KUNSTRAUM edition // Alex Lebus / Paare und Passanten

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Ueber den Boden der Galerie verteilt liegen zwanzig Spiegelfragmente. Sie haben unterschied­ liche Groessen, sind rechteckig und praezise geschnitten. Bei jedem der Spiegel wurden Teile der silbernen Schicht auf der Rückseite entfernt, wodurch dicke, gerade Linien entstehen, die hier und dort in spitzen oder rechten Winkeln aufeinandertreffen. Die Konfiguration scheint willkürlich, ist jedoch praezise arrangiert, sodass die Streifen auf klarem Glas die Grossbuchstaben H, E, I, M, W, E und H formen. Keiner der Buchstaben ist vollstaendig. Wie die Reflektionen der Architektur, die von den Spiegeln selektiv umrahmt werden, bilden auch diese nur Fragmente. Die Komposition verursacht trotz der strengen Geometrie, der einfachen formalen Eleganz und Exaktheit, mit der sie gestaltet ist, das Gefühl einer Stoerung, vergleichbar mit der Rekonstruktion eines Unfalls. Bildlich gedacht koennte es sich um eine schematische Repraesentation von Eisschollen handeln, die inmitten von Resten eines zerstoerten Flosses treiben oder vielleicht um ein unvollendetes Puzzle, das frustriert aufgegeben wurde. Dieses instabile dialektische Bild, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstella­ tion zusammentritt, erfasst für Walter Benjamin das Gleiten zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Innerhalb dieser Konstellation koennen jedoch weder materielle Spuren der Vergangenheit gefunden werden, noch ist die Vergangenheit der Erinnerung und dem Gedaechtnis zugaenglich. Vielmehr kann sie in Ursprung und Geschichte des Wortes aufgedeckt werden: Heimweh ist demnach das nur schwer erkennbare Ueberbleibsel der Kollision der Woerter nóstos und álgos. Was hier aufeinander trifft, ist gewissermassen die Heimkehr der Uebersetzung des Wortes nostalgia und dessen Wandel von einem hemmenden medizinischen Leiden, welches vor langer Zeit bei schweizerischen Missionaren diagnostiziert wurde, hin zur romantischen Sehnsucht von Dichtern, Künstlern, Liebenden und allen anderen verlorenen Seelen; und letztendlich zum unheilbaren kollektiven Leid unserer Zeit. Für AL E X L E BU S ist Heimweh eines ihrer Lieblingswoerter. Ich schaetze, es koennte sogar eines ihrer Lieblingsgefühle sein. Die Idee scheint befremdlich: wie kann jemand den schmerzhaften psychologischen Effekt der Dislokation und Einsamkeit oder die Angst vor dem Verlust positiv besetzen? Andererseits ist denkbar, dass Heimweh — das Sehnen nach Rückkehr und Wieder­ vereinigung — für einen Künstler eine Art Reiselust ist, ein Verlangen danach, sich von den Fesseln eines Ortes zu befreien. Auf diese Weise wirkt es als eine fortwaehrend motivierende Kraft, die der Vorstellungskraft Reichweite verleiht. Es ist die Aussicht auf eine Reise, nicht das entlegene Ziel, welches den Wanderer und den Künstler anzieht; der gedanklich Reisende in einer spekulativen Welt des Als Ob. Lebus’ Sehnsucht nach einer Heimat verwandelt sich in das Sehnen selbst. Dieses Sehnen ist der Ort, den sie bewohnt und den sie ununterbrochen aufsucht. Es ist kein Ort im Sinne einer Lage oder Oertlichkeit, sondern ein geistiger Zustand, der einen Umweg nimmt. Dieser Umweg ist der Arbeitsmodus der Dichtung, die Kunst, Woerter vom geraden Pfad ihres konventionellen Gebrauchs, ihrer Bedeutungen und Assoziationen fortzuleiten. In der Dichtung sind Bedeutungen gewunden. Im Labyrinth der Sprache nehmen sie unvorhersehbare Wendungen und spontane Abkürzungen. Ein Akt der Dichtung macht Sinn, jedoch liegt dessen Sinn nicht in der Kommunikation oder dem Teilen von Informationen. Die Dichtung zeigt denen, die sie verstehen sehr wenig, um Benjamin nochmals zu para­ phrasieren. Es inspiriert uns, in Formen zu denken, die das Wissen umgehen und die den Geist auf eine Reise zu Orten führen, für die wir keinen Schlüssel besitzen. Doch liegt es nicht im Sinne der Dichtung, uns Fakten vergessen zu machen, geschweige denn Ambivalenz zu foerdern oder eine Lossprechung vom kritischen Denken anzubieten. In unserer gegenwaertigen Realitaet, die uns mit Heimatlosigkeit, Exil und Diaspora taeglich konfrontiert, in der der Verlust der Heimat die staendige Erfahrung so vieler Menschen ist, und in der unzaehlige im Namen erfundener Heimatlaender darauf vorbereitet werden zu sterben oder zu toeten, wird die dichterische Mehrdeutigkeit des Heimwehs zu einer dringenden Gedaechtnis­ stütze. Sie erinnert uns daran, dass das symbolische Vokabular von Identitaet und Identifikation eine Artikulation unserer Wahrnehmung von dem Ort ist. Wo kommst du her? Was machst du hier? Es sind diese Fragen, die einem Aussenseiter oder einer verlorenen Person von denjenigen,


die sich einem Ort zugehoerig fühlen, gestellt werden koennten. Sie trennen uns von Anderen und koennen dennoch über Unterschiede hinausweisen und Isolation aufheben. Sie koennen Aus­ schluss oder Willkommen bedeuten. Die Arbeit Der Ort bietet keine Zuflucht. Sie offeriert weder Entkommen noch eine glückliche Ueberfahrt. Ihr aus einem Wort bestehender Aufruf verlangt nach keiner Antwort, sondern konfrontiert die Betrachter mit ihren eigenen Gefühlen und Gedanken. Ein Bild der Zerstoerung koennte auch ein Bild der Rettung sein. Ein ungeloestes Puzzle oder eines das scheinbar nicht zu loesen ist, koennte auch dazu einladen, nochmals hinzuschauen, nochmals nachzudenken, nochmal an einem anderen Ort zu beginnen. Pavel Büchler Uebersetzung Felix von Haselberg


Diese Publikation erscheint anlaesslich der Ausstellung PAARE UND PASSANTEN Alex Lebus und Susanne Ramolla 21.04. – 21.05.2017 Kunstraum Potsdam c/o Waschhaus


THE PLACE

THE WANDERER I

HOLDING THE LINE

20 FINGERS

THE CASTLE



THE PLACE









THE WANDERER







HOLDING THE LINE







THE CASTLE







20 FINGERS







THE PLACE

THE WANDERER I

HOLDING THE LINE

20 FINGERS

THE CASTLE

2017 20 mirrors 1 × 500 × 700 cm

2017 mirror, steel 230 × 39 × 40 cm

2016 / 2017 HOLDING THE LINE I, II, III Broken in one Piece mirror, lashing strap, hooks 210 × 100 × 60 cm 205 × 180 × 60 cm 225 × 100 × 60 cm

2017 german silver, steel rack 95 × 170 × 20 cm

2016 mirror, wood 200 × 150 × 150 cm



ALEX LEBUS 1980 geboren – born in Magdeburg Lebt und arbeitet – lives and works in Berlin 2000–2004 Designstudium – Studies of design Hochschule Magdeburg/Stendal 2006–2012 Studium Freie Kunst – Studies of Fine Art Hochschule für Bildende Künste Dresden 2012–2014 Meisterschülerabschluss – Master of Arts Eberhard Bosslet

S T I PE N D I E N / PR E I S E – S C H O L A R S H I P S / AWA R D S 2016 Else-Heiliger-Fonds working grant, Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin 2015 Ehrendiplom – Honorary Diploma Jutta Cuny-Franz Foundation 2014 Leonardo Stipendium 2014 Artist in Residence, Axel Springer Plug and Play 2013 Hegenbarth-Stipendium 2012 Scholarship Schools of Art Manchester


AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL) – EXHIBITIONS (SELECTION) 2017 NOBLE SURFACE, CIRCLE1 Gallery, Berlin UNTERSTROM, KNAAK Skulpturengiesserei, Berlin OPEN THE NARRATIVE, Werkschauhalle Leipzig PAARE UND PASSANTEN, Kunstraum Potsdam GERADEWOHL, Toolbox, Berlin 2016 HOW TO FIND TRUE LOVE AND HAPPINESS IN THE PRESENT DAY, Bikini, Berlin TALK#12, mit Tim Holland, Black Box der GfZK, Leipzig ACH, DIE SIND JA HEUTE ALLE SO UNPOLITISCH., Salon Dahlmann, Berlin PING PONG basel, M54, Basel OSTRALE weht oder, Wroclaw KUNST IM WASSERTURM, Hamburg CARTE BLANCHE #01, PFERD, Wien IF I AM CURIOUS, I CAN ONLY GET BETTER, Kreuzberg Pavillon, Berlin OFFICE 152 Nr3, LAGEEGAL, Berlin 2015 Breaking the Waves and Drawing a Line (EA), EIGEN + ART Lab, Berlin S/W, Dresdner Kunstbiennale, Dresden PORN PORN PORN, EIGEN + ART Lab, Berlin Nemska Rabota, Galerie Vaska Emanouilova, Sofia New Positions, ART COLOGNE, Koeln 2014 TO BE CONTINUED, EIGEN + ART Lab, Berlin NEW MASTERS, SO FAR, Kunsthaus Dresden, Dresden WEST TRASH, Westgermany, Berlin A PLACE CALLED HOME, STORE, Dresden (solo) NEW VALUES AND OTHER THINGS, Axel Springer PnP, Penthouse, Berlin (solo) ALEX & NANCY, Staedtische Galerie, Dresden AUSSER DER REIHE, Galerie EIGEN + ART, Leipzig GERADEZU MOMENTAN., Oktogon, Dresden XZIBIT, Projekthaus, U.FO Kunstraum, Hamburg EMERGEANDSEE ### INSTANT, Vierte Welt, Berlin 2013 SCHOOLS OF ART, Holden Gallery, Manchester EINE STADT SUCHT EINEN MOERDER, C. Rockefeller, Dresden NEO:ARTPRIZE, neo:gallery22, Bolton HAUT. OBERFLAECHE UNTER SPANNUNG, Oktogon, Dresden



Diese Publikation erscheint anlaesslich der Ausstellung PAARE UND PASSANTEN Alex Lebus und Susanne Ramolla 21.04. – 21.05.2017 Kunstraum Potsdam c/o Waschhaus Redaktion: Mike Geßner, Johanna Olm Gestaltung: Alex Lebus Text: Pavel Büchler Uebersetzung: Felix von Haselberg Fotos: Alex Lebus Druck: Print Express Potsdam Auflage: 300 davon 20 nummerierte und signierte Vorzugsausgaben © 2017 Alex Lebus alexlebus.com courtesy EIGEN + ART Lab eigen-art-lab.com Dank an: Anne Schwanz Magdalena Wilk Philip Seibel Viktor Schmidt

Herausgeber: Kunstraum Potsdam c/o Waschhaus Waschhaus Potsdam gGmbH Schiffbauergasse 4d, 14467 Potsdam Leitung: Siegfried Dittler Kurator: Mike Geßner kunstraumpotsdam.de

ISBN 978-3-00-056393-5


Scattered on the gallery concrete floor are are twenty pieces of mirror. They are various sizes, all rectangular and precisely cut. On each of them, some of the silver backing has been removed to form thick straight lines, connected here and there at sharp or right angles. The configuration looks arbitrary but it is accurately arranged so that these strips of clear glass make up the capital letters H, E, I, M, W, E and H. None of the letters is complete; like the reflections of the architecture selectively framed by the mirrors, they too are only fragments. Despite its strict geometry, simple formal elegance and the exactitude with which it has been laid out, the composition evokes disorder, like a reconstruction of an accident. As an image, it could be a schematic rep­ resentation of drifting ice floes with the remnants of a wrecked raft, or perhaps it is an unfinished puzzle abandoned in frustration. This is the kind of unstable dialectical image that for Walter Benjamin captured the slippage between the past and the present, wherein what has been comes together in a flash with the now to form a constellation. In this constellation, however, no material traces of the past can be found nor is the past accessible to memory and recollection. Rather, it can be uncovered in the origin and history of the word, where Heimweh is the barely recognisable debris of the collision of nóstos and álgos. What comes together here is, in a sense, a homecoming-in-translation of nostalgia and its transition from a debilitating medical condition diagnosed long ago among Swiss mercenaries to the romantic yearning of poets, artists, lovers and all manner of lost souls, and finally, to the uncurable collective malady of our own times. Heimweh, says Alex, is one of her favourite words. For all I know, it could even be one of her favourite sentiments. The idea seems perverse. How can anyone cherish the painful psychological effects of displacement and loneliness or the anxiety of loss? But it could be that for an artist homesickness, a longing for a return and reunion, is really the opposite, a form of wanderlust, a desire to escape the binds to a place, the perpetually motivating force that drives the imagination towards distance. It is the prospect of the journey, not the remote destination, that attracts the wanderer and the artist, the mental traveller in an as-if world of speculation. Her longing for a home thrives in the longing itself. It is itself the place that she inhabits and constantly seeks, not a location or site but a state of the mind making a detour. Detour is the operating mode of poetry, the art of diverting words from the straight paths of their conventional uses, meanings and associations. In poetry meanings are meanderings. They take unpredictable turns and spontaneous shortcuts in the labyrinth of language. An act of poetry makes sense but its purpose is not communication or the imparting of information; it ‘tells’ very little to those who understand it, to paraphrase Benjamin again. It inspires us to think in ways that bypass knowledge and takes the mind on the road to places to which we have no key. Yet neither it is the purpose of poetry to make us forget facts, let alone to promote ambivalence or offer an absolution from critical thought. In our present reality when homelessness, exile and diaspora touch daily on our lives, when the loss of home is the acute experience of so many, and when so many are prepared to die or kill in the name of phantom homelands, the poetic ambiguity of homesickness is an urgent reminder of how the symbolic vocabulary of identity and identification articulates our sense of the place. Where do you come from? What are you doing here? These are the questions asked of an outsider or ones that could be asked of a lost person. They belong to those who belong to the place. They separate us from others but they can also transcend difference and obliterate isolation. They can suggest exclusion or a welcome. The Place is not a sanctuary. It offers no escape or safe passage. Its one-word call doesn’t demand an answer but it lets me confront what I think and feel. An image of wreckage could be also an image of rescue. An unresolved puzzle, or one that seems to have no solution, could be also an invitation to look again, think again – to start again in a different place. THE PLACE Pavel Büchler


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