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Gautier Capuçon

Gipfelstürmer mit Bodenhaftung

Der Weltklasse-Cellist Gautier Capuçon präsentiert sich im Konzerthaus Dortmund über eine Woche lang als Curating Artist: Er plant und spielt als solcher die Programme, bringt befreundete Künstlerinnen und Künstler nach Dortmund und beweist dabei seine ganze Vielseitigkeit.

Er liebt hin und wieder das Ungewöhnliche. Einmal hat er mitten in einem australischen Naturpark, umgeben von Kängurus und Koalas, sein Cello ausgepackt und gespielt. Ein anderes Mal ist er für 36 Stunden nach China gedüst. Nahe Verbier hat er auf dem Petit Combin, in rund 3600 Metern luftiger Höhe, den ›Schwan‹ von Camille Saint-Saëns aufgeführt, im schwarzen Anzug mitten im weißen Schnee und bei minus 15 Grad. Diesen Wunsch, »mit dem Cello auf einem Berg zu spielen hatte ich im Grunde seit meiner Kindheit«. Capuçon stammt aus dem französischen Chambéry am Fuß der Savoyer Alpen. Der Vater hat beim Zoll gearbeitet, die Mutter sich um die Kinder gekümmert: um Schwester Aude, die Klavier spielte und zehn Jahre älter ist, um Bruder Renaud, fünf Jahre älter und inzwischen als Geiger eine feste Größe im internationalen Musikleben, und schließlich um Gautier. Sie bildeten ein musikalisches Geschwistertrio. Gautier hat von Anfang an mitbekommen, wie die Eltern das ortsnahe Musikfestival besucht haben und wie Renaud seine ersten Konzerte gegeben hat.

Gautier Capuçon zählt seit Jahren zu den weltweit gefragten Cellisten. Manchmal gehen bei ihm der Mut zum Unverhofften und Blicke in die eigene Vergangenheit Hand in Hand. Etwa wenn er französische Evergreens wie den ›Schwan‹ oder die ›Méditation‹ aus Jules Massenets Oper »Thaīs« spielt. Dann schwingt, an welchen Orten der Welt auch immer, bei ihm ein bisschen Nostalgie mit: »Wenn wir im Winter zu meinen Großeltern gefahren und dort den ganzen Tag Ski gefahren sind, haben wir abends am Kamin gesessen und zusammen Musik gemacht. Gerade meine Großmutter liebte diese französischen Stücke.« Für Gautier war mit fünf Jahren klar, dass für ihn einzig das Cello in Frage kommt. Auf einem Foto aus Kindertagen sieht man, »dass ich keine Ahnung habe, wie man es spielt, aber ich wusste einfach, dass das Instrument zu mir gehört«. Denn das Cello sei geerdet, schließlich »steht es ja mit dem Stachel auf dem Boden«. Damit kommt es dem menschlichen Körper wohl am nächsten: »Du umarmst es geradezu.« Gerade für ein Kind liege darin etwas Natürliches, Spielerisches. Seine Begeisterung entscheidend mitgeprägt hat sein erster Cellolehrer. »Die ganze Woche habe ich mich auf die Stunde gefreut, ich konnte es gar nicht abwarten«, erklärt Gautier in einem Zeitungsinterview. »Weil es so einen Spaß gemacht hat. Er hat immer gesagt: Musik muss schwingen, wie der Swing beim Jazz. Musik ist lebendig!«

Inzwischen ist Capuçon selbst in einer Position, Jüngere zu begeistern, allen voran seine beiden Töchter. Doch erzwingen will er nichts, der eigene Antrieb zählt. Außerdem ist er Juror in einer französischen Fernsehshow – eine Art »Deutschland sucht den Superstar« für die Klassik. »Wir arbeiten mit jungen Leuten und bringen klassische Musik zweimal im Jahr zur Hauptsendezeit mit rund viereinhalb Millionen Zuschauern – darunter auch viele Kinder. Das Niveau steigt mit jedem Jahr, und wir vergeben auch Stipendien.« Um mögliche Kritik an solchen Formaten weiß auch Capuçon, aber ihre enorme Wirkung ist unbestritten. »Diese Kinder müssen doch keine Profi-Karriere ansteuern. Wenn sie aus Freude an der Sache weiterhin ein Instrument spielen, ist schon viel gewonnen.« Perfektionismus als bedingungsloses Ideal lehnt er ab. »Perfektionsdruck darf nie wichtiger werden als die Musik. Man muss sich immer vergegenwärtigen: Warum machen wir Musik? Um sie zu teilen. Das sollte ein Fest sein, ein Glück, ein Moment, den man gemeinsam erlebt.«

Wenn Gautier Capuçon sich selbst tief in die Musik versenkt, hört man, wie er während seines Spiels ungewöhnlich tief Luft holt. Für ihn ist das geräuschvolle Atmen ein Siegel für Authentizität: »Wenn ich intensiv fühle, dann gehört das einfach zu meinem Spiel dazu«, behauptet er. »Die Kunst eines Musikers liegt darin, Gefühle auszudrücken, die man nicht beschreiben kann, und dadurch eine Beziehung zu anderen Menschen herzustellen.« Seine Energie saugt Gautier Capuçon aus dem Leben selbst: »Ich will jeden Moment des Lebens nutzen. Deswegen sind für mich die Tage zu kurz.« Doch mit dieser Einstellung geriet er mehr und mehr in ein Hamsterrad. Die unerwartete Zäsur folgte kurz nach der Geburt seiner zweiten Tochter. Plötzlich musste er zurückrudern, hat kaum mehr das Haus verlassen, ist nachts immer aufgewacht. Diagnose: Burnout. Ein Sammelbegriff, der nach Spezifikation verlangt. »In dieser Zeit lernte ich meine Grenzen kennen, lernte, was geht und was nicht. Genug Schlaf ist genauso wichtig wie Sport.« Seitdem haben Meditation und Joggen einen eigenen, der Schlaf einen hohen Stellwert im Alltag des Musikers. Der Körper hat Alarm geschlagen und Capuçon hat die Signale rechtzeitig erkannt. Heute sagt er: »Auf gewisse Weise bin ich glücklich, dass ich das erlebt habe. Es hat mich stärker gemacht.«

Wenn Gautier Capuçon ab Ende März 2023 ins Konzerthaus Dortmund zurückkehrt, dann präsentiert er sich als Künstler von unterschiedlichen Seiten: als Solist in zwei der bekanntesten Konzerte des Repertoires (Haydn und Dvořák), als Lehrer in einer öffentlichen Meisterklasse, als Gesprächspartner im »Salon« und vor allem als Kammermusiker. Der Begriff des »Teilens« kommt ihm immer wieder gern über die Lippen, denn er misst einer Kultur des Miteinander, des gemeinsamen Aufeinander-Hörens eine sehr hohe Bedeutung zu. »Ich glaube, wir haben das in den vergangenen Jahrzehnten aus den Augen verloren, und dieser Wert kehrt nun in unser Leben zurück.« Gautier Capuçon ist eben ein Ausnahmemusiker mit Bodenhaftung.

Sa 25.03. – So 02.04.2023

Curating Artist Gautier Capuçon

Gautier Capuçon Violoncello, Kammerorchester Wien – Berlin, Hagen Quartett, Wiener Symphoniker, Robin Ticciati Dirigent u. a.

Acht Konzerte von der kleinen Besetzung bis zu sinfonischen Ausmaßen in der ersten grünen Konzertreihe am Konzerthaus: CO2-neutrale Veranstaltungen dank der Unterstützung der E.ON Stiftung