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Dossier

Jahr der Barmherzigkeit

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Der Gott des Erbarmens

Im zweiten Brief an die Korinther ist uns eine Stelle von Paulus überliefert, die dieses Thema von einer anderen Seite beleuchtet: „Gepriesen sei der Gott und Vater Jesu Christi, unseres Herrn, der Vater des Erbarmens und der Gott allen Trostes.“ (2 Kor 1,3) Paulus spricht von den Leiden und Anfeindungen, die er ertragen musste um Christi willen, und von dem Trost, den er in seinem Glauben an Christus erfahren hat. Die Barmherzigkeit Gottes soll allen zum Trost werden, denen es genauso geht wie ihm. Es ist eine Kraft, Schweres zu ertragen, das leichter wird, wenn wir es gemeinsam tragen.

Barmherzigkeit statt Almosen

Durch die marxistische Religionskritik des 19. Jahrhunderts hat diese Haltung eine gewisse Wendung erfahren. Das Mitleiden und Erbarmen vertröste die armen und geknechteten Menschen zu sehr auf das Jenseits und trage nichts dazu bei, die Lage selbst zu verbessern. Ein Vorwurf, der

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An Jesu Anspruch können wir erkennen, dass diese Spannung gerade sein Wirken hier auf Erden ausgemacht hat. Die Spannung zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, die unser Gottesbild bis heute umkreist. Wäre das nicht so, warum hätte Jesus dann das Gleichnis vom „barmherzigen Vater“ (Lk 15,11-32) erzählen müssen? Schon bei der Benennung dieser Erzählung stockt der Gedanke, heißt es doch in unserer Bibelausgabe „das Gleichnis vom verlorenen Sohn“! Wer ist jetzt eigentlich gemeint, der barmherzige Vater oder der verlorene Sohn? Lukas leitet das Kapitel mit den „drei Verlorenen“ (Schaf, Drachme, Sohn) mit der Bemerkung ein, dass die Pharisäer und die Schriftgelehrten sich darüber empörten, wie Jesus mit den Zöllnern und Sündern umging. Ihnen musste er offenbar erklären, was gemeint ist, wenn es in der Schrift heißt: „Der Herr ist barmherzig und gnädig.“ Am Beispiel vom barmherzigen Vater demonstriert er, was es heißt, „Gnade vor Recht“ ergehen zu lassen. So wie es Papst Johannes formuliert hat: Lieber das Heilmittel der Barmherzigkeit als die Waffe der Strenge.

in unseren Tagen auch immer wieder gegen Mutter Teresa vorgebracht wurde und wird. Durch ihren vorbehaltlosen Einsatz an den Armen Indiens habe sie die herrschenden Zustände akzeptiert, statt sie zu verändern. Eine „Theologie der Befreiung“ kannte sie nicht. Dasselbe gilt auch für die kirchliche Entwicklungshilfe, der man manchmal zu wenig Engagement zur Veränderung „ungerechter Strukturen“ nachsagt. Barmherzigkeit aber sieht anders aus. Es geht um die konkrete Hilfe vor Ort, ohne Rückfrage auf Verursacher und Schuldige. Der barmherzige Samariter hat nicht nach dem Täter gefragt, sondern einfach geholfen. Die Gesegneten des Vaters schauten nicht auf den „Tag des Gerichts“, sondern haben den Hungernden zu essen und den Durstenden zu trinken gegeben. Das ist alles – aber wirklich alles. Barmherzigkeit ist eine Absage an die Illusion von einer heilen Welt und die tätige Anteilnahme am ihrem Leiden. Ernest Theußl. Der Autor ist Obmann der KMB Steiermark.

Ausgabe 1 | Jänner 2016 9

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