Freies Theater

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diese Ansätze doch entscheidende Hilfestellungen für kritischsuchende Theatermacher nach 1968, als diese “die Erneuerung der Bühne“ erprobten. Von Artaud wurde dabei vor allem die Ablehnung der Orientierung an der Literatur und die Aufwertung der mimischen und körperlichen Ausdrucksmittel entlehnt, sein ‘magisch-elementares‘ Theater.128 Der wesentlichste Verfechter einer Theaterkonzeption in diesem Sinne wurde in den 60er-Jahren der Pole Jerzy Grotowski, dessen Einfluss auf die Theatererneuerer der 68er-Jahre von großer Bedeutung wurde. Andrzej Wirth teilt Grotowskis Theatertheorie in vier wesentliche Punkte: 1. der Raum als Funktion der Dramaturgie, eine spezifische Raumgestaltung des SpielerZuschauer-Bezuges für jede Inszenierung. 2. Das Exponieren des Spielers in direkter Nähe zum Zuschauer, wobei sein ganzer Körper zu einer Ausdrucksmaske von kondensierter Akribie wird. 3. Der Spieler schafft einen Sprech- und Klangraum durch den Einsatz aller seiner Körperteile. 4. Die Zuschauerzahl wird auf eine sehr kleine Gruppe von Erwählten beschränkt.129 Zum Unterschied von Artaud ist Grotowskis Theaterkonzeption jedoch völlig frei von sozialkritischen Elementen, ist faktisch ein Rückzug ins rein Formale. Das Dialogisch-Dialektische wird bewußt einer magischmystischen, vernunftfeindlichen Spontanität geopfert und vielfach werden nur die irrationalen Kräfte unbewusster Triebhaftigkeit in Bewegung gesetzt. Viele fortschrittliche Theatermacher erkannten denn auch, dass derartige Formen als Sozial- und Therapieverfahren, als formaler Akt durchaus interessant sind, dass für Vermittlungszwecke ihr kommunikativer Effekt jedoch keinesfalls ausreicht. Strehlers Kritik an den italienischen Freien Gruppen drückt dieses Problem am Beispiel der Verwendung Brechts, Artauds und Grotowskis aus und bringt es - gültig für viele sich selbst als fortschrittlich bezeichnende Ensembles - auf den Punkt: „Wir attestieren der Theater-Praxis der jungen ‘Off‘-Gruppen eine wichtige Rolle im Bereich des modernen italienischen Theaters, wenn auch ihre Experimente oft nicht funktionieren oder ein politisches Missverständnis sind. Wenn sie uns Brechts ‘Maßnahme‘ vorführen, wissen wir, dass die thematische Linie nicht in Richtung Brecht läuft, sondern zum Absurden tendiert, zum körperlich-mimischen 60


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