Kollektiv zu beschäftigen? Was bedeutet es für Dich und für Deine Kunst, in einem Kollektiv zu arbeiten? Wie funktionieren für Dich Massen und welchen Dynamiken sind sie unterworfen?

Wo liegt Deiner Meinung nach die Zukunft politischer Veränderungen: Im Massenprotest, in der digitalen Vernetzung oder in der Kunst? Welche Rolle würdest Du der Kunst oder speziell Deiner Kunst in diesem Zusammenhang zuschreiben? Kunst und Politik als zwei Orte. Auch Veränderung ist irgendwo anders. Kunst wahrscheinlich nicht einmal als Ort von Zukunft. Vielleicht Zukünfte. Aber doch eher: Gegenwarten. Davon aber viele. Und darin liegen die Zukünfte.

[m a s ɘ]

savita kim


Savita Kim, [m a s ɘ]

2016, Installation, s / w Druck auf OSB Platten

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Welcher Prozess führte dazu, Dich künstlerisch mit dem Thema Masse und / oder Kollektiv zu beschäftigen? Am Anfang auf jeden Fall einfach ein Gefühl der Faszination. Ausgelöst haben das mit Sicherheit neben einem motivischen bzw. ästhetischen Interesse auch eigene, körperliche Erfahrungen in Massensituationen, zum Beispiel während einiger Aufenthalte in verschiedenen Großstädten Asiens. Ich habe zunächst versucht, dieses körperliche Erleben von Massen malerisch umzusetzen und in ihrem jetzigen Zustand hat die Arbeit für mich noch immer viele malerische Momente – am Ende ist jedoch das Ausgangsmaterial meiner Bildrecherchen selbst zur Arbeit geworden. Dabei hat sich auch die Methode der Recherche verselbstständigt: Durch die Einschränkung auf Bildmaterial, das von Google bei der Suche nach dem Schlagwort »Masse« (bzw. seinen Übersetzungen und Synonymen mass, crowd, foule, multitude etc.) bereitgestellt wird, ergibt sich eine gewisse Zufälligkeit der Bildmotive, die für mich einen besonderen Stellenwert bei der Arbeit einnimmt, weil sie nicht zwischen Historischem und Gegenwärtigem, Tragischem und Banalem unterscheidet. Wie würdest Du die Atmosphäre Deiner Arbeit beschreiben? Wichtig ist mir auf jeden Fall ein gewisses Element des Kulissenhaften: Die Tatsache, dass sich Betrachter_innen in der Arbeit bewegen können und ein körperlicher Bezug entsteht. Gleichzeitig findet eine bestimmte Überforderung durch die Menge an Bildinformationen statt, die häufig dazu führt, dass eine Betrachtung mit einer Art »Suchendem Blick« geschieht, der in der Menge der Einzelbilder nach Bekanntem, Wiedererkennbarem, Einzelgesichtern oder Details hin- und herwandert. Ich hoffe eine gewisse Mischung von körperlicher Nähe, Berühr- und Betretbarkeit und einer extrem hohen Dichte an

Bildinformationen herstellen zu können, die gleichzeitig anziehend und überfordernd wirkt. Wo positionierst Du Dein Kunstwerk zwischen gesellschaftskritischem Kunstverständnis und einer kunstimmanenten Sichtweise? Bestenfalls lässt es sich in beide Richtungen lesen: Erstmal funktioniert die Arbeit für mich als Fragestellung, bzw. als Versuchsaufbau. Wenn Fragen aufkommen, die eine gesellschaftskritische Stoßrichtung entwickeln, ist das natürlich großartig. Es bleibt aber am Ende den Betrachter_innen überlassen, ob zum Beispiel Motive wie Rabbiner neben Nazis und Opfer von Selbstmordattentätern neben Karnevalisten schlussendlich als geschmacklos gelesen werden, oder ob es die Frage nach einem grundsätzlichen verbindenden Element aufwirft. Und natürlich lässt sich die Installation auch einfach als eine Art Aufzählung von Massensituationen und Kontexten verstehen oder aber als Abhandlung des ästhetischen Phänomens Masse unter eher malerischen Gesichtspunkten. Wie funktionieren für Dich Massen und welchen Dynamiken sind sie unterworfen? Aktuell scheint ein auf digitaler Vernetzung basierender Begriff von Masse die wichtigere Rolle zu spielen – im Gegensatz zu einer meist sehr körperlichen Vorstellung desselben Begriffs im letzten Jahrhundert. Außerhalb von Situationen, wie Fußballstadien und Demonstrationen, habe ich eher das Gefühl, dass im Moment eine Art unangenehmes Aufwachen stattfindet. Gegenüber der Tatsache, dass der Masse nie zu entkommen war, dass wir längst und schon immer Teil von ihr waren. In dieser nicht richtig abgegrenzten, entkörperten, digitalen Masse lässt sich der eigene Individualismus viel schwerer verteidigen und gleichzeitig potenziert sich das Element der Unkontrollierbarkeit, Unvorhersehbarkeit, das bei Massensituationen immer eine bestimmte Rolle spielt. Diese Zufälligkeit, die sich an verschiedenen Phänomenen im Netz gut illustrieren lässt, ist etwas, das mich bei dieser und auch bei anderen künstlerischen Arbeiten immer mehr beschäftigt. Wo liegt Deiner Meinung nach die Zukunft politischer Veränderungen: Im Massenprotest, in der digitalen Vernetzung oder in der Kunst? Welche Rolle würdest Du der Kunst oder speziell Deiner Kunst in diesem Zusammenhang zuschreiben? Die politischen Möglichkeiten digitaler Vernetzung werden uns ja gerade in jeder Richtung vorgeführt:


Eigenschaften wie Anonymisierung und Zugänglichkeit von Informationen spielen bei Protestbewegungen eine ebenso große Rolle, wie bei der Verbreitung von populistischer Meinungsmache. Diese Eigenschaft des Digitalen, die ungefilterte und unkontrollierte Verbreitung von Information – egal welcher Art – prägt ja das vielzitierte »postfaktische Zeitalter«, die »post-truth era« als das Phänomen der Vernetzung schlechthin. Ob, und wenn ja welche Rolle, die Kunst politisch dabei spielen soll, kann und sollten meiner Meinung nach immer nur Einzelpositionen, bzw. einzelne Arbeiten abhandeln. Meine Arbeit funktioniert mit politischen (Bild-)Inhalten und nutzt bestimmte Phänomene des Digitalen, ich würde aber nicht so weit gehen, sie als politische Arbeit zu beschreiben, jedenfalls nicht, wenn man »politisch« im Sinne einer impliziten Aufforderung zu einem bestimmten Handeln oder Denken versteht. Welche Potenziale und Spannungen siehst Du im Zusammenspiel von Masse und Individuum? Diese Frage war für mich tatsächlich eine Art Ausgangspunkt meiner Arbeit. Neben einer gewissen politischen Komponente spielt sich hintergründig für mich eine andere, eher persönliche, fast existentielle Auseinandersetzung ab. Erstmal spielt dieser typische Topos der Auflösung des Individuums in einer Erfahrung von Masse für mich sicherlich eine gewisse Rolle. Mir gefällt aber eigentlich eine gedankliche Übersteigerung davon noch mehr: Eine Frage nach der Vorstellbarkeit, bzw. Aushaltbarkeit der Tatsache, dass Milliarden von Individuen vor, nach und neben mir existieren, als Subjekte, mit jeweils eigener Geschichte, eigenem Weltverständnis und so weiter. Vielleicht stellt sich sogar die Frage, inwieweit diese, an sich schon schwer vorstellbare Tatsache fast jede Vorstellung von Subjektivität auf gewisse Weise relativieren muss. Als konkrete künstlerische Fragestellung ist mir da wahrscheinlich ein Schuss zu viel Pathos dabei, aber solche Fragen funktionieren für mich als eine Art persönliches Leitmotiv, das im Hintergrund verhandelt wird und sich vielleicht auch gar nicht aus der Arbeit ablesen lässt. Savita Kim (*1987) studierte zunächst Philosophie in Köln und Kunst auf Lehramt in Wuppertal, bis sie 2014 an die Kunsthochschule Kassel ging und dort 2016 ihren Abschluss machte. Ihre Arbeiten waren in Valencia (Spanien), Köln, Kassel, Nürnberg und Frankfurt zu sehen. Die Arbeit [m a s ɘ] installierte sie bereits an mehreren Orten – durch das intensive ortsspezifische Handeln werden jedes Mal unterschiedliche Aspekte von Raum, Zeit und Partizipation hervorgehoben.

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ohne titel

dean maaßen


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Dean Maaßen, ohne Titel

2016, Installation, Video (loop) Dean Maaßen (*1991) studiert Zeitbasierte Künste an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein, Halle. Die im Bistro 21 gezeigte Installation beleuchtet das Thema der Leiharbeit mittels unterschiedlicher Medien. Sie eröffnet eine Diskussion um gegenwärtige Arbeitsverhältnisse und bestehende gesellschaftlichen Strukturen.

zeit ist in träumen sonderbar. – le temps est étrange dans les rêves. ramona schacht


Ramona Schacht, Zeit ist in Träumen sonderbar. – Le temps est étrange dans les rêves., 2016 / 17, Fotobuch, 20 × 26 cm


Ramona Schacht, Zeit ist in Träumen sonderbar. – Le temps est étrange dans les rêves.

2016 / 17, Fotobuch, 20 × 26 cm

Wie würdest Du die Atmosphäre Deiner Arbeit beschreiben? Es gibt kein einzelnes Schlagwort, mit der meine Arbeit beschrieben werden könnte. Die Atmosphäre variiert von Betrachter_in zu Betrachter_in, von Bild zu Bild, wobei ich beobachtet habe, dass sie oft eine poetische Stimmung erfasst – kontemplativ, melancholisch, ruhig, still, natürlich und konzentriert. Viele Szenarien scheinen romantisch zu sein, doch verbirgt sich mehr dahinter.

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Welcher Prozess führte dazu, Dich künstlerisch mit dem Thema Masse und / oder Kollektiv zu beschäftigen? Ich begreife das Thema Masse als Masse junger Menschen – meiner Generation, meiner täglichen Umgebung, Wahrnehmung und Auseinandersetzung. Mich interessiert, wie diese Menschen mit Blick auf ihre zwischenmenschlichen Beziehungen charakterisiert werden können, gerade weil sie die Digitalisierung und somit den damit einhergehenden Wandel von Kommunikationsmöglichkeiten unmittelbar miterleben. Wie beeinflussen diese Veränderungen wiederum unseren »Direkt-Kontakt«, unseren Umgang unter- und miteinander, unser Vermögen und unsere Bereitschaft, Bindungen einzugehen, Intimität zuzulassen? Gegen den usurpatorischen Versuch, bestimmte Gruppen auf ein Wort zu bringen, gegen solche Vereinnahmungen, suche ich den Blick zwischen Gleichheit und Verschiedenheit. Im Zuge mehrerer Reisen sowie längerer Aufenthalte an unterschiedlichen Orten Europas habe ich ein sehr diverses, facettenreiches, nicht selten auch ein hochgradig widersprüchliches Bild von den Menschen gewinnen können, die sich hinter dem Schlagwort der Generation Y verbergen. Was sich mir bot, war ein breites Spektrum an Erwartungen, Hoffnungen, Selbst- und Weltverständnissen, zaghafter, suchender und auch entschlossener Antworten auf

die Frage: Wie wollen wir leben? – hier und jetzt, wie auch künftig? Wo positionierst Du Dein Kunstwerk zwischen gesellschaftskritischem Kunstverständnis und einer kunstimmanenten Sichtweise? Die Formen und Inhalte der künstlerischen Kritik sind so vielfältig wie die Konflikte und Probleme auf dieser Welt, beziehungsweise so individuell wie auch die Künstler_innen, die sie schaffen. Seit die Kunst autonom geworden ist, kann man ihr diesbezüglich politische Dimensionen in unterschiedlichem Maße zu- und absprechen. Durch ein Hinterfragen der Bildwirklichkeit und von Suspektem sowie die Veränderung und die Herausnahme aus dem gewohnten Kontext können neue Sinnbezüge hergestellt werden. Meine Arbeit möchte nicht eine romantische Kollektivbewegung von Aussteigern abbilden, die gegen die Masse strebt, sondern mir geht es um die Frage, inwieweit die Sehnsucht nach Rückzug, Landflucht und Natur als Schutz und Seelenheil tatsächlich erfüllt werden kann. Meine eigene Arbeit sehe ich als soziologisch interessant und spannend. Ich denke, meine künstlerische Position ist ein Beispiel dafür, dass gesellschaftskritische Kunst nicht politisierend sein muss, um uns zum Nachdenken zu bringen. Politische Kunst überzeugt nur, wenn sie konkrete, manchmal sogar banale Themen in eine lebendige, spielerische Form bringt. Folgt sie formal ausgetretenen Pfaden oder lässt ihre Intention zu deutlich spüren, dann versagt sie. Wie funktionieren für Dich Massen und welchen Dynamiken sind sie unterworfen? Prinzipiell kann man zwei Arten von Massen unterscheiden: Emotionale und strategische. Als Beispiel für Erstere ließen sich das Kollektiv und deren Beteiligte aus meiner Arbeit nennen, die sich auf der Suche nach einer entweder gemeinsamen oder zumindest einer ähnlichen Erfahrung einem gewissen Konsens und Verhaltenskodex hingeben. »Hingeben« ist hier aber eben eine größtenteils undisziplinierte Aktion, die aus dem individuellen Willen der Teilhabenden direkt hervorgeht. Dieser gegenüber ließe sich die strategische Masse als eine verhandelte Allianz stellen. Das außerordentliche Beispiel dafür ist der Staatsvertrag im Sinne Rousseaus. Hierin unterwirft sich der einzelne Mensch rein rational der Masse; oftmals sogar gegen seine emotionalen Interessen. Das schlichte Wissen, dass man isoliert von der Masse in einer schlechteren Situation stünde, schmiedet das Bündnis.


Welche Potenziale und Spannungen siehst Du im Zusammenspiel von Masse und Individuum? Die Potenziale der Masse sind uns wesentlich präsenter als die Spannungen. Die positive Bedeutung der Masse lässt sich von jedem_r aufgrund einer punktuellen Erfahrung mit derselben in der Vergangenheit sehen. Die Spannungen sind differenzierter und nach Art der Masse sehr unterschiedlich. In einer emotionalen Masse sind auch die Spannungen emotionalisiert; von unartikulierten Erwartungshaltungen auf der einen Seite hin zu dem Lynchen im anderen Extrem. Eine emotionale Masse zerbricht daran auch wesentlich schneller, da eben nur durch die Homogenität der persönlichen Interessen ein Konsens entsteht – dies ließe sich auch in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen auf die Gemeinschaft aus meiner Arbeit beziehen. Demokratische Staatsverträge sind hingegen immer in Spannung. Sie müssen vielmehr in Spannung sein, da die Spannung mit dem Anderen – also die Möglichkeit des Anderen – eine Grundvoraussetzung für das Voranbestehen derselben ist. Die aktuelle Infragestellung dieser Grundlage durch autokratisch-diktatorische Tendenzen (und zwar links und rechts) birgt somit eine essentielle Gefahr für unsere Masse, unsere Gesellschaft. Dieses Andere kann dabei auch insbesondere als Spannung zwischen Masse und Individuum gesehen werden. Eine e.g. faschistoide Bewegung (bei der eine emotionale über einer rationalen Zusammenschließung zumindest überlegt werden kann) spricht dieses individuelle Recht ab und spaltet dadurch die Masse. Wo liegt Deiner Meinung nach die Zukunft politischer Veränderungen: Im Massenprotest, in der digitalen Vernetzung oder in der Kunst? Welche Rolle würdest Du der Kunst oder speziell Deiner Kunst in diesem Zusammenhang zuschreiben? Die isolierte Betrachtung dieser Komponenten offenbart, dass sie alle machtlos sind: Occupy und die Wahl von Donald Trump, die digitalen Ursprünge des sogenannten Arabischen Frühlings und der Aufstieg von Fake-News-Seiten oder die nicht existierenden Konsequenzen der Aktionen des Zentrums für politische Schönheit. Massenprotest und digitale Vernetzung können dabei nur Mittel demokratischer Prozesse sein, die jedoch immer zu demokratischen Aktionen führen müssen. Der Massenprotest und die digitale Vernetzung sind weder Selbstzweck noch selbstwirksam. Die Kunst kann, um bei den Spannungen mit dem Anderen zu bleiben, ein Gesellschaftstraining sein.

Die Kunstfreiheit ist dabei Platzhalter und Probe für die individuelle Freiheit; die Sicherung welche die Grundlage für die Sicherung unserer Gesellschaft ist – unserer Masse. Ramona Schacht (*1989) ist Meisterschülerin in der Klasse für Fotografie bei Prof. Tina Bara an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig. Für ihre künstlerische Arbeit wurde sie bereits mit dem »Kunst-Werk Mediapreis Arnsberg« ausgezeichnet und erhielt neben dem zwölfmonatigen CasparDavid-Friedrich Stipendium 2017 bereits mehrere Arbeitsförderungen: Eine davon führte sie im Jahr 2016 in das französische Dorf Nogent sur Seine, das die fotografische Grundlage ihrer Arbeit Zeit ist in Träumen sonderbar. – Le temps est étrange dans les rêves. bildet. Muten die Fotografien Ramona Schachts zunächst dokumentarisch an, spielen diese jedoch auf den zweiten Blick mit einer fiktiven Ebene und hinterfragen deren Realität in einer subtilen und spielerischen Weise.

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kategorisierungstypen

theresa szymanowski


Theresa Szymanowski, Kategorisierungstypen

2016, Collage

Theresa Szymanowski (*1995) studiert seit 2014 außerschulische Kunstpädagogik an der Universität Leipzig. Schon zuvor war sie künstlerisch tätig und beteiligte sich beispielsweise 2013 am Festival Zukunftsvisionen in Görlitz. Ihre Collagen Kategorisierungstypen thematisieren die unterschiedlichen Dynamiken von Massen und das Spiel zwischen Masse und Individuum.

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anticopa  xadrez

hannes neubauer


Hannes Neubauer, ANTICOPA, 2013, Filmstills


Hannes Neubauer, ANTICOPA

2013, Video, 7:59 min   XADREZ

2013 politische Schach-Performance

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Hannes Neubauer, XADREZ, 2013, politische Schach-Performance

Wie würdest Du die Atmosphäre Deiner Arbeit beschreiben? Zunächst einmal könnte man Brasilien (zumindest aus subjektiver zentraleuropäischer Sicht) selbst als sehr »atmosphärisch aufgeladen« bezeichnen. Dies rührt vielleicht daher, dass dort das zwischenmenschliche Miteinander eher emotional geprägt erscheint und immer sehr viel »Bewegung« stattfindet. In der besonderen Situation der Massenbewegungen bei den politischen Demonstrationen im Juni 2013 vervielfachte sich das solidarische Miteinander nochmals enorm. Diese Stimmung versuchte ich zunächst mit der Kamera möglichst direkt einzufangen. Neben den dokumentarischen Arbeiten begleitete ich die Demonstrationen mit der interaktiven Performance XADREZ: Als »regierende Oberschicht« maskiert, spielte ich vor Ort gegen die Demonstranten_innen Schach. Das Spielfeld war jedoch so aufgebaut, dass auf meiner Seite nur die Offiziere standen. Die Demonstrierenden spielten ausschließlich mit Bauern. Die Performance setzte die Situation der Massenbewegung in starken Kontrast: Inmitten der räumlich »lauten« Atmosphäre der Demonstrationen wurde situativ ein Ort absoluter Ruhe und Bedachtsamkeit geschaffen. Spieler_innen wie Zuschauer_innen vergaßen buchstäblich das Demonstrieren in der Masse und konzentrierten sich plötzlich ganz auf das Spiel. Sie wurden dadurch wieder als Individuen innerhalb der Masse sichtbar, welche sie selbst aber repräsentierten. Wo positionierst Du Dein Kunstwerk zwischen gesellschaftskritischem Kunstverständnis und einer kunstimmanenten Sichtweise? Meine Arbeiten beziehen sich fast ausschließlich auf den öffentlichen Raum – dieser ist Inspirationsquelle und »Ausstellungsraum« gleichermaßen. Der öffentliche Raum ist auf mehreren Ebenen voll von gewachsenen Bildern und Symbolen, Architekturen

und Infrastrukturen, vor allem aber sozialen Überlagerungen verschiedener Interessengruppen, die sich in einem stetigen Wechselspiel aus- und eingrenzen und selbstständig immer wieder neue Normative kreieren. Diese fluktuativen Muster gleichzeitig zu erforschen und zu bespielen, betrachte ich als wesentliche Aufgabe in meinen Arbeiten. Würde ich versuchen, mich dabei auf eine rein kunstimmanente Sichtweise zu stützen, wäre das für mich so, als würde ich als Fußgänger sämtliche andere Verkehrsteilnehmer_innen und zugleich auch noch die gesamten urbanen Infrastrukturen und Architekturen wegdenken. Das bedeutet jedoch nicht, dass meine Projekte auch immer einen »gesellschaftskritischen Hintergrund« aufweisen müssen. Denn der Begriff der »Kritik« impliziert auch automatisch den Begriff »Bewertung« und das sehe ich nicht als meine Hauptaufgabe an. Zutreffender fände ich daher eher den Begriff eines »gesellschaftsrelevanten« Kunstverständnisses. Denn dies lässt die Möglichkeiten offen, ob ich mehr als »Gestalter«, »Übersetzer«, »Mitmacher« oder »Kritiker« von gesellschaftlichen Strukturen fungiere. Das Filmprojekt ANTICOPA in Brasilien würde ich beispielsweise mehr als »dokumentarisch«, also mit bewusst objektiven Charakter und die Performance XADREZ als »Übersetzungstätigkeit« (Übersetzung von Geschehnissen in Symbole) bezeichnen. Welcher Prozess führte dazu, Dich künstlerisch mit dem Thema Masse und / oder Kollektiv zu beschäftigen? Die Beschäftigung mit der Thematik findet vorwiegend dann statt, wenn ich das Gefühl habe, dass ein Kollektiv oder eine Masse eine Art Unrechtsbewusstsein entwickelt und / oder Freiheiten durch Gruppendynamiken eingeschränkt werden. Wie funktionieren für Dich Massen und welchen Dynamiken sind sie unterworfen? Mein Verhältnis zu Kollektiven und Massen war und ist sehr zwiegespalten: Massen stehe ich eher kritisch gegenüber, da diese in starkem Kontrast zu meinem sehr ausgeprägten Freiheitsbegriff stehen und differenzierte Betrachtungsweisen ausschließen. Ich empfinde sie als ein sehr »absolutes« Phänomen: Sie formieren sich sehr schnell, lösen sich aber auch schnell wieder auf, sind also eine plötzliche Erscheinung. Und man ist eben drinnen oder draußen. Anders verhält sich dies bei Kollektiven, vor allem, wenn man sie auch mit »Kulturen« gleichsetzt: Sie befinden sich stetig in einem Prozess von Ausund Eingrenzung, Regulierung und Deregulie-


rung, Offenheit und Geschlossenheit und bilden daher für mich die Komplexität unseres Daseins schlüssiger ab. Wo liegt Deiner Meinung nach die Zukunft politischer Veränderungen: Im Massenprotest, in der digitalen Vernetzung oder in der Kunst? Welche Rolle würdest Du der Kunst oder speziell Deiner Kunst in diesem Zusammenhang zuschreiben? Die Frage möchte ich an einem konkreteren Beispiel beantworten: Zurzeit beschäftige ich mich hauptsächlich mit der Schließung der europäischen Außengrenzen und der damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen. Durch die Beschäftigung mit der Thematik entstand der Wille, aktiv in der Seenotrettung vor der Küste Afrikas mitzuwirken, um der Abschottungspolitik der einzelnen Nationen sowie der gesamten EU, welche maßgeblich für das Massensterben auf dem Mittelmeer mitverantwortlich ist, entgegenzuwirken. Für die zwingend notwendige und vor allem unmittelbare Hilfestellung im Mittelmeerraum erschien mir ein künstlerischer Ansatz nicht ausreichend. Daher hatte ich beschlossen, meine handwerklichen Kenntnisse auf einem Rettungsschiff einzubringen. Für die Mission selbst (Reisekosten etc.) hatte ich aber kaum Budget und rief daher in meinem privaten Netzwerk über E-Mail zu einer Spendenaktion dafür auf. Der Zuspruch war enorm und übertraf alle Erwartungen. Dies hat mir erneut gezeigt, dass ein kleines privates Netzwerk oft viel effektiver sein kann, als große digitale Netzwerke, denn vermutlich hätte kaum jemand gespendet, wenn ich einen allgemeinen Aufruf für die NGOs im Mittelmeerraum in einem sozialen Netzwerk gepostet hätte. Um die Frage also zu beantworten: Für mich liegen politische Veränderungen weder ausschließlich im Massenprotest, noch in der digitalen Vernetzung, noch in der Kunst. Denn alle drei sind zwar wichtige Möglichkeiten und Wege zur Kommunikation, daraus entstehen aber selten realpolitische Veränderungsprozesse. Denn diese werden durch Machtansprüche und Gesetze festgelegt, weniger durch Facebook Posts. Um unser soziales Miteinander konkret mitzugestalten, müssen wir diese Strukturen verstehen, was sich nur allgemein über die Bildung und Kommunikation (unabhängig ob direkt oder medialisiert) erreichen lässt. Vor allem aber: Politische Veränderungsprozesse werden letztlich durch ganz konkrete Handlungen herbeigeführt, also kurz gesagt, nicht durch Reden, sondern durch Machen! Hannes Neubauer (*1979) ist gelernter Metallgestalter und studierte Kunst an der Bauhaus Universität

Weimar und an der Escola de Bellas Arts (Belo Horizonte) in Brasilien. Seine künstlerische Arbeit changiert zwischen skulpturalen Arbeiten im Stadtraum, medienkünstlerischen Interventionen und Performances und setzt sich immer wieder mit gesellschaftspolitischen Themen im öffentlichen Raum auseinander. Für seine Arbeit erhielt er mehrere Preise und Stipendien. Wenn er sich nicht politisch international engagiert, lebt und arbeitet Hannes Neubauer in Leipzig.

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on display II

agata pietrzik


Agata Pietrzik, On Display II

2016, Video, 4:40 min

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Agata Pietrzik (*1984) studiert Visuelle Kommunikation an der Hochschule für Grafik in Offenbach am Main mit den Schwerpunkten Film und Video. Ein Artist in Residence Programm führte sie dabei 2015 nach Xi’an, China. In ihren künstlerischen Videoarbeiten setzt sie sich mit Beobachtungen des Alltäglichen im öffentlichen Raum und einer partizipativen Betrachter_innenposition auseinander. Dabei changieren ihre Arbeiten zwischen einem teils voyeuristischen und teils dokumentarischen Charakter.

spice in a huddle carosell


CaroSell, spice in a huddle,

2013, Split-Screen Video, 19:59 min

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CaroSell, spice in a huddle, 2013, Filmstill

Welcher Prozess führte dazu, Dich künstlerisch mit dem Thema Masse und / oder Kollektiv zu beschäftigen? Ich hatte mich nicht explizit dazu entschlossen, mich mit dem Thema Masse oder Kollektiv auseinanderzusetzen. In erster Linie wollte ich mich mit meiner Arbeit spice in a huddle eher in Beziehung zu einer bestimmten Masse setzen. Die Arbeit entstand während der sogenannten Gezi-Park-Proteste 2013 in Istanbul. Ich war als Stipendiatin im Artist in Residence-Programm der Kunsthochschule Burg Giebichenstein während dieser Zeit vor Ort. Aus diversen Gründen hatte ich mich dazu ent­schlossen, nicht an den Demonstrationen teilzunehmen, bzw. diese zu besuchen, nicht zuletzt, weil ich Angst vor einer Ausweisung aus der Türkei und dem drohenden 5-jährigen Einreiseverbot hatte, sollte ich im Rahmen eines Protests aufgegriffen werden. Aber nur, weil ich nicht dort war, heißt es nicht, dass ich mich nicht dafür interessiert hätte. Ich bekam meine Informationen durch alle Menschen, die ich zu dieser Zeit traf. Haarsträubende Geschichten von Verätzungen, Verwundungen durch Plastikge­ schosse, aggressivste Polizeigewalt. Dieser Umstand wurde für mich zum Ausgangspunkt des Videos und führte zur formalen Entscheidung für eine Gegenüberstellung zweier Perspektiven: Auf der einen Seite sehen die Betrachter_innen meinen touristischen Blick auf die Stadt, auf der anderen Seite bekommen sie Einblicke in die Erfahrungen einer Person, die die Proteste von Anfang an mit der Kamera begleitet hat. Was bedeutet es für Dich und für Deine Kunst, in einem Kollektiv zu arbeiten? Ich arbeite eigentlich sehr selten im Kollektiv. Allerdings sehe ich mein Video als gemeinschaftlich entstandene Arbeit. Das liegt zum einen daran, dass

die Hälfte des Videomaterials, welches ich ver­wendet habe, nicht von mir aufgenommen wurde, sondern von Erkan und auch daran, dass er als »unsichtbarer« Protagonist im Interview dem ganzen Projekt eine Richtung gegeben hat, die auch sehr stark den Schnitt und die Auswahl meiner eigenen Bilder beeinflusst haben. Ohne diese Zu-­ sammenarbeit würde es spice in a huddle nicht geben. Wo liegt Deiner Meinung nach die Zukunft politischer Veränderungen: Im Massenprotest, in der digitalen Vernetzung oder in der Kunst? Welche Rolle würdest Du der Kunst oder speziell Deiner Kunst in diesem Zusammenhang zuschreiben? Ich würde mir sehr wünschen, dass die Kunst mehr imstande wäre, ein Rolle in Bezug auf politische Veränderung zu spielen. Ich denke nur, dass es dafür auch die richtigen Menschen in Machtpositionen braucht, die der (kritischen, politischen) Kunst offen gegenüberstehen und sie als einen wichtigen Bestandteil des gesellschaftlichen Systems betrachten. Was nützt kreativer Protest, wenn er nicht als konstruktiv wahrgenommen wird? Ich bin auch sehr pessimistisch, was Massenproteste angeht. Gerade die Proteste in der Türkei (aber auch in vielen anderen Staaten) haben in der jüngeren Vergangenheit gezeigt, dass sich die jeweilige Situation für die Menschen vor Ort im Nachhinein eher verschlechtert hat. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass es Massenproteste gibt, die auf den Namen »_gida« enden … Ich frage mich, ob Massenprotest grundsätzlich etwas Gutes ist. Ich finde es gut, für seine Überzeugungen einzutreten und sich mit Menschen zu vernetzen, die auf »derselben« Seite stehen. Allerdings sehe ich dies unter gewissen Aspekten auch sehr kritisch und hinterfragenswürdig. Ich empfinde eher die Massenmedien und die Vermarktungsindustrie richtungsweisend, da sie systemrelevante Normen reproduzieren und damit sehr edukativ auf Menschen in ihren jeweiligen Systemen einwirken. Sie haben die Macht, ihr Publikum zu informieren oder eben auch nicht. Sie unterliegen – so unabhängig sie auch sein mögen – eigentlich immer bestimmten gesellschaftspolitischen, aber auch marktwirtschaftlichen Zwängen und »bilden« nicht zuletzt dadurch ihr Publikum relativ fragmentarisch. Als Künstlerin kann ich mit meinen Arbeiten auf spezielle Dinge hinweisen und auch Fragen stellen, was ich sehr wichtig finde. Andererseits muss ich mir aber auch eingestehen, dass ich auch nur meinen eigenen Blick auf bestimmte Dinge zum


Ausdruck bringen kann. Und dieser Blick ist wiederum derartig durch meine eigene Sozialisation geprägt, dass sich viele Menschen eben nicht damit identi­fizieren können und die Fragen, die ich stelle vielleicht keine Relevanz für diese Personen haben. Welche Potenziale und Spannungen siehst Du im Zusammenspiel von Masse und Individuum? Nachdem sich die Proteste gegen Ende meines Stipendiums von der europäischen Seite Istanbuls auf die asiatische Seite verlagerten, war ich plötzlich Teil einer Masse. Ich wurde zum Teil der Masse an Menschen, die egal ob sie wollten oder nicht, mit Gasen attackiert wurden. Ich war auf einmal zu einem Teil der Einwohner_innen geworden, die in ihren Wohnungen saßen und plötzlich ein Brennen in der Nase verspürten und dann in den Augen. Selbst bei geschlossenen Fenstern war das Gas oder die Mischung der zahlreichen Gase spürbar. Ich denke, dass viele Personen, die damals auf die Straße gingen vor allem protestierten, weil die Repressalien der Polizeikräfte ein Ausmaß ange­nommen hatten, das in keinem Verhältnis zu den Forderungen der Demonstrant_innen stand. Da ging es am Anfang um Umweltschutz, um Meinungsfreiheit, um Gleichberechtigung. Und später gegen unverhältnismäßige Polizeigewalt. Einzelne Individuen konnten sich im Moment der Demonstrationen dennoch stark und beschützt fühlen, da (so war zumindest mein Eindruck) sich die Menschen gegenseitig geholfen haben. Viele hatten eine Art Survival-Rucksack dabei: Wasser, Zitronen, Helme, Erste Hilfe-Kits, Mundschutzvarianten. Das Video zeigt aber auch, dass es Gruppen von Personen innerhalb einer Masse geben kann, die sich negativ auf alle anderen Teilnehmer_innen auswirken können. Ein kleiner Stein kann dafür sorgen, dass plötzlich junge Mütter, ältere Männer oder einfach nur Passant_innen genauso attackiert werden, wie auch diejenigen, die Straßenschlachten provozieren wollen. Nichtsdestotrotz muss ich sagen, dass ich Istanbul während meines dreimonatigen Aufenthalts als eine Stadt kennengelernt habe, in der alles möglich schien. Nie zuvor hatte ich in einer derart großen Metropole fast ausnahmslos offene und nette Menschen kennengelernt. Ich hatte den Eindruck, dass es nach Aufbruch roch, nach Veränderung. Der Wille der Menschen in einer schöneren, hoffnungsvollen Zukunft zu leben, miteinander anstatt gegeneinander, zusammen mit unterschiedlichsten Personen Kontakt aufzunehmen und zu halten … Das hat mich damals wirklich sehr stark beeindruckt.

Und ich denke, dass dies viel mit den Massen­ protesten zu tun hatte. Denn als ich Ende 2014 bis Ende 2015 erneut in Istanbul war, waren nicht nur die Proteste und die Masse, sondern auch diese besondere Stimmung zerschlagen. CaroSell (*1980) studierte bis 2017 in der Klasse Zeitbasierte Künste an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein, Halle bei Prof. Michaela Schweiger. Ein dreimonatiges Atelierstipendium führte sie 2013 nach Istanbul, in dessen Rahmen das Split-Screen Video spice in a huddle entstand. Neben zahl­reichen Ausstellungsbeteiligungen in Halle, wurden einige ihrer Arbeiten in Istanbul, Berlin und Leipzig gezeigt. CaroSell lebt und arbeitet in Halle.

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häng die hoffnung an den nagel

antje seeger


Votive in Form menschlicher Glieder gehören wohl zu den ältesten Massenmedien der Menschheit. Man nimmt an, dass sie mit Bitten um göttliche Hilfe gegen gesundheitliche oder mentale Beschwerden verbunden waren. In Zeiten persönlicher oder gesellschaftlicher Krisen pilgerten antike Menschen in Heiligtümer, um dort im Zusammenhang sogenannter Tempelkuren Votivobjekte aus den verschiedensten Materialien zu opfern. Objekte in Form von beispielsweise Daumen, Händen, Beinen, Augen, Ohren, Nieren oder Gallenblasen wurden dabei meist mit speziellen Nägeln an Tempelwänden befestigt. Jedes Motiv korrespondierte dabei mit dem persönlichen Anliegen seiner Spender_in. Mit Blick auf die archäologischen Funde tausender Votive stellt sich die Frage, wie diese Objekte im Hinblick auf Heilungserfolge funktionierten. Trotz zahlreicher Wunderheilungsberichte ist anzunehmen, dass nicht alle Bittsteller_innen ein Heiligtum leidensfrei verließen. Die Altertumsforscherin Emma-Jayne Graham empfiehlt in diesem Zusammenhang ein Nachdenken über unser heutiges Verständnis von Heilung: Sie weist darauf hin, dass ein antiker Votiv-Patient möglicherweise nicht immer erwartete, dass sein Leiden vollständig eliminiert würde. Eine Tempelkur war wohl eher der Versuch, die Beziehung zwischen Patient_in, Gott und Welt wieder herzustellen und ungeklärte Ursachen von Krankheiten oder Problemen herauszufinden. Graham bezeichnet Votive deshalb auch als Mittel zur Selbstvergewisserung für »Körper im Ungleichgewicht« ¹. Abbilder waren dabei die Kommunikationsmittel für Wünsche und Hoffnungen der Menschen. Ihre Aufhängung an Tempelwänden ließ Muster entstehen, deren Existenz einen kollektiven Glauben an die Wirkkraft einer ›mehr als menschlichen‹² Instanz visualisierte. In Mustern sieht Charles Sanders Peirce die Manifestationen menschlicher Wahrheitssuche. Da die konzeptionelle Struktur der Dinge nicht direkt zugänglich ist, muss Wissen aus beobachteten Daten extrahiert beziehungsweise ›gemacht werden‹ ³. Den Prozess, Daten etwas hinzuzufügen, was konzeptionell nicht in ihnen enthalten ist, nennt Peirce ›Abduktion‹, die sprachliche Form dieser Hinzufügung nennt er ›Hypothese‹. Abduktion beginnt bereits mit einer Vermutung oder einem Verdacht. Laut dem amerikanischen Pragmatiker führt dies jedoch prinzipiell zum Finden der bestmöglichen Erklärung eines ungeklärten Sachverhalts und etabliert dabei neue Regeln. Der Prozess der Abduktion ist jedoch ein intuitiv-emotionaler und damit auch

ein nicht kritisierbarer Vorgang. Erst seine sprachliche Formulierung als Hypothese führt zu einer verifizierbaren Argumentation, bei der Sachverhalte auf Gültigkeit überprüft werden können. Aufgrund dieses emotionalen Ursprungs führt Abduktion nie zu absoluter Gewissheit, sondern nur zu intersubjektiv aufgebauter und geteilter Wahrheit, die jedoch erst dann erreicht ist, wenn »alle Gemeinschaftsmitglieder zu der gleichen Überzeugung in Bezug auf eine Problemlösung gekommen sind.« ⁴

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Postkarte aus Altötting, 1931 erschienen im Verlag von Fidelius Mayer. Die Postkarte zeigt die Lichterprozession um die Gnadenkapelle.

Egal wie wundersam für uns überlieferte Heilungsberichte heute auch klingen mögen, antike Votivmuster an Tempelwänden repräsentierten also nicht nur kollektive Übereinkünfte, sondern suggerierten vor allem durch ihre massenhafte Anordnung ein Stattfinden von Genesungsprozessen.

Schematische Darstellung von Weltraummüll, Screenshot


Im Zuge der Christianisierung verlor die Votivopferpraxis an Bedeutung und der Reliquienkult wurde populär. Durch die hingebungsvolle Berührung von beispielsweise Armreliquiaren sollten Kranke geheilt, die Seelen Verstorbener befreit oder zukünftige Fegefeuerqualen erlassen werden. Von den Reliquiaren, in welche die sterblichen Überreste heiliger Personen und kirchlicher Märtyrer_innen eingearbeitet waren, gingen stets Wundererzählungen aus. Im Rahmen von Wallfahrten pilgerten gläubige Menschen hoffnungsvoll an die Aufbewahrungsorte jener Objekte, um diese hingebungsvoll zu berühren. Manche Reliquiare waren sogar irgendwann so abgegriffen, dass ihre Goldoder Silberfassungen erneuert werden mussten. Auch hier dienten Objekte als Vermittler zwischen den Gläubigen und dem ›mehr als Menschlichen‹. Ihr Kult hinterließ jedoch keine Wandmuster aus Gliederdarstellungen, vielmehr schuf er im »thaumaturgischen Konkurrenzkampf« ⁵ diverse Infra- und Dienstleistungsstrukturen wie beispielsweise Wegeverbindungen, Wirtshäuser, Devotionalienhandlungen, den Reliquienhandel oder den Geleitschutz durch ritterliches Sicherheitspersonal. Der Reliquienkult war zeitweise ein sich selbst verstärkendes Muster, bei dem der mittelalterliche Frömmigkeitswillen einer krisengebeutelten Gesellschaft mit konkurrierenden kommerziellen Interessen korrelierte. Vielleicht waren mittelalterliche Wallfahrten sogar die Vorgänger des Massentourismus.

bringt das Berühren dieser Skulptur Glück. Vor mehr als 150 Jahren soll der schottische Polizist John Gray einen Skye Terrier mit Namen Bobby besessen haben. Nach Grays Tod im Jahr 1858 wachte der Hund angeblich bis zum eigenen Lebensende am Grab seines Herrchens. Aufgrund dieser Treue und Hingabe wurde dem Vierbeiner nicht nur ein eigenes Grab errichtet, sondern 1872 auch ein Denkmal gesetzt. Obwohl der Wahrheitsgehalt der Bobby-Legende unklar und der vermeintlich glücksbringende Kontakt mit der Skulptur wohl eher eine Erfindung ist, ›betouchen‹ Touristen_innen noch heute hundertfach das Hundeabbild. Dessen Bronzefell ist inzwischen dunkel geworden, nur seine Schnauze glänzt durch das ständige Berühren noch gelblich.

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Mittels Googles neuralem Netzwerk Deep Dream bearbeitetes NASA-Foto eines Lochs, welches durch fliegende Orbitaltrümmer in einen SMM-Satelliten geschossen wurde.

Greyfriars Bobby

Ein Beispiel, welches noch heute touristische Ambitionen mit dem ›mehr als Menschlichen‹ verbindet, ist eine Bronzeskulptur im Zentrum der schottischen Hauptstadt Edinburgh. Der Legende nach

Die Berührung ›nicht menschlicher Objekte‹ zur Kommunikation mit dem ›mehr als Menschlichen‹ ist weiterhin virulent. Gegenwärtig sind Smartphones die beliebtesten Objekte für zeitgenössische Berührungsrituale. Hingebungsvoll streicheln wir deren Oberflächen und opfern dabei Zeit, Geld und Metadaten. So liken, haten, simsen, navigieren, telefonieren wir uns durch die Welt und kommunizieren dabei primär mittels Entitäten wie Satelliten, Browsern, Datenbanken, Funkmasten, Messengern, Apps oder Servern. Obwohl die meisten von uns sich nicht genau erklären können, was bei diesem ›mehr als menschlichen‹ Kommunikationsprozess wirklich abläuft und wie wahr die dabei übermittelten Inhalte tatsächlich sind, scheint ein Leben ohne diese ›Opferpraxis‹ unvorstellbar.


Unser hingebungsvoller Glaube an die wohltuende Kraft der Informiertheit oder die heilsame Wirkung der Kommunikation kreiert ebenfalls Muster. Eines davon umkreist unseren Erdball. Weltraummüll nennen wir jene Ablagerung aus Satellitenüberresten, Raketenpartikeln oder Teleskop-Splittern, die sich mit hoher Geschwindigkeit um unseren Planeten bewegen. Wie Geschosse zersprengen sich die Bestandteile dieses Musters selbst und kreieren dabei im Kaskaden-Effekt einen rasant wachsenden Nimbus aus Trümmern. Über 150 Millionen Müll-Teilchen sind bisher katalogisiert, manche davon kleiner als ein Millimeter. Folgt man Charles Sanders Peirce beinhaltet dieses Muster nun aber Wahrheit, neue Ebenen der Ordnung oder Regeln. Welche könnten das sein? Welche Probleme gibt es zu lösen? Welche Beziehungen gilt es herzustellen? Wollen wir uns mit unseren kommunikativen Endgeräten nur von der Intersubjektivität der Wahrheit vergewissern oder werden wir diese zu Sternenstaub fragmentieren? Bildquellen  Weltraummüll: URL: http://stuffin.space/ [20. April 2017, 10:20 Uhr]. Greyfriars Bobby: Bildausschnitt, Fotograf: Rock drum, URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Greyfriars_Bobby_Fountain, _2014-07-06.jpg [20. April 2017, 10:20 Uhr]. lizensiert unter Creative Commons license, URL: https://creativecommons.org/ licenses/by-sa/3.0/deed.en. 1  Vgl. Graham, Emma-Jayne: Votive efficacy – or did ancient anatomical votives actually work? In: The Votives Project Online [29.1.2016]. URL: http://thevotivesprojectorg/2016/01/29/votive-efficacy/ [27. Februar 2017, 18:15 Uhr]. 2  Die Bezeichnung ›mehr als Menschliches‹ wurde hier von Antony Corbeill übernommen. In Übereinstimmung mit Corbeill sollen damit Assoziationen zum ›Übernatürlichen‹ oder der ›Phänomenologischen Welt‹ vermieden werden. Vgl. Corbeill, Antony: Nature Embodied. Gesture in Ancient Rome. Princeton und Woodstock 2004. 3  Vgl. Parisi, Luciana: Mediation and Technological Abstraction. In: Vortrag im Rahmen der Actions Conference. Brown University

Rhode Island 2016 [14.03.2016]. URL: http://www.youtube.com/ watch?v=2k9bZN-quG4 [27. Februar 2017, 18:20 Uhr]. 4  Reichertz, Jo: Von Haaren und Nägeln: Zur impliziten Anthropologie von Charles Sanders Peirce. In: Kodikas/ Code – Ars semeiotica 21 (1998), 3–4, SS. 287–304. URL: http://nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:0168-ssoar-19570 [02.  Februar 2017, 10:08 Uhr]. 5  Rohmann, Gregor: Tanzwut – Kosmus, Kirche und Mensch in der Bedeutungsgeschichte eines mittelalterlichen Krankheitskonzepts. Göttingen 2012, S. 414. Die Thaumaturgie, auch Wundertätigkeit, bezeichnet das Vermögen eines Menschen, Wunder zu vollbringen. Jesus Christus war ein berühmter Thaumaturg.

Antje Seeger (*1982) studierte zunächst Landschaftsarchitektur an der Technischen Universität Dresden und anschließend bildende Kunst an der Hochschule für bildende Künste Dresden. 2012 legte sie ihr Diplom in der Fachklasse für Intermedia bei Prof. Alba D’Urbano an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig ab. Ihre künstlerischen Arbeiten thematisieren Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Wertvorstellungen und alltäglichen Handlungskonventionen, die unter anderem durch die Präsenz von massenmedial verbreiteten Bildern entstehen – sie analysiert deren Geschichte, Funktion und Produktionsbedingungen und denkt damit ihre möglichen Bedeutungsebenen weiter. In ihren Arbeiten überlappen sich die Grenzen zwischen den Medien Video, Performance, Fotografie, Text, Installation und Intervention. Antje Seeger lebt und arbeitet in Dresden.

Die Publikation erscheint anlässlich macht masse kollektiv – ein dezentrales Kulturprojekt im Spannungsfeld zwischen Kunst, Politik und Wissenschaft des Kunstverein gegenwart e.V. 22.6. – 8.7.17

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Veranstaltungsorte Bistro 21, Hermann-Liebmann-Straße 88, 04315 Leipzig Hildes Enkel, Hildegardstraße 49, 04315 Leipzig Lu 99, Ludwigstraße 99, 04315 Leipzig Raum Weisz, Idastraße 36b, 04315 Leipzig Vary Plattenladen & Café, Eisenbahnstraße 7, 04315 Leipzig Herausgeber  Kunstverein gegenwart e.V. Kuratorisches Team  Hannes Birkholz, Franziska Fleckenstein, Nina Kaiser, Helene Mager, Christopher Utpadel, Elisabeth Würzl Redaktion und Lektorat  Franziska Fleckenstein, Nora Höhne, Helene Mager, Elisabeth Würzl, Elizabeth Youngman Grafische Gestaltung  Lukas Löffler, Janna Seiter, Daniel Wacker Künstler_innen  ACAD & C, Paula Marie Kanefendt, Savita Kim, Lukas Kreiner, Dean Maaßen, Hannes Neubauer, Agata Pietrzik, Ramona Schacht, Antje Seeger, CaroSell, Theresa Szymanowski, Daniel Theiler, Sebastian Wanke Vorträge  Julia Schäfer, Katharina Sturm Workshops  Ina Luft, Maximilian Mandery Druck  Osiris-Druck, Leipzig Auflage  250 Exemplare © 2017 Kunstverein gegenwart e.V. Alle Rechte vorbehalten. Abdruck (auch auszugsweise) nur nach Genehmigung durch den Herausgeber. Abbildungsrechte  Falls nicht anders gekennzeichnet liegt das Copyright bei den Künstler_innen. ISBN 978-3-00-056584-7

Dieses Projekt wurde gefördert durch  Kulturamt der Stadt Leipzig, Kulturförderung des Studentenwerks Leipzig, Student_innenrat der Universität Leipzig, Fachschaftsräte der Kunstpädagogik und Musikwissenschaft, Philosophie,Theaterwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften und aus Mitteln des Verfügungsfonds Soziale Stadt Leipziger Osten


ISBN 978-3-00-056584-7


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