Klasse Gegen Klasse Nr. 22

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Südamerika

Linke Regierungen stecken in der Krise, rechte Kräfte befinden sich auf dem Vormarsch. ➠ Seite 6-7

Frühling?

Nach fünf Jahren Arabischer Frühling versinkt die Region im Chaos. ➠ Seite 8-11

Amazon

In den letzten drei Jahren gab es fast 100 Streiktage. Wie geht es weiter? ➠ Seite 12-13

22 Januar 2016

KLASSEGEGENKLASSE Zeitschrift der Revolutionären Internationalistischen Organisation | Deutsche Sektion der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale | Preis: 1 Euro | Solipreis: 2 Euro

Für eine AntiKriegs-Bewegung! Neue Kriegseinsätze beginnen. Rechte Kräfte bekommen Zulauf. Ein Hoffnungs­schimmer sind die Proteste der Jugend. Zeit, diese neue Generation ernst zu nehmen.


WER WIR SIND

Die Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO) ist die deutsche Sektion der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale (FT-CI). Klasse Gegen Klasse erscheint zehnmal im Jahr. Abos sind ab 25 Euro frei Haus erhältlich. Diese Zeitschrift wird auf Recycling-Papier gedruckt. Redaktion: Wladek Flakin, Lilly Freytag Oskar Huber, Alexej Gewor­ kian, Stefan Schneider, Baran Serhad. Layout: Wladek Flakin, Max Karlmann.

SINIFAKA

NR. 22 JANUAR 2016 3

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Gegen Klasse

Nr. 3 Janua r 2016

Kurdischer gegen die Widerstand Besatzung İşgale Kar şı Kürt Dire nişi

Leitartikel: Für eine Anti-Kriegs-Bewegung!

Die Situati on in Nordk urdistan eskalie Die kurdisc hen rt türkische Staat Städte sind militärisch immer weiter: belagert. Der mordet, um Die kurdisc die Kontro hen lle zu erlang Widerstand. Jugendlichen leisten dagegen heroiscen. Was sind die Widerstands Perspektiven hen in Nordkurdista des aktuell en n?

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Konferenz: Für eine Offensive der revolutionären Linken in Europa!

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Südamerika: Kriegsplan der Rechten

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Ausgeträumt? Vom arabischen Frühling in den blutigen Herbst…

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BARAN SERHA D,

Kuzey Kürdis tan‘da durum Kürt şehirle ri askeri kuşatm giderek tırmanıyor: devletinin a altında. kontrolü ele Türk geçirmek katliamlara uğrun karşı Kürt gençleri kahrama yaptığı direniyor. Hali anca perspektifleri hazırda gerçekleşen direniş nelerd

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SINIFAKARŞISINIF Deutsch-türkische Beilage

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Amazon: Fast 100 Streiktage. Und nun?

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Feminismus: Die Liste der RKJ Ausbeutung und Unterdrückung

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Debatte: Wie hältst du es mit der Polizei?

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eine Illusion zu glauben Uni frei von , dass die LGBTI*-Menschen gen sexistisc den Einflüssen der heuti- scher hen Gesellsc Formen von Bespiel: Nur haft wäre. und sexisti20 Prozent Ein Unterdrü homo- bzw. transpho schaft ist weiblich der Professo ckung ausgese ber ren- in . Und tzt, die sich was mehr Beleidigungen, als die Hälfte dass, obwohl et„Witzen“ oder Werbung weiblich ist. der Dieser Ausdruc Studierenden anzukäm ausdrücken. Dagegen unterdrückung k der Frauenpfen auf aufmerk heißt für uns, dar„oberen Etagen“,zeigt sich nicht nur sam in in den prekarisi sondern noch viel den unsere eigene zu machen und mehr ren. Rolle zu reflektie wie bei Reinigunerten Bereichen In Lesekrei der FU gskräften shops entwicke sen und Workvon Rassismu ln wir aber s betroffen (die oft noch mit Sprachlehrbeauft welcher Strategie sind) auch, ragen. Hier oder den kämpfer ein klassenwiegender ist ischer ein Teil über- diese Feminismus lich und damit der Beschäftigten weib- die Unterdrückung kämpft:gegen Ausbeutung doppelt und dreifach Selbstor Indem und von LGBT*-M ganisierung von fen: mit weniger Unterdrückung enschen unterstü Frauen und betrofsie gemeins Arbeitsbedingun Lohn plus schlecht am mit der tzt wird und eren klasse gen. Arbeiter*innenDies sind kämpft. jedoch erst gen Sexismu Unseren Widersta die markant Ausdrücke. nd s, Homoesten wollen Jeden Tag und Transpho gesind Frauen bie und sichtbarwir auch an der Uni immer wieder machen.

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jeden Freitag um 16 am Roten Cafe, HarnackUhr str. 1

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Du stimm st diesen Punkten wähle die zu? mach bei RKJ – Liste 35 und/odDann uns Ergänzungenmit! Du hast Kritik er oder zu diesen Dann kontak Punkten? tiere uns, Vorschläge damit diskutieren wir deine können!

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Auch diese s Jahr finden zum 14. vom Janua rendenparla r Wahlen zum 12. bis Studievolutionär- ment statt. Auch die komm

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Beilage: Kurdischer Widerstand gegen die Besatzung

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This is a flyer of elections takingthe Revolutionary Communist Youth (RKJ) text in English place on January 12-14. Visit for the student and other our web site languages. for a version of this nale Studieren de dürfen auch wählen!

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Wahlen an der FU Berlin

Die Revolutionär-kommunistische Jugend tritt bei den Wahlen der Studierenden an.

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Die täglich aktualisierte Website der Revolutionären Internationalistischen Organisation

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ViSdP: R. Müller, Hafenstraße 120, 20359 Hamburg, Eigendruck im Selbstverlag.

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International: Trotzkistische Fraktion – Vierte Internationale www.ft-ci.org Argentinien: Partido de los Trabajadores Socialistas www.pts.org.ar Mexiko: Movimiento de los Trabajadores Socialistas www.mtsmexico.org Bolivien: Liga Obrera Revolucionaria por la Cuarta Internacional www.lorci.org Brasilien: Movimento Revolucionário de Trabalhadores www.palavraoperaria.org Chile: Partido de Trabajadores Revolucionarios www.ptr.cl Venezuela: Liga de Trabajadores por el Socialismo www.lts.org.ve Uruguay: Juventud Revolucionaria Internacionalista jrinternacionalista.wordpress.com Spanischer Staat: Clase Contra Clase www.clasecontraclase.org Frankreich: Mitglieder in der Courant Communiste Révolutionnaire innerhalb der NPA www.ccr4.org Deutschland: Revolutionäre Internationalistische Organisation www.klassegegenklasse.org

TOP 10 MEISTGELESEN IM DEZEMBER 1

Dauerdeprimierte Kommunist*innen?

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Kurdischer Widerstand gegen die Besatzung

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ie viel Verständnis brauchen W wir für Rassist*innen?

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Amazon aufs Glatteis führen

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Die PKK: Damals und heute

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Die Tribute von Panem – Filme aus der Welt der AfD?

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ie Elite-Uni FU will 31 Arbeiter*­ D innen auf die Straße setzen

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Ja, die BVG hasst dich – aber noch mehr hasst sie ihre Belegschaft

5

Die Rebell*innen von Star Wars: Antifaschistische Partisan*innen oder rechte Todesschwadronen?

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Die Pille: Weibliche Selbst­be­ stimmung oder kapitalistisches Schönheitsideal?


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Nr. 22 Januar 2016

LEITARTIKEL

V ON B A S T I A N S CH M I DT

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er deutsche Imperialismus befindet sich militärisch auf dem Vormarsch – ob in Syrien, im Irak oder in Mali. Dieser verstärkte Militarismus ist eine Reaktion auf die anhaltende Krise des Kapitalismus und die daraus folgende, sogenannte Migrationskrise. Widerstand erfährt diese Politik vor allem aus der Jugend, die in den letzten Wochen gegen die neuen Kriegseinsätze protestiert hat. Repressionen und Militarismus wurden vor allem in Frankreich und Deutschland durch die Anschläge von Paris auf ein neues Level gehoben. Nach innen bekämpft die französische Regierung, nicht zuletzt mit Zustimmung der Front de Gauche, politische Gegner*innen und Migrant*innen, nach außen führt sie einen „Krieg gegen den Terror“. Diese neue imperialistische Offensive der französischen Regierung unter Beteiligung der Bundeswehr wird die Situation im Nahen und Mittleren Osten weiter zuspitzen. Bereits in Afghanistan, im Irak und in Libyen haben sich die Ursachen für die massenhafte Flucht von Millionen von Menschen verschärft. Afghanistan ist beispielsweise auch über zehn Jahre nach Beginn des NATO-Einsatzes durchsetzt von Korruption und Arbeitslosigkeit. Dass es bei diesen Kriegen nicht um Menschenrechte geht, wird auch in den Staaten Nordafrikas deutlich, in denen 2011 an vorderster Front Jugendliche und Frauen gegen die herrschenden Regierungen rebellierten. Doch weder die sozialen noch die demokratischen Forderungen konnten durchgesetzt werden. Die Bewegungen wurden mit Hilfe von NATO-Interventionen und imperialistischer Unterstützung der neuen Regierungen niedergeschlagen. Die neuen militärischen Offensiven sind vor allem eine Reaktion auf die anhaltende Krise des Kapitalismus. Eine Situation, in der weitere „friedliche“ Liberalisierungsmaßnahmen des Weltmarktes kaum möglich, aber doch notwendig für das Kapital sind. So ist auch die Beteiligung der Bundeswehr am Syrien-Krieg mehr als nur „Solidarität“ mit Frankreich. Der „Sicherheitsexperte“ Markus Kaim bringt es auf den Punkt: „Das Einschneidende ist, dass sich Deutschland über das militärische Engagement über die nächsten Jahre als Gestaltungsmacht im Nahen und Mittleren Osten profiliert. Das ist neu für die deutsche Politik, das kannten wir so bisher nicht.“

Jugendliche und Arbeiter*innen Es sind vor allem Jugendliche, die mit Protesten gegen Krieg und Rassismus der herrschenden Politik klare Absagen erteilen. Die sogenannte Migrationskrise der

Für eine AntiKriegs-Bewegung! letzten Monate hat unter Teilen von Jugendlichen in Deutschland eine Welle der Solidarität ausgelöst. So gibt es mittlerweile selbstorganisierte, antirassistische Komitees an Schulen und Universitäten. Auch dort ist der deutsche Militarismus allgegenwärtig. Jugendoffiziere versuchen junge Menschen an Schulen für die Bundeswehr zu rekrutieren und Universitäten betreiben fleißig Rüstungsforschung. Forderungen nach demokratischen Rechten für Geflüchtete wurden in den Protesten verknüpft mit sozialen und antiimperialistischen Forderungen. „Ausbildungsplätze statt Ausländerhetze! – Wohnen statt Waffen! – Kitas statt Krieg!” war beispielsweise das Motto des Schüler*innenstreiks in Hamburg kurz vor Weihnachten. Notwendig für die Durchsetzung dieser Forderungen ist jedoch die Verbindung mit kämpferischen Arbeiter*innen. Denn ein überwiegender Teil der Weltbevölkerung ist lohnabhängig, besitzt also selbst keine Produktionsmittel und muss täglich die eigene Arbeitskraft verkaufen, um den Lebensunterhalt zu finanzieren. Dabei ist es vor allem die Arbeiter*innenklasse in halbkolonialen Ländern, die am meisten unter imperialistischen „Wohltaten“, wie Billigexporten oder eben Kriegseinsätzen leidet. Auch viele Jugendliche arbeiten schon heute neben der Ausbildung oder werden später Teil der lohnabhängigen Klasse. Die Stellung im Ausbeutungsprozess verleiht ihnen dabei eine unheimliche Macht. Umso notwendiger ist es, dass auch Gewerkschaften, die in Deutschland immer noch Millionen von Arbeiter*innen organisieren, den Kampf gegen imperialistische Kriegseinsätze und Rassismus aufnehmen.

Selbstorganisierung von Jugendlichen! Der deutsche Imperialismus – egal ob er zivil oder militärisch auftritt – ist maßgeblich für die Flucht, die Verelendung und den Tod von Millionen von Menschen weltweit verantwortlich. Die Bundesregierung vertritt in erster Linie die Interessen von Kapitalist*innen mit der Aufrechterhaltung der Ausbeutung von Arbeiter*innen und Jugendlichen und der Unterdrückung von Migrant*innen. Der Kampf gegen Rassismus muss demnach auch ein Kampf gegen imperialistische Kriegseinsätze sein. Wir müssen hier vor Ort alltäglich an Schulen, Universitäten, in Betrieben und auf der Straße gegen die imperialistische Politik der deutschen Regierung kämpfen und der Vereinnahmung durch reformistische und staatliche Strukturen eine klassen­ unabhängige revolutionäre Perspektive entgegensetzen. Die Komitees, die in der Phase vor dem Schulstreik an Berliner Schulen und Unis entstanden sind, sind eine Grundlage, um die Jugend zu organisieren und für ein revolutionäres Programm zu gewinnen. H Gegen imperialistische Kriegseinsätze! Für einen sofortigen Stopp aller Waffenexporte! H Bedingungsloses Bleiberecht für alle Menschen! Für einen sofortigen Abschiebestopp! H Für ein Ende der Rüstungsforschung an Universitäten! Gegen Bundeswehrwerbung an Schulen! Für eine Bildung im Interesse aller Ausgebeuteten und Unterdrückten!

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„Für eine Offensive Linken in Europa!“ Was waren die Rahmenbedingungen eurer Konferenz Anfang Dezember? Daniela Cobet: An der Konferenz nahm die Mehrheit der Mitglieder der drei Organisationen der FT in Europa teil. […] Insgesamt nahmen fast 150 Menschen an dem Treffen teil. […] Das Treffen war für uns ein großer politischer, aber auch organisatorischer Erfolg, denn zu den normalen Schwierigkeiten, die diese Art Treffen bedeutet, kamen noch die Bedingungen des Ausnahmezustands hinzu, der von der französischen Regierung eingesetzt wurde: strenge Kontrollen an den Grenzen sowie Schwierigkeiten, im aktuellen Kontext der Repression und Beschneidung demokratischer Rechte einen Konferenzsaal zu finden. […] Am Samstag diskutierten wir über die internationale wirtschaftliche und politische Situation und am Sonntag über Fragen der Orientierung und des Aufbaus unserer Strömung. Zu welchen Schlussfolgerungen kamt ihr in Bezug auf die Situation der Weltwirtschaft? Juan Chingo: […] In den letzten Monaten sind wir in eine dritte Phase der Krise eingetreten, die die sogenannten „Schwellenländer“ trifft. So ist Brasilien heute wahrscheinlich das schwächste Glied des weltweiten Kapitalismus: Das Land kombiniert den größten wirtschaftlichen Fall seit den 1930er Jahren, die Gefahr von Rezession und eine politische Krise, die aktuell im Amtsenthebungsverfahren gegen die Präsidentin Dilma Roussef kulminiert. […] Das Interessante an all dem ist, dass die wichtigsten Länder der kapitalistischen Peripherie, die als Gegentendenz zur Krise von 2007/8 gewirkt hatten, nun zu den Zyklen der Instabilität zurückkehren, die für sie charakteristisch sind. Das erzeugt starke Bewegungen des Klassenkampfes. Die Politik der wirtschaftlichen Verlagerung in die Schwellenländer wird daher nicht nur auf wirtschaftliche Grenzen treffen, sondern auch auf den Klassenkampf. Das kann indirekt auch zur Rekomposition der Arbeiter*innenklasse in den zentralen Ländern führen. […] Wie schätzt ihr die politische Situation in Europa ein? Santiago Lupe: Zuerst definierten wir, dass der Kontinent von multiplen Krisen durchzogen ist. Heute ist die dynamischste Krise die geopolitische. Die Krise im Mittleren Osten […] ist in Form der sogenannten „Flüchtlingskrise“ und verstörender Phänomene wie dem IS-Terrorismus nach Europa gekommen. Diese Situation verstärkt in erster Linie xenophobe und rechtsextreme Tendenzen. Gleichzeitig befindet sich der Neoreformismus auf einem klaren Rückzug, nachdem Syriza in Griechenland vor der Troika kapitulierte. […] In der Europäischen Union gewinnen die politischen Pro-

jekte der „Rückkehr“ zum Nationalstaat und den nationalen Grenzen an Gewicht. Es handelt sich um einen reaktionären Rahmen mit Tendenzen zur Bonapartisierung, der aber wiederum sehr prekäre Fundamente hat. Einerseits bleiben die wirtschaftliche Krise und die Krise der EU selbst weiterhin offen. […] Auf der anderen Seite ist die Arbeiter*innenklasse und die europäische Jugend nicht völlig niedergeschlagen worden, trotz der passivisierenden Rolle der Gewerkschaftsbürokratie und der neuen reformistischen Vermittlungsinstanzen. […] Deshalb eröffnet die neue Situation im gleichen Atemzug eine Möglichkeit, um sowohl den reaktionären Charakter der EU und ihrer Regierungen bloßzustellen als auch die Unfähigkeit des neuen Reformismus aufzuzeigen. […] Stefan Schneider: In der Diskussion war die Frage der Verschärfung der rassistischen und xenophoben Politik gegen Migrant*innen und Geflüchtete sehr wichtig. Die Politik der verschiedenen Regierungen nähert sich immer mehr den Vorschlägen der Parteien der populistischen und extremen Rechten an. Das hat sich nach den Attentaten in Paris vom 13. November und der Reaktion der Hollande-Regierung nochmal verschärft. […] Angesichts dieser Offensive haben wir diskutiert, dass die radikale Linke sich an die Spitze des Kampfes für eine Bewegung stellen muss, die den Kampf gegen den Krieg, gegen die Beschneidung demokratischer Rechte […] und den Kampf für die Rechte der Migrant*innen und der Arbeiter*innen vereint. […] Nur eine Politik, die die Fahne des proletarischen Internationalismus wieder aufnimmt, kann die Reihen der Arbeiter*innenklasse vereinen, um gemeinsam zu kämpfen, ob „einheimisch“ oder „ausländisch“. Auf diesem Gebiet geht die reformistische Linke ebenfalls den Bach runter. […] Wie verlief die Diskussion über die Orientierung am Sonntag? Stefan Schneider: Die Diskussion über Orientierung zeigte die Fortschritte der FT in Europa. […] Auch wenn es noch sehr junge Gruppen mit sehr vielen jungen Mitgliedern sind, wollen wir uns beharrlich in der Arbeiter*innenklasse aufbauen. Seitens der Studierendenbewegung und der Jugend haben wir wichtige Anstrengungen unternommen, wichtige Streiks zu unterstützen und Solidarität zu organisieren. […] Das hat uns erlaubt, in relativ kurzer Zeit erste Schritte der Arbeit in der Arbeiter*innenbewegung zu machen und mit kämpferischen Sektoren aller drei Länder Beziehungen zu knüpfen. Das war bei dem Treffen selbst präsent. Einer der Beiträge, die wir für unseren revolutionären Aktivismus in der Arbeiter*innenbewegung am Wertvollsten halten, ist, dass wir in jedem Kampf, an dem wir teilnehmen, für einen proletarischen Internationalismus eintreten. […]


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der revolutionären Am 5.-6. Dezember fand in Paris eine europäische Konferenz der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale statt. Ein Interview mit Santiago Lupe aus dem Spanischen Staat, Juan Chingo und Daniela Cobet aus Frankreich, und Stefan Schneider aus Deutschland.

Die aktuelle Situation sorgt dafür, dass diese Orientierung noch wichtiger wird. Wir leben in einem Moment, wo die Arbeiter*innenklasse des Kontinents in ihrer Zusammensetzung immer internationaler wird. Die verschiedenen Regierungen versuchen, die internen Spaltungen rassistisch und fremdenfeindlich zu vertiefen. Wir glauben, dass der Kampf für einen starken Internationalismus der Arbeiter*innen im Klassenkampf das beste Instrument ist, um genau das zu bekämpfen. Santiago Lupe: […] Die aktuelle reaktionäre Situation wurzelt in zwei zentralen Elementen. Einerseits kommen wir aus der Niederlage des „Arabischen Frühlings“, eines tiefgründigen Klassenkampfprozesses, der trotz seiner Resultate all diejenigen Lügen gestraft hat, die die Epoche der Revolutionen für beendet erklärt hatten. Und gleichzeitig hat dieser Prozess die Notwendigkeit bestätigt, dass die Arbeiter*innenklasse eine hegemoniale Rolle erobern muss, um die Umlenkungen und konterrevolutionären Auswege bei zukünftigen Aufstiegen des Klassenkampfes zu vermeiden. Das gleiche gilt für die Aktualität des Kampfes für den Aufbau revolutionärer Arbeiter*innenparteien. Auf der anderen Seite steht das Express-Scheitern des neuen Reformismus, der sich in einem Rekordtempo in den Anwender der Sparmaßnahmen in Griechenland und in ein Projekt der offenen bürgerlichen Regeneration des politischen Regimes im Spanischen Staat verwandelt hat. Immer mehr Menschen machen oder haben schon eine Erfahrung mit diesen politischen Projekten gemacht. […] Wir können demgegenüber Tausenden von Jugendlichen und Arbeiter*innen sagen: Wenn sie sich nicht mit der Alternativlosigkeit von Tsipras abfinden wollen; wenn sie nicht wollen, dass sie oder jemand der ihrigen in den Kriegen stirbt; wenn sie nicht erleben wollen, wie in Europa die demokratischen Rechte liquidiert werden und wie die demokratischen Forderungen, die sich in den letzten Jahren auf der Straße ausgedrückt haben, wieder in der Schublade verschwinden… dann ist es unumgänglich, den Weg der sozialen Mobilisierung mit der Arbeiter*innenklasse an der Spitze wieder aufzunehmen, damit diese bis zum Ende für

all die demokratischen Forderungen und für ein Programm kämpft, damit die Kapitalist*innen die Krise bezahlen. Ein Programm, welches als dringende Aufgabe die Beendigung der kriegerischen Offensive erhebt und welches dazu dient, revolutionäre und internationalistische Parteien der Arbeiter*innen zu schaffen, um gegen die kapitalistischen Regierungen und die Festung Europa zu kämpfen. Juan Chingo: […] Wir glauben, dass der Marxismus mit strategischer Perspektive in die Offensive gehen muss: das fehlt schrecklich in Europa. Wir müssen zeigen, dass es einen anderen Weg gibt als die Politik der Resignation der Mehrheit der radikalen Linken. […] Wir wissen, dass unsere Alternative schwierig durchzusetzen ist, weil es um Jahre der Anpassung und der falschen Logiken geht, die überwunden werden müssen. Aber das ist eine Aufgabe, die uns begeistert, denn es ist die einzige Art und Weise, eine revolutionäre Bewegung mit organischem Gewicht in der Arbeiter*innenklasse und der Jugend aufzubauen, die eine Alternative zur Politik der extremen Rechten sein kann. Gleiches gilt für die Geschlechterfrage, die wir auch bei der Konferenz diskutiert haben. Während wir mit dem postmodernen Feminismus debattieren, der in Europa sehr stark ist, dürfen wir nicht dabei stehen bleiben, sondern müssen darin voranschreiten, Arbeiterinnen und junge Frauen zu organisieren, wie es unsere internationale Strömung in Argentinien, Brasilien und auch im Spanischen Staat mit der Frauengruppierung Pan y Rosas schon tut. […] Eine Kraft, die nicht kapituliert, kann eine andere Dynamik in der europäischen radikalen Linken eröffnen. Als ein erster Schritt in dieser Richtung beschlossen wir, zum Aufbau einer Bewegung der Internationalist*innen gegen das Europa des Kapitals und seiner dekadenten Grenzen, gegen die Xenophobie und die falschen Auswege wie den „Plan B“ aufzurufen. orientieren.[…] Das Interview gibt es in voller Länge online. Alle Debatten von der FT-Konferenz auf: www.klassegegenklasse.org/tag/konferenz-ft-europa/

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Kriegsplan SÜDAMERIKA: 2015 endet mit großen politischen Fortschritten für die Rechte in Südamerika. Die politische Landschaft verändert sich stark. Das „Ende des Zyklus“ führt zu einer Auflösung der relativen Hegemonie der „progressiven“ Kräfte. Dies findet statt im Rahmen wirtschaftlicher Stagnation der Region und der politischen Offensive von Seiten von Washington, um verlorenes Terrain in der Region zurückzuerobern.

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V O N E D U A R D O M OL INA

n Argentinien führt die „Regierung der Bosse“ von Mauricio Macri die ersten Kürzungsmaßnahmen durch. In Brasilien stärkt sich die Rechte durch die Krise der Regierung der Arbeiterpartei (PT). Sie ist durch ihre arbeiter*innenfeindlichen Maßnahmen, die Korruptionsskandale und die vom Impeachment (Amtsenthebungsverfahren) bedrohte Präsidentin Dilma Rousseff geschwächt. In Venezuela konnte die reaktionäre Opposition einen noch nie da gewesenen Wahlsieg einfahren: Sie gewann die Zwei-Drittel-Mehrheit der Nationalversammlung, was die Regierung von Nicolás Maduro inmitten einer tiefen wirtschaftlichen und politischen Krise schwächt. Diese Phänomene sind der Höhepunkt eines politischen Rechtsrucks, der sich im Laufe des Jahres immer deutlicher ab-

zeichnete. Einige Meilensteine dieser Entwicklung war die positive Aufnahme des „neuen interamerikanischen Dialogs“, der von Obama auf dem Amerika-Gipfel in Panama vorgestellt wurde; die „Eisschmelze“ zwischen Kuba und den USA, die von letzteren dazu benutzt wird, um den Prozess der kapitalistischen Restauration voranzutreiben; der „Friedens“prozess in Kolumbien, der sich hin zu einer „verhandelten Kapitulation“ der Guerrilla entwickelt. Die politische Landschaft in Südamerika verändert sich stark. Das „Ende des Zyklus“ führt zu einer Auflösung der relativen Hegemonie der „progressiven“ Kräfte. Dies findet statt im Rahmen wirtschaftlicher Stagnation der Region und einer politischen Offensive aus Washington, um verlorenes Terrain in der Region zurückzuerobern. Es gibt keine Zweifel daran, dass der Imperialismus und die lokalen Bourgeoisien diese Fortschritte in der kommenden Periode ausweiten wollen. Die progressiven Regierungen waren und sind Teil dieser Wende. Sie sind für Sparmaßnahmen, Entwertung und Inflation verantwortlich. Das senkt die Löhne und verschärft die Probleme im Bildungs- und Gesundheitssystem, des Verkehrs und des Wohnraums. Die Kämpfe der Arbeiter*innen und Massen beantworteten sie mit Repression. Gleichzeitig übernahmen sie einen Teil der reaktionären Agenda, wie das Thema der „Sicherheit“. Sie zahlten weiter die Auslandsschulden und hielten die Freiräume für die großen Unternehmensgruppen und die Konzerne aufrecht. Ein weiteres wichtiges Element ist der „personalisierte“ Stil ihrer Herrschaft (marxistisch ausgedrückt ihre bonapartistischen Züge), der Teile der Bevölkerung verärgerte, was den Unmut über die wirtschaftliche Situation verstärkte. So haben sie selbst dem Konservatismus den Weg bereitet. Nebenbei gaben sie einer sich „erneuert“ gebenden Rechten so die Möglichkeit, sich als „Wandel“, als Kraft „gegen die Korruption“ und sogar „für die Demokratie“ darzustellen. Die gescheiterte Hoffnung des Kirchnerismus in Argentinien auf den Mitte-Rechts-Kandidat Daniel Scioli, der in seiner Kampagne viel von „Sicherheit“ sprach und einen eigenen „schrittweisen“ Sparplan hatte, machte es für Macri leichter. Inzwischen sind die Kirchnerist*innen sogar schon bereit, Macris „Regierungsfähigkeit“ zu sichern, damit er sein Programm durchsetzen kann. Die arbeiter*innenfeindlichen Maßnahmen der Dilma-Regierung machten


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der Rechten der brasilianischen Opposition Lust auf mehr. In Venezuela hatte Maduro zwar einen Diskurs des „wirtschaftlichen Kriegs“, doch in Wirklichkeit hat er keine einzige Maßnahme gegen die Kapitalist*innen durchgeführt. Dadurch konnte die oppositionelle Demagogie leichter in Sektoren der Massen Fuß fassen.

Erschöpfung des „Progressismus“

Die Weltwirtschaftskrise hat die Jahre des Wachstums beendet und damit die wirkliche Bilanz des „gewonnenen Jahrzehnts“ (wie es die ehemalige argentinische Präsidentin Cristina Kirchner nannte) offengelegt: Der gesamte Ballast und die Widersprüche des abhängigen lateinamerikanischen Kapitalismus kommen ans Licht und keine progressistische Erzählung kann das rechtfertigen. Die post-neoliberalen Regierungen kamen als Ergebnis politischer Krisen und Massenerhebungen an die Macht, die neoliberale Präsidenten wie De la Rúa in Argentinien oder Sánchez de Losada in Bolivien stürzten. Mit einigen Zugeständnissen konnten sie die Mobilisierungen von der Straße verbannen. Was sie beibehielten, war die Macht der Unternehmer*innen und der Landbesitzer*innen, die neoliberalen Privatisierungen (bis auf einige Ausnahmen) und die starke Prekarisierung. Zudem verstärkten sie noch das Wirtschaftsmodell des Rohstoffexports und die damit einhergehende Abhängigkeit vom ausländischen Kapital. Mit dem Schrumpfen der Gewinne aus dem Export von Soja, Minenerzeugnissen und dem Öl erschöpfte sich auch die Möglichkeit, zwischen den Klassen zu verhandeln, also gleichzeitig soziale Maßnahmen der Mäßigung und gute Rahmenbedingungen für die kapitalistischen Geschäfte zu haben. Die Entwicklung der Krise führte die „progressiven“ Regierungen dazu, sie auf Kosten der Löhne, der Arbeitsplätze, der Lebensbedingungen der Massen und vieler berechtigter Hoffnungen zu bezahlen. Jetzt wollen die Kapitalist*innen, die sich in den Jahren des Wachstums bereicherten, jedoch zu dem Regierungspersonal ihres Vertrauens zurückkehren, ohne die „progressiven“ Kosten der Mäßigung der Massenbewegung.

Ein „Kriegsplan“, der bekämpft werden muss Die „neue Rechte“ spielt mit Vorurteilen und Demagogie, um die Stimmen der Massen bekommen. Sie hat die Unterstützung der großen Medien und des bürgerlichen Konsens‘. Vor allem zieht sie Profit aus dem Unmut gegenüber den aktuellen Regierungen. Doch es wird sich noch zeigen, ob sie die Wahlerfolge nutzen können, um ein neues Kräfteverhältnis zu erschaffen, mit dem sie ihr reaktionäres Programm durchbringen können. Dieses besteht aus der Erhöhung der Ausbeutung der Arbeiter*innen, der „Senkung der Kosten“ und der „Konkurrenzfähigkeit“ auf Kosten der breiten Bevölkerung, der Beschneidung demokratischer Rechte, sowie der Bevorzugung der Landbesitzer*innen und stärkerer Unterwerfung unter das imperialistische Kapital. Doch im Rahmen der großen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Widersprüche könnten sie letztendlich die Polarisierung

überreizen und einen neuen Widerstand der Arbeiter*innen und Massen erwecken. Es ist möglich, dass große Schlachten des Klassenkampfes ausbrechen. Im Gegensatz zu den 90er Jahren trifft die konservative Welle auf eine Arbeiter*innenklasse, die vor allem im Süden Lateinamerikas Kräfte sammeln konnte und nicht bereit ist, die Löhne, Arbeitsplätze und ihre berechtigten Hoffnungen kampflos abzugeben. Die Vertreter*innen des Progressismus haben schon zu oft im Namen des „kleineren Übels“ den Rechtskurs ihrer Regierungen verteidigt. Wenn sie in die Opposition gezwungen werden, wie in Argentinien, finden sie sich mit der Rolle der „verantwortungsvollen Opposition“ im Regime zurecht. Ihre versöhnliche politische Strategie und ihre Verbindungen mit der Gewerkschaftsbürokratie in jedem Land haben der Arbeiter*innen- und Massenbewegung nichts anzubieten. Der Widerstand braucht geeignete Kampfmethoden und ein Programm, damit die Kapitalist*innen die Krise bezahlen und um mit dem Imperialismus zu brechen. Dafür müssen die Arbeiter*innen unabhängig von den Parteien der Rechten, aber auch von den „fortschrittlichen“ Parteien, sein. Eine kritische Bilanz der „post-neoliberalen“ Erfahrungen ist notwendig. Die Regierungen von Chávez, Evo, Lula, Kirchner und ihrer Nachfolger*innen brachten nicht die versprochene „echte Demokratisierung“ oder die „Industrialisierung“. Es gab keine echten Agrarreformen oder eine lateinamerikanische Einheit, die über den Diskurs hinausging. Durch ihren Klassencharakter und ihr sehr begrenztes Reformprogramm konnten sie nicht darüber hinaus gehen und setzten auch nicht auf die Massenmobilisierung. So wurden alte Lehren der lateinamerikanischen Geschichte bestätigt. Weder der Peronismus noch andere nationalistische und reformistische Projekte konnten die wirkliche nationale und soziale Befreiung erreichen. Sie führten immer zu Enttäuschungen, wenn nicht gar zu harten Niederlagen. Das ist ein weiterer wichtiger Grund, um für den Aufbau einer politisch unabhängigen Organisation der Arbeiter*innen zu kämpfen, um einen Ausweg aus der kapitalistischen Krise im Interesse der arbeitenden Bevölkerung zu erreichen. Nur die Kraft der Arbeiter*innen im Verbund mit den unterdrückten Sektoren der Städte und des Landes kann mit ihrer Mobilisierung den sozialen Krieg bekämpfen, der von der Bourgeoisie und dem Imperialismus in ganz Lateinamerika vorangetrieben wird. Wenn sich die Arbeiter*innen von Argentinien und Brasilien verbünden würden, würde sich die Situation sehr schnell verändern. Deshalb muss der Antiimperialismus und die Einheit der Arbeiter*innen Lateinamerikas – zusammen mit dem Kampf für eine politisch unabhängige Organisation der Arbeiter*innenklasse – Teil des Programms sein. In den harten Kämpfen, die auf uns warten, stellen sich neue Herausforderungen und Möglichkeiten für den Aufbau einer sozialistischen Linken der Arbeiter*innen in Lateinamerika und weltweit. 21. Dezember 2015

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Ausgeträumt? FÜNF JAHRE ARABISCHER FRÜHLING: Am 17. Dezember 2010 setzte sich der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi im tunesischen Sidi Bouzid selbst in Brand. Es war der Auftakt einer Welle von Umstürzen im arabischen Raum. Fünf Jahre später versinkt die Region in Chaos und Gewalt. Ist der Traum von Freiheit und Gerechtigkeit endgültig geplatzt?

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VON MARIUS MAIER

ie Kleinstadt Sidi Bouzid liegt abgelegen im Zentrum Tunesiens. 100 Kilometer sind es zum Meer. 200 Kilometer zur Hauptstadt Tunis. 40.000 Menschen gehen hier täglich ihren Angelegenheiten nach. Es ist eine landwirtschaftliche Region, geprägt durch den Olivenanbau. Vor fünf Jahren wurde jedoch in diesem unscheinbaren Provinznest eine tragische Geschichte geschrieben, deren Wirkung die arabische Welt nachhaltig erschüttern sollte: Die Selbstverbrennung des 26-jährigen Mohamed Bouazizi. Nach dem frühen Tod seines Vaters versuchte Bouazizi sich und seine Familie mit fünf Geschwistern als Gemüsehändler zu ernähren. Doch immer wieder drangsalierte ihn die Polizei, beschlagnahmte seine Waren und forderte von ihm Bußgelder wegen fehlender Papiere. So auch am 17. Dezember 2010: Eine Polizistin forderte ihn auf, das Gemüse und seine Waage herauszurücken. Als Bouazizi sich weigerte, wurde er geschlagen und zu Boden geworfen; seine Sachen wurden mitgenommen. Brüskiert ging er zur Stadtverwaltung, mit der Forderung die Verantwortlichen zu sprechen. Doch wie gewöhnlich ließen die Zuständigen verlauten, sie seien gerade beschäftigt. Es ist ein Gefühl, das eine ganze Generation junger Tunesier*innen kennt: Trotz guter Ausbildung keine Zukunft, von hohen Lebenshaltungskosten erdrückt und ständig schikaniert von Behörden und Polizei. Doch die schiere Verzweiflung über die andauernden Demütigungen und die Perspektivlosigkeit brachte an diesem Tag das Fass bei Bouazizi zum Überlaufen: Er holte sich einen Kanister Benzin und übergoss sich damit vor der Stadtverwaltung. Der kleine Funke seines Feuerzeuges setzte zunächst ihn selbst und in wenigen Monaten die ganze arabische Welt in Brand.

Die Ausbreitung der Unruhen

Die Nachricht der schrecklichen Tat verbreitete sich rasend schnell: Noch am selben Tag gingen hunderte Jugendliche in der kleinen Stadt auf die Straße. In den nächsten Tagen verabredeten sich die Menschen spontan per Facebook, Twitter und Co. zu neuen Protesten, die sich bald auf das ganze Land ausweiteten. In westlichen Medien wurde daher der Begriff der Facebook-Revolution geprägt. Doch diese Bezeichnung ignoriert die Ursachen der Bewegung: In Folge von Dürren und der Weltwirtschaftskrise verdoppelte sich der Weltmarktpreis von Getreide im Zeitraum vom Juni 2010 zum Januar 2011. In Zusammenspiel mit der Arbeits- und Perspektivlosigkeit und den fehlenden demokratischen Freiheiten sorgten die hohen Lebensmittelpreise für den sozialen Zündstoff, der auch das Leben von Mohamed Bouazizi nach zweieinhalb Wochen im Koma am 4. Januar 2011 so tragisch beendete.

Viel zu lange waren die Menschen in Tunesien in Ketten gehalten worden. Doch nun wurde ihr Mut stärker als die Resignation und die Angst vor den Schergen des Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali. Das Anrollen des Repressionsapparates hielt die Menschen nicht auf. Anfang Januar bekamen die Proteste Massencharakter. Es kam landesweit zu Angriffen auf Polizeigebäude und öffentliche Einrichtungen, während die Polizei mit scharfer Munition in Demonstrationen schoss. Am 10. Januar rief die Einheitsgewerkschaft Union Générale Tunisienne du Travail zum Generalstreik auf. Öffentlich bezeichnete Ben Ali die Protestierenden als Terroristen und Kriminelle. Was er verschwieg: Dass er selbst bereits seine Flucht vorbereitete, bei der er mehr als 20 Milliarden Dollar außer Landes schaffte. Am 14. Januar wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. Noch in der selben Nacht verließ Ben Ali Tunesien in Richtung Saudi-Arabien. Zu diesem Zeitpunkt waren 78 Zivilist*innen von der Polizei getötet worden. Die Wucht der Massenproteste hatte Ben Ali auf dem falschen Fuß erwischt. Trotz seines umfangreichen Repressionsapparates konnte er sein über mehr als zwei Jahrzehnte aufgebautes kleptokratisches System nicht länger halten. Da halfen ihm auch seine guten Beziehungen nach Frankreich nichts.

Der arabische Frühling

Von dieser heldenhaften Leistung ermutigt, begehrten bald auch die Menschen in anderen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens auf: Für soziale Gerechtigkeit und demokratische Freiheiten! Weg mit den verhassten Diktatoren und Häschern! Hinfort mit all dem Pack, das ihnen täglich die Luft zum Atmen nahm! Nach so vielen Jahren der Angst, des Sich-Wegduckens und des Leidens wehte von heute auf morgen der Geist der Revolution durch die Straßen von Tunis, Kairo, Benghazi oder Sanaa. Im Laufe des Januars und Februars 2011 füllten Millionen von Menschen die Plätze der großen Städte nahezu jedes arabischen Landes. In Ägypten kam es am 25. Januar zu den ersten Massenprotesten. Verschiedenste Oppositionsgruppen hatten zum „Tag der Revolte gegen Folter, Armut, Korruption und Arbeitslosigkeit“ aufgerufen. Dies ausgerechnet am „Festtag der Polizei“! Für die staatlichen Schläger*innen gab es aber nichts zu feiern: 30.000 Uniformierte versuchten die Demonstration auseinanderzutreiben, mussten sich aber vor der schieren Masse und Entschlossenheit der zehntausenden Demonstrant*innen zurückziehen. In den folgenden Tagen eskalierte die Situation zunehmend: Dutzende Menschen starben bei Protesten und die Armee zeigte sich überall im öffentlichen Raum. Der Tahrir-Platz im Zentrum Kairo wurde besetzt und gegen Schlägertrupps von Mubarak verteidigt, die teilweise auf Kamelen reitend in die Menge prügelten. In der vordersten Reihe auf Seiten der Revolution: Frauen, die fast die Hälfte der Demonstrant*innen ausmachten. Sie waren es,


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Vom arabischen Frühling in den blutigen Herbst… die gerade in Ägypten den patriarchalischen Strukturen trotzten und auf dem Tahrir-Platz zu gleichberechtigten Kämpferinnen wurden. Schon in den Jahren zuvor hatten die Frauen in Arbeitskämpfen Stärke gezeigt. Seit 2006 gab es bereits Streiks und Fabrikbesetzungen in den großen Zentren der Textilindustrie wie El-Mahalla im Nildelta. Dort stellen Frauen einen großen Teil der Arbeitskräfte, die von den westlichen Firmen besonders schlecht bezahlt werden. Auch seit der Revolution 2011 machten die ägyptischen Arbeiter*innen wieder besonders auf sich aufmerksam: Landesweite Streiks wichtiger Sektoren wie dem Bildungs- und Gesundheitswesen, der Textilproduktion, dem Verkehr und den Häfen ließen immer wieder die Bourgeoisie erzittern. Während die alte korrupte und staatsnahe Gewerkschaft zusehends an Einfluss verlor, konnte sich in den Kämpfen eine neue „Föderation der Unabhängigen Gewerkschaften Ägyptens“ bilden, mit über zwei Millionen Mitgliedern. Es war auch der Verdienst dieser kämpferischen Frauen- und Arbeiter*innenbewegung, dass Mubarak am 11. Februar 2011 zum Abdanken gezwungen wurde. Hunderte ließen in Kämpfen um den Tahrir-Platz ihr Leben. Doch nach Tunesien war es innerhalb weniger Wochen nun zum zweiten Mal gelungen, einen Diktator zu stürzen. Und wieder konnten seine Freund*innen, diesmal in Washington, ihm nicht helfen. Doch wie in Tunesien stellte sich nach seinem Fall die Frage, wie es weiter gehen sollte…

Das Blatt wendet sich

Der Sturz der beiden Diktatoren, der blutig, aber doch so schnell vonstatten ging, öffnete das Haifischbecken im Kampf um die Macht. In Tunesien bildete sich eine Übergangsregierung der „nationalen Einheit“. Auch wenn der Präsident verjagt worden war, so blieben damit doch noch die alten Eliten an den Schaltstellen. Folglich gingen die Proteste weiter, um Ben Alis Kumpanen aus der Regierung zu vertreiben. Hier zeigten sich jedoch die Grenzen der Bewegung: Es wurden in den Betrieben keine Rätestrukturen gebildet, die unter revolutionärer Führung einen eigenständigen Weg der Arbeiter*innenklasse hätten einschlagen können. Stattdessen folgte die Unterordnung der Bewegung unter bürgerliche Kräfte: Bei den Neuwahlen im Herbst 2011 gewann die islamistische Ennahda-Partei. Es folgte eine Periode der politischen und wirtschaftlichen Instabilität. Die Abhängigkeit vom französischen Imperialismus blieb und so der Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen der tunesischen Arbeiter*innen, immer mittels der Drohung, Investitionen zu entziehen. Beim Sturz des alten Regimes spielten die Arbeiter*innen mit ihren Streiks eine zentrale Rolle. Doch im neuen System wurden sie in den Wahlen passiviert. Die Führung der Gewerkschaftsbewegung unterstützte diesen Prozess, da sie in Verhandlungen mit den Vertreter*innen des neuen Regimes ihre Privilegien sichern wollten. So trat die Gewerkschaft UGTT als Vermittlerin zwischen Regierungspartei und Oppositionspartei auf, um im Februar 2013


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einen nationalen Dialog einzuleiten. Dadurch bilden mittlerweile bürgerlich-laizistische Parteien zusammen mit alten Eliten und gemäßigten islamistischen Kräften die Regierung. Stück für Stück verkaufen sie die ohnehin geringen demokratischen Errungenschaften der Revolution, sichern ehemaligen Funktionär*innen des Ben Ali-Regimes Straffreiheit zu und beschließen polizeistaatliche Maßnahmen. In Ägypten übernahmen nach Mubarak die Generäle die Macht. Als die Truppen vor dessen Sturz die öffentlichen Plätze besetzt hatten, skandierte die Menge noch „Die Armee und das Volk sind vereint“. Doch der neu gebildete Militärrat mit dem vorsitzenden Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi hatte eigene Pläne und hielt entgegen seiner Zusagen den 30 Jahre andauernden Notstand aufrecht. Auch hier fehlte eine revolutionäre Kraft, die die Illusionen der Massen in das Militär hätte brechen können. Bei den folgenden Wahlen gewann ähnlich wie in Tunesien die islamistische Muslimbruderschaft mit Mohammed Mursi an der Spitze. Doch sie war nicht in der Lage die sozialen Fragen zu lösen. Stattdessen setzte sie Sparvorlagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) um und strich Subventionen von Benzin und grundlegenden Gütern. Das Wiederaufflammen der Massenproteste im Juni 2013 nutzte die Armee für einen Putsch, unter Wohlwollen von Deutschland, der EU und insbesondere der USA. In der Folgezeit veranstaltete das Militär ein Massaker mit über 1.000 Toten bei der Räumung eines Protestlagers der Muslimbruderschaft. Das jetzige Regime steht damit dem alten Mubarak-Clan an Bestialität in nichts nach. Vom Sturz der Amtskollegen in seinen Nachbarstaaten sichtlich beeindruckt, fackelte der libysche Machthaber Muammar al-Gaddafi nicht lange, als bei ihm die Proteste im Februar 2011 Massencharakter annahmen. Kurzerhand heuerte er bewaffnete Söldnerbanden an, rückte mit Panzern vor und versuchte die Revolte in Blut zu ertränken. Schnell entwickelte sich ein Bürger*innenkrieg, bei dem sich Teile der alten Eliten den Aufständischen anschlossen. Der kurze Traum von Freiheit und Gerechtigkeit stieß erstmals auf eine schier unüberwindbare Gegenwehr. Zu stark war Gaddafi, der das Gemetzel jeglichen Zugeständnissen vorzog. Doch dies rief die Militärstrateg*innen in Washington, Paris und London auf den Plan: Gaddafi war tendenziell pro-russisch gewesen. Der Westen hatte sich zwar mit ihm arrangiert, eine große Liebe war es hingegen nie. Mit Ausbruch des bewaffneten Machtkampfes gab es nun für Frankreich, Großbritannien und die USA die Möglichkeit, ihn loszuwerden, die libyschen Erdölreserven unter Kontrolle zu bringen und ihre geostrategische Position in Nordafrika zu verbessern. Medial wurden die folgenden Luftschläge als Unterstützung der Demokratiebewegung verkauft.

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Tatsächlich wurde Gaddafi gefasst und getötet, doch konnte die Protestbewegung ihre Unabhängigkeit nicht bewahren. In seinem Regime waren die Arbeiter*innenorganisationen organisch an den Staat gebunden. Gaddafi hielt diese Verbindung mit Sozialprogrammen aufrecht, die jedoch durch die verstärkte Korruption der Bürokratie und die Wirtschaftskrise geschwächt wurde. Da es den Arbeiter*innen aber nicht rechtzeitig gelang, wie in Ägypten eine kollektive, unabhängige Gewerkschaftsbewegung aufzubauen, war es ihnen fast nicht möglich, zu Beginn der Massendemonstrationen organisiert auf die Straßen zu gehen. Dadurch gewannen stattdessen abtrünnige Offiziere, lokale Banden und Stammesclans an Einfluss. Die rasche Militarisierung des Konflikts und die Unterstützung der NATO spielten ihnen in die Hände. Bis heute kämpfen rivalisierende Gruppen um die Vorherrschaft, eine Staatlichkeit existiert nur in Teilen des Landes.

Krieg in Syrien

Die Tendenzen zur Militarisierung des arabischen Frühlings, die sich in Libyen abzeichneten, setzten sich in weiteren Ländern fort: Saudi-Arabien half seinem Nachbarstaat Bahrein, die dortige Protestbewegung blutig niederzuschlagen. Der deutsche Imperialismus, der offiziell die Demokratiebewegung weiterhin begrüßte, erkannte die Brisanz der Lage: Im Juni 2011 plante die Bundesregierung den Verkauf von 200 Leopard-Kampfpanzern nach Saudi-Arabien, zur „Sicherung der Stabilität“ in der Region. Wozu so etwas führt, wurde in Syrien klar: Im März 2011 hatten dort Teenager eine beliebte Parole der Demonstrationen in Tunesien, Ägypten und Libyen auf eine Häuserwand gesprayt: „Das Volk will den Sturz des Regimes!“ Der örtliche Polizeichef ließ sie verhaften und foltern. Den erzürnten Eltern soll er gesagt haben: „Geht nach Hause und macht neue Kinder.“ Die ersten Proteste flammten auf, ein unerhörter Vorgang im Geheimdienststaat Syrien. Wie in Libyen reagierte Machthaber Baschar al-Assad sofort mit Massakern: Er ließ gleich im ersten Monat hunderte Menschen in seine Folterkeller verschleppen und die Panzer auffahren. Bald bildete sich die Freie Syrische Armee (FSA) aus desertierten Militärs. Dem Schurken Assad war aber schwer beizukommen: Er hatte ein komplexes System aus Privilegien, Abhängigkeiten und Einschüchterungen aufgebaut, das nicht so leicht nachgab. Die FSA hatte hingegen kein Programm anzubieten, das die sozialen Bedürfnisse der Bevölkerung zufrieden stellen konnte. Militärisch unterlegen, bot sie zügig ihre Dienste den Kriegstreiber*innen in den USA, Europa und den Golfstaaten an. Es entwickelte sich ein Stellvertreter*innenkrieg: Assad wurde von Russland, der libanesischen Hisbollah und dem schiitischen Iran unterstützt. Ihr größter Rivale, Saudi-Arabien, sowie Katar, die Türkei und die westlichen Imperialismen unterstützen die FSA. Es ist nicht verwunderlich, dass die FSA der Bevölkerung keine Alternative bot – bei solchen Unterstützer*innen, die mit Sicherheit alles, nur nicht das Wohl des syrischen Volkes im Kopf hatten. In der Folge bildeten sich islamistische Gruppierungen, die mit Finanzierung vom Golf das übernahmen, wozu die FSA nicht willens oder in der Lage war: die grundlegende Versorgung mit Medikamenten und Lebensmitteln. Ebenfalls von Saudi-Arabien bewaffnet, begannen einige islamistische Milizen auf Abstand zur FSA zu gehen. Abtrünnige Offiziere Assads und Militärs aus dem 2003 gestürzten Regime von Saddam Hussein im Irak nutzten ihre Chance: Mit besonders radikalen islamistischen Parolen konnten sie sich als diejenigen stilisieren, die der jahrzehntelangen Zerstörung durch den Imperialismus Einhalt gebieten würden. Aus Teilen der dschihadistischen Gruppen ging der Islamische Staat (IS) hervor, der unter diesem Namen seit Mitte 2014 existiert. Aufgebaut auf Plünderungen, der Vertreibung ethnischer Minderheiten, Lösegelder-


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pressungen, der Finanzierung vom Golf und dem Verkauf von Öl errichteten sie eine äußerst lukrative Kriegswirtschaft. Damit konnten sie ihre Kämpfer deutlich besser bezahlen als etwa die FSA. So zogen sie die verarmte Landbevölkerung, Vagabunden und Geflüchtete an, die durch den Krieg alles verloren hatten. Gegründet in amerikanischen Folterkellern im Irak, griff der IS auch in Syrien alle fortschrittlichen Ansätze und verschiedene Ethnien und Glaubensrichtungen an. Medial zog der IS in Europa und den USA bereits durch das Abschneiden von Köpfen westlicher Journalist*innen die Aufmerksamkeit auf sich. Aktuell sind Millionen Menschen auf der Flucht und haben die Mauern Europas überwunden. Spätestens mit dem Terror von Paris ist der Krieg in Syrien endgültig in den Köpfen der Europäer*innen angekommen. Die Antwort des Imperialismus: Noch mehr Krieg! Während die europäischen Staaten die autoritären Regime der Türkei und Saudi-Arabiens hofieren, sind die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG und YPJ die einzigen Kräfte, die ernstzunehmende Erfolge gegen den IS erringen. Besonders der Kampf um Kobanê Ende 2014 war ein Wendepunkt für die Entwicklung der politischen Situation in Syrien: Die kurdischen Milizen kämpften heroisch an den Fronten, um den Vormarsch des IS zu verhindern. Weltweit gingen Millionen Menschen als Zeichen der Solidarität auf die Straßen. Monatelang berichteten die größten Zeitungen von diesem Kampf. Aber die kurdische Bewegung nutzte die Öffentlichkeit pragmatisch, um sich an der von den Imperialismen geführten „Allianz“ zu beteiligen. Ein Rechtskurs, der es den Imperialismen ermöglichte, sich als „Retter“ in der Region zu präsentieren. Nun versammeln sich die Feinde der Völker, um über die Zukunft der Region zu entscheiden. Wer die Nachkriegsordnung im Irak seit 2003 betrachtet und sich die skrupellosen Verbündeten der NATO in der Region anschaut, wird zu dem Schluss kommen müssen, dass mit dem Imperialismus vielleicht der IS weggebombt werden kann, keineswegs aber das Chaos und die Massaker in der Region.

Ein sozialistischer Ausweg

Es fragt sich also fünf Jahre nach Beginn des arabischen Frühlings, welchen Ausweg es aus den autoritären Wendungen und blutigen Bürger*innenkriegen geben kann. Der Imperialismus bietet keine Option: Er hat mit seiner über hundert Jahre andauernden Plünderung der Region und seinen jüngsten Kriegen in Afghanistan, dem Irak, Libyen und Syrien überhaupt erst die Bedingungen geschaffen, die eine derartig reaktionäre Entwicklung ermöglichten. Seine Bomben gegen den IS werden auch der kurdischen Bewegung nicht helfen, wenn diese dafür darauf verzichtet, die eigene Unabhängigkeit gegenüber dem Imperialismus herauszustellen. Den USA, Frankreich, Großbritannien und Co. geht es darum, die eigene Machtstellung in der Region zu verbessern. Eine solche Perspektive verspricht den Menschen in Nordafrika und dem Nahen Osten keine lebenswürdige Zukunft. Der Kampf gegen den IS und für demokratische Freiheiten kann nur mit einem sozialen Programm gewonnen werden. Das muss Forderungen beinhalten wie die Landverteilung an die Bauern*Bäuerinnen, die Verstaatlichung der Ölquellen unter Arbeiter*innenkontrolle, Arbeitsmöglichkeiten für alle und Senkung der Arbeitsstunden bei gleichem Lohn, die Kontrolle der Arbeiter*innen und Bäuer*innen über die Waffen, demokratische Rechte für ethnische und religiöse Minderheiten, die politische Beteiligung der Frauen, die Gleichheit der Arbeits- und Ausbildungsbedingungen, und den Rauswurf von imperialistischen Mächten aus der Region. Diese Forderungen können allerdings nur von einer revolutionären Partei der Arbeiter*innenklasse im Kampf um die Macht verwirklicht werden, d.h. durch die Zerstörung des bürgerlichen Staates und Gründung der Organe der

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Arbeiter*innen und Unterdrückten. Das ist die strategische Lehre aus dem Scheitern des arabischen Frühlings. Der arabische Frühling hat demonstriert, in welch unglaublicher Geschwindigkeit jahrzehntelang bestehende Regime fallen können. Er straft all diejenigen Lügen, die apologetisch behaupten, Revolutionen gehörten der Vergangenheit an. Es zeigte sich, dass die von ihren Diktatoren zutiefst eingeschüchterten und verängstigten Massen innerhalb kürzester Zeit enormes Selbstvertrauen und eine gewaltige Schlagkraft entwickeln können. Selbst nach Europa strahlten die Triumphe des arabischen Frühlings aus, als es in Griechenland und im Spanischen Staat Platzbesetzungen und Massenproteste gab. Doch der arabische Frühling hat schwere Niederlagen erlitten. Der wesentliche Grund hierfür war, dass es keine revolutionäre Partei gab, die mit der Frage der Aufhebung des Privateigentums in die Kämpfe interveniert hätte. So ordnete sich die Arbeiter*innenklasse auch in den Ländern, in denen sie stark auftrat (Tunesien und Ägypten), den bürgerlichen Führungen unter. Dabei hatte die Zersetzung der bürgerlichen Staaten durch die Streiks und Massendemonstrationen bereits begonnen. Doch die versöhnlerische Politik der Gewerkschaftsbürokratien und der Eingriff der imperialistischen Mächte im Verbund mit reaktionären Kräften hatten diesen Prozess unterbrochen. Um dies zu konfrontieren und aus den Streiks und Massenmobilisierungen heraus eigene Entscheidungsstrukturen zu entwickeln, wäre eine revolutionären Arbeiter*innenpartei notwendig gewesen. Doch die Gewerkschaftsbürokratie erwürgte die basisdemokratischen Ansätze aus eigenem Interesse. Das strahlte in der ganzen arabischen Region aus. Die Folge war, dass die Arbeiter*innenbewegung sich politisch nicht an die Spitze der Bewegung setzen konnte, obwohl sie es war, die die Massenbewegungen ins Rollen gebracht hatte. So blieben die sozialen Fragen unangetastet. Die Konzerne blieben in den Händen der nationalen Bourgeoisien und der imperialistischen Investor*innen. Aber auch die nationalen Bourgeoisien haben bewiesen, dass auf sie kein Verlass ist: Äußerst widerwillig machten sie Zugeständnisse, wie das Frauenwahlrecht in Saudi-Arabien, um gleichzeitig erzreaktionäre Einflüsse zu stärken, wie die der Dschihadist*innen in Syrien. Jegliche Demokratisierung schränken sie in ihrer persönlichen Bereicherung ein und beweisen ihre Zuverlässigkeit gegenüber dem Imperialismus. Die demokratischen Freiheiten können also nur zusammen mit sozialen Errungenschaften erkämpft werden. Der arabische Frühling hat eine blutige Wendung genommen und ging in den arabischen Herbst über. Die Situation ist insbesondere in Syrien, dem Irak, Libyen und dem Jemen verheerend; Länder, in denen das blanke Chaos und die rohe Gewalt herrschen. Doch der Stein, der vor fünf Jahren mit der Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi ins Rollen geriet, ist noch immer in Bewegung. Die kurdische Bewegung hätte das Potential, im Bündnis mit der türkischen Arbeiter*innenklasse große Siege gegen den türkischen Präsidenten Erdoğan und den IS zu erzielen. Die Bedingung dafür ist allerdings, den Weg der Vergesellschaftung der Betriebe zu gehen, was zugleich einen Bruch mit der eigenen Bourgeoisie und dem Imperialismus bedeutet. Ähnliches gilt für Ägypten und Tunesien: Auch wenn die Arbeiter*innenklasse keinen Systemwechsel erreichen konnte, wurde ihre Handlungsfähigkeit im Gegensatz zu Syrien von der staatlichen Repression und den reaktionären Kräften nicht komplett zerschlagen. Wenn es ihr gelingt, mit ihren bürgerlichen, reformistischen Führungen zu brechen und mit einer eigenen revolutionären Partei den Weg der sozialistischen Revolution zu begehen, kann dies eine Ausstrahlung weit über die nationalen Grenzen hinaus entwickeln. 22./23 Dez 2015

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Fast 100 Streik AMAZON: Im Frühjahr 2013 fand in Bad Hersfeld der weltweit erste Streik beim Online­ händler statt. Seitdem haben die Arbeiter*innen unschätzbare Erfahrungen gemacht und viele Teilerfolge errungen. Die Journalisten Jörn Boewe und Johannes Schulten legten nun eine Zwischenbilanz vor.

F Jörn Boewe und Johannes Schulten: Der lange Kampf der Amazon-Beschäftigen. Herausgegeben von der Rosa-Luxem­burgStiftung. Berlin 2015. Kostenlos. Erste Auflage vergriffen. Online: www.rosalux.de

V O N S TE FA N S CH N E I DE R

ast 100 Tage – so häufig wurde inzwischen bei Amazon in Deutschland gestreikt, entweder an einem Standort oder an mehreren gleichzeitig. Eine gewaltige Kampfbereitschaft der Kolleg*innen – ein Leuchtturm aller Amazon-Beschäftigten weltweit. Die Geschichte dieses langjährigen Organisierungsund Kampfprozesses zu schreiben, ist eine große Aufgabe. Jörn Boewe und Johannes Schulten vom Journalistenbüro work in progress haben es versucht. Im Dezember 2015 veröffentlichten sie im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Broschüre mit dem Titel „Der lange Kampf der Amazon-Beschäftigen“. Ihre Broschüre ist eine wertvolle Ressource für all diejenigen, die sich von Grund auf mit dem Amazon-Kampf beschäftigen wollen. Detailliert beschreiben sie einerseits die Funktionsweise von Amazon als tayloristische „Dienstleistungsfabrik“ (S. 8 ff.) und andererseits die Schritte zum Aufbau gewerkschaftlicher Gegenmacht: von den Anfängen der Organisierung, über die anti-gewerkschaftliche „Counter-Organizing“-Strategie von Amazon, bis hin zu strategischen Fragen, die im Tarifkampf bisher noch ungelöst sind. Fast drei Jahre Arbeitskampf an einigen Standorten sind ein Erfahrungsschatz, den wenige Kolleg*innen, ja selbst wenige hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionär*innen vorweisen können. Kaum eine Arbeitskampftaktik, die noch nicht zur Anwendung kam, kaum eine Reaktion der Bosse, die es noch nicht gab. Diese Erfahrungen auszuschöpfen und strategische Lektionen nicht nur für den Kampf bei Amazon zu ziehen, sondern für die Wiederherstellung des Bewusstseins der Arbeiter*innenklasse in Deutschland und international – um nichts weniger handelt es sich. Die Arbeiter*innen von Amazon sind prädestiniert für eine solche Aufgabe – nicht nur, weil Sieg oder Niederlage bei Amazon Auswirkungen auf Millionen Beschäftigte haben werden, sondern auch, weil bei Amazon Erfahrungen mit der Selbstorganisation der Beschäftigten gemacht werden, die anderswo kaum existieren. Welche Bilanz bieten Boewe und Schulten mit ihrer Broschüre für die kämpferischen Arbeiter*innen an?

Ein unbezwingbarer Gegner?

Lange Zeit galt Amazon als eine für Gewerkschaften undurchdringliche Festung. 2011 – zwölf Jahre nach Eröffnung des ersten deutschen Amazon-Versandzentrums in Bad Hersfeld und 17 Jahre nach der Gründung des Riesenkonzerns – gab es in Bad Hersfeld gerade einmal 79 Gewerkschaftsmitglieder. Als dort 2013 der weltweit erste Amazon-Streik stattfand, waren fast 1.000 der 3.400 Beschäftigten dort bei ver.di organisiert. Heute gibt es mehrere Tausend Mitglieder an allen Amazon-Standorten in Deutschland. Auch wenn diese bisher keinen Tarifvertrag erringen konnten, sind jedoch substantielle Lohnerhöhungen, ein – wenn auch „freiwilliges“ – Weihnachtsgeld, sowie unzählige Verbesserungen der Arbeitsbedingungen wie Pausenregelungen, Gesundheitsschutz und Ähnliches nicht ohne den Tarifstreit zu erklären. Boewe und Schulten beschreiben das zentrale Paradoxon des

Konfliktes bei Amazon folgendermaßen: Für solidarische BeobachterInnen stellt sich die Situation eigentümlich dar: Da ist auf der einen Seite der Eindruck eines nicht enden wollenden Konflikts, in dem die Streikbewegung Gefahr läuft, den Atem zu verlieren. Hat ver.di sich verkalkuliert? Den Gegner unterschätzt? Ist die Gewerkschaft überhastet und schlecht vorbereitet in den Konflikt gegangen? Einen völlig anderen Eindruck bekommt man allerdings vor Ort, in vielen Amazon-Versandzentren. Dort herrscht ein lebendiges gewerkschaftliches Leben, wie es häufig nicht einmal in den gewerkschaftlichen Hochburgen zu finden ist – und das trotz der widrigen Bedingungen, massiven Angriffe und Einschüchterungen. (S. 3) Dieses Einerseits-Andererseits bestimmt immer wieder den Ton der Analyse: Einerseits habe ver.di so viele Ressourcen in die Organisierung der Beschäftigten gesteckt und gehe so strategisch und systematisch vor wie keine andere Gewerkschaft (S. 25). Andererseits werden immer wieder die Schwierigkeiten hervorgehoben, die es in diesem Arbeitskampf gibt. Seien es die strukturellen Arbeitsmarktbedingungen oder die verschiedenartigen antigewerkschaftlichen Maßnahmen, die Amazon immer wieder aus dem Ärmel zieht. Die Broschüre macht viele Facetten dieser schwierigen Auseinandersetzung greifbar, ohne in einen Pessimismus über die Perspektiven des Kampfes zu verfallen. Sogar einige wichtige strategische Lektionen werden gezogen, denen wir uns größtenteils anschließen können. Dazu gehören die Notwendigkeit der Radikalisierung von Streikaktionen (unangekündigte Streiks aus dem laufenden Betrieb heraus, Blockaden und Behinderungen der Zu- und Abfahrtswege), die Schaffung von kollektiven Erfahrungen zur Konfrontation des Fabrikregimes, die internationale Dimension des Kampfes und die Notwendigkeit einer breiten gesellschaftlichen Kampagne, ohne die der Kampf nur schwer gewonnen werden kann.

Ehrenamtliche und Hauptamtliche

Gleichwohl bleibt bei Boewe und Schulten eine wichtige Leerstelle: ihr Verständnis von den Konflikten zwischen aktiven Kolleg*innen vor Ort und dem ver.di-Hauptamt. So geht der Blick auf den wichtigsten Widerspruch des Amazon-Kampfes verloren – ein Widerspruch, der sich auch bei anderen Streiks wie beim Sozial- und Erziehungsdienst oder bei der Post ausgewirkt hat. Boewe und Schulten lassen an verschiedenen Stellen der Broschüre ahnen, dass es zwischen aktiven Kolleg*innen und Gewerkschaftsapparat unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt, wie der Kampf fortgeführt werden soll. Ihre Schlussfolgerungen daraus lassen jedoch das Heft meist in der Hand der Hauptamtlichen – und das, obwohl sie an verschiedenen Stellen in der Broschüre die Wichtigkeit der Aktivierung von Seiten der Basis betonen. So lautet eine ihrer zentralen Thesen, die wir ebenfalls unterschreiben würden: Die auf die Entwicklung politisch starker und souveräner Vertrauensleute- und Aktiven-Strukturen in den Betrieben gerichtete Gewerkschaftsarbeit bei Amazon kann zum Vorbild für andere,


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tage. Und nun? insbesondere gewerkschaftlich bislang schwach organisierte Sektoren werden. (S. 47) Die Autoren blenden dabei aber aus, dass diese betrieblichen Strukturen nicht einfach nur eine effektivere Form der Gewerkschaftsarbeit darstellen, quasi als „verlängerter Arm“ eines überlasteten Gewerkschaftsapparats. Im Gegenteil stellen diese Aktivenstrukturen in letzter Instanz die materielle Basis des Gewerkschaftsapparats in Frage. Denn wenn es Basisstrukturen gibt, die alle wichtigen Entscheidungen des Streiks selbst treffen, wozu braucht es dann noch einen großen Hauptamtlichen-Apparat?

Internationale Vernetzung

Am deutlichsten wird dieses Unverständnis in der Auseinandersetzung um die Frage der internationalen Vernetzung, genauer um die Beziehung zu der anarchosyndikalistischen Basisgewerkschaft Inicjatywa Pracownicza im polnischen Poznań: Seit Anfang 2015 finden – selbst organisiert und bislang ohne direkte Unterstützung aus ver.di-Ressourcen – regelmäßige Treffen zwischen ver.di-Aktiven aus Bad Hersfeld und Brieselang mit den KollegInnen bei Amazon Poznań statt. Aufgrund der spezifischen polnischen Situation – gespanntes Verhältnis zwischen der nicht bei UNI organisierten OZZ Inicjatywa Pracownicza und der UNI-Mitgliedsorganisation NSZZ Solidarność – bergen diese Kooperationen zweifellos Konfliktpotenzial auch für ver.di. (S.25) Ihr Lösungsvorschlag: Ver.di tue gut daran, in der Auseinandersetzung zwischen den beiden bei Amazon Polen engagierten Gewerkschaften keine Partei zu ergreifen, sondern Hilfe anzubieten, das Verhältnis der beiden Organisationen zu entkrampfen, um negative Auswirkungen der unterschiedlichen politisch-strategischen und organisationspolitischen Konzepte auf die Auseinandersetzung mit dem Unternehmen möglichst zu begrenzen. (S. 26) Boewe und Schulten erkennen an, dass es sich um „unterschiedliche politisch-strategische und organisationspolitische Konzepte“ handelt. Dennoch tun sie so, als ob es sich um eine „spezifisch polnische Situation“ handle, die nichts mit der Debatte um die Strategie von ver.di zu tun habe. Natürlich betonen die Journalisten die Wichtigkeit „direkter horizontaler Kontakte zwischen gewerkschaftlich Aktiven an verschiedenen Amazon-Standorten, sowohl national als auch

grenzübergreifend“. Sie argumentieren jedoch im Anschluss, dass diese Kontakte „keine Konkurrenzaktivität zur Kooperation auf Ebene des Dachverbandes UNI und der nationalen Gewerkschaftsorganisationen“ seien (S. 26). Doch das Gegenteil ist der Fall. In letzter Instanz ist die direkte Vernetzung und Koordinierung gewerkschaftlicher Basisaktivist*innen eine große Gefahr für die Autorität der sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsapparate über die Streikführung. Ver.di und Solicarność wissen das sehr gut, weshalb sie auf diesem Gebiet so gut wie möglich das Heft in der Hand behalten wollen. Dass ihnen das bisher nicht gelingt, ist eine große Errungenschaft der kämpferischsten Arbeiter*innen in dem multinationalen Konzern.

Basisdemokratische Streikführung

Immer wieder hat es in den vergangenen drei Jahren Konflikte zwischen Kolleg*innen und Funktionär*innen gegeben – sowohl, was konkrete taktische Schritte des Streiks betrifft, als auch, wenn es um strategischere Fragen geht. Am deutlichsten wird das bei der standortübergreifenden und der internationalen Koordinierung. Immer wieder mussten die Hauptamtlichen zu weitergehenden Schritten und häufigeren Koordinierungstreffen gedrängt werden. Die direkte Koordinierung zwischen Vertrauensleute-Strukturen auf internationaler Ebene wie mit Poznań – völlig ohne ver.di-Apparat – ist nicht ohne Grund entstanden; sie ergab sich aus der Notwendigkeit, der bremsenden Gewerkschaftsbürokratie eine eigene Struktur entgegenzusetzen. Diese Struktur ist noch in ihren Anfängen. Sie ist bisher zuallererst ein Ort des Austauschs über konkrete Bedingungen, aber auch über Ideen für eine gemeinsame Streikführung. In einem offenen und demokratischen Prozess die fortgeschrittensten Arbeiter*innen voranzubringen, um über die Zukunft des Kampfes zu diskutieren – eine bessere Schule des Klassenbewusstseins gibt es nicht. Die Herausforderung ist es, dieses Bewusstsein derart zu erweitern, dass sie – falls nötig – auch gegen den ver.di-Apparat eine offensivere Streikführung durchsetzen können. Wenn das gelingt, kann eine Grundlage für eine klassenkämpferische Basisgewerkschaftsbewegung entstehen, die nicht nur Amazon-Streikende, sondern die erfahrensten Kämpfer*innen unserer Klasse vereinigt, und innerhalb der großen Gewerkschaften für eine Alternative kämpft, die unabhängig von der Bürokratie ist.

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FRAUEN UND LGBT*

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Ausbeutung und Unterdrückung FEMINISMUS: Am 19. Dezember diskutierten 40 Personen auf einem Seminar der Unigruppe Waffen der Kritik München über klassenkämpferischen Feminismus. Dort referierte Lilly Freytag.

E Andrea D’Atri: Brot und Rosen. In Übersetzung. erscheint vsl. 2016.

VO N O S K A R H U B E R

s gibt eine Doppelbewegung gegen die Lebensbedingungen von Frauen in der kapitalistischen Krise. Doppelt deshalb, weil sie erstens als Frauen, zweitens als (prekäre) Arbeiter*innen angegriffen werden. Prominentes Beispiel für die Rücknahme hart erkämpfter Rechte ist die Abtreibungsgesetzgebung, gegen deren Verschärfung im Spanischen Staat viele Frauen auf die Straße gingen. Gleichzeitig zu den gesetzlichen Repressionen gegen körperliche Selbstbestimmung nehmen die Gewalt gegen Frauen und die Mobilisierung rechter, antifeministischer Kräfte in Europa wieder zu. Trotz Integration in die europäische Arbeitswelt sind Frauen überwiegend mit schlecht bezahlter und prekärer Arbeit und einer Zusatzbelastung durch Reproduktionsarbeit wie Erziehung, Haushalt oder Pflege konfrontiert. Der Abbau der Sozial­systeme in der Krise bedeutet einerseits, dass Frauen „zurück ins Haus“ zur kostenlosen Reproduktionsarbeit gezwungen werden, und andererseits auch, dass ihre Arbeitsbedingungen selbst verschlechtert werden.

Brot und Rosen

In dem Buch „Brot und Rosen“, das wir zur Zeit aus dem Spanischen übersetzen, stellt Andrea D’Atri folgende Beziehung zwischen ökonomischer Ausbeutung und sexistischer Unterdrückung her: Aus einer marxistischen Perspektive verstehen wir Ausbeutung als diejenige Beziehung zwischen den Klassen, die aus der Aneignung aus dem überschüssigen Arbeitsprodukt der Arbeiter*innenmas-

sen entsteht. Profiteurin ist diejenige Klasse, die Privatbesitz an Produktionsmitteln hat, das Kapital. Es handelt sich also um eine Kategorie, die in der ökonomischen Struktur verankert ist. Unterdrückung dagegen können wir als eine Beziehung der Unterwerfung einer Gruppe durch eine andere aufgrund von kulturellen, rassifizierten oder sexuellen Merkmalen definieren. Das heißt, die Kategorie der Unterdrückung bezieht sich auf die Ausnutzung von Ungleichheit, um eine bestimmte Gruppe zu benachteiligen. Wir können feststellen, dass Frauen verschiedenen, sich im Widerspruch miteinander befindenden sozialen Klassen angehören. Sie bilden keine eigene Frauen-Klasse, sondern eine klassenübergreifende Gruppe. Und wir denken, dass sich Ausbeutung und Unterdrückung auf unterschiedliche Weisen kombinieren. Die Klassenzugehörigkeit einer Person bestimmt die Form ihrer Unterdrückung.

NATO-Feminismus

Dass Frauen geschlechtlich unterdrückt werden, schließt außerdem nicht aus, dass sie selbst zum Beispiel an rassistischer oder nationaler Unterdrückung teilnehmen. D’Atri stellt das an folgendem Beispiel dar: Eine dreißigjährige Frau kann in Europa ihr „Recht ausüben“, Offizierin der NATO-Truppen zu sein, die die halbkolonialen Länder bombardiert. Im gleichen Alter kann eine Frau in einem afrikanischen Dorf aufgrund von AIDS sterben. Es ist widersprüchlich und sogar zynisch, vom Fortschritt der Frauen als solchen zu sprechen. Sollten wir nicht von verschiedenen Frauen reden? Sind die Leben der Unternehmerinnen und die der Arbeiterinnen, der Frauen in den imperialistischen Län-

dern und der in den Halbkolonien, der weißen Frauen und der schwarzen Frauen, der Immigrantinnen und Geflüchteten etwa alle gleich? Was verbindet die britische Königin mit den arbeitslosen Engländerinnen, nur weil sie Frauen sind? Die Behauptung einer solchen Verbindung aller Frauen bedeutet letztlich, einem biologischen Reduktionismus der patriarchalen Ideologie zu verfallen, den wir Feministinnen richtigerweise kritisieren. Dass der Sturz patriarchaler Unterdrückung und der Sturz des Kapitalismus Hand in Hand gehen müssten und können, zeigt auch die Erfahrung der russischen Revolution: Der junge Arbeiter*innenstaat legalisierte die Abtreibung, ermöglichte Scheidungen und unternahm Schritte zur Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit. Auch die „Homo-Ehe“ wurde legalisiert. Alles in allem also die fortschrittlichsten Gesetze gegen geschlechtliche und sexuelle Unterdrückung, und das im ehemaligen Zarenreich. Diese Errungenschaften wurden erst von der Stalinisierung wieder rückgängig gemacht, die unter der Ideologie des „Sozialismus in einem Land“ die bürgerliche Familie rehabilitierte. Die Zerstörung der materiellen Basis des Kapitalismus, in dem es eine spezifische bürgerliche Form des Patriarchats gibt, bedeutet keinesfalls, dass Sexismus „automatisch“ endet – wie es die maoistische These von „Haupt- und Nebenwiderspruch“ einst behauptete. Der Kampf gegen Sexismus muss heute bewusst und gerade innerhalb der Organisationen der Arbeiter*innenklasse und der Linken geführt werden. Er kann nicht auf „später“ aufgeschoben werden.

Arbeiter*innen und Frauen

Der Weg, den wir vorschlagen, bedeutet dagegen die Überwindung der Trennung von der Arbeiter*innenbewegung und der Frauenbewegung. Dafür ist die Selbst­ organisation von Frauen in sozialen und Arbeitskämpfen eine wichtige Erfahrung, zum Beispiel in selbstbestimmten Frauenkomitees, die innerhalb eines Streiks der besonderen sexistischen Unterdrückung Rechnung tragen und ihre Interessen in der Gesamtbewegung hervorheben. Erkämpfte Positionen, wie formale Gleichstellung oder Rechte auf körperliche Selbstbestimmung, sollten dabei Ausgangspunkt für neue Kämpfe werden, um Kapitalismus und Patriarchat zu begraben – im Bewusstsein, dass jede Errungenschaft in einer Krise wieder zurückgenommen werden kann. Und letztlich sollte ein klassenkämpferischer Feminismus besonders aus „westlichen“ Ländern einen anti-imperialistischen, anti-rassistischen Charakter haben, der sich auch gegen diese Formen der Unterdrückung solidarisiert.


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Fortsetzung von Seite 16 ➲

Was noch niemand gesehen hat: dass sich die Deeskalationsteams auf einmal in die Demo eingereiht hätten. Sie werden später auch nicht gegen ihre schwerbewaffneten Kolleg*innen aus BFE oder USK aussagen, wenn wir Anzeigen wegen „Widerstand“ (geräumt werden) und „Landfriedensbruch“ (Ausübung demokratischer Rechte) bekommen. Ihre „Gewerkschaft“ wird allenfalls „mehr Schutz für Einsatzkräfte“ fordern.

Eine Klassenlinie ziehen

Was im Kleinen auf der Demo passiert, passiert auch im Großen: Der staatliche Repressionsapparat gibt sich verschiedene Gesichter, von hilfsbereit bis militärisch, um den Schein von Neutralität zu wahren. Linke kämen natürlich kaum auf die Idee, die GSG9 in der Gewerkschaft zu organisieren. Demgegenüber gibt es aber sehr wohl die Idee, die Polizei ließe sich in progressivere und reaktionärere Elemente spalten. So begründet zum Beispiel die SAV ihre Haltung pro gewerkschaftliche Organisierung von Polizist*innen. Aber wie soll das in der Realität aussehen? Polizist*innen und linke Gefangene können kaum eine „Einheitsfront“ bilden, nicht einmal wenn die Polizei sie noch so „kritisch“ und „demokratisch“ festnimmt. Auch ist keine Übergangsforderung möglich: Polizei unter Kontrolle von Cops, streikenden Arbeiter*innen und Geflüchteten? Das geht nicht. Ihre „Gewerkschaften“ sind reaktionäre Berufsverbände, die Interessen des bürgerlichen Repressionsapparats übernehmen, und keine Gewerkschaften. Wenn wir also zuerst die sofortige Auflösung von Sonderheiten wie der neuen BFE+ fordern, dann nur, weil der Staat mit ihnen sein bürgerliches Klassengesicht am deutlichsten zeigt. Die falsche Legitimität „normaler“ Polizei innerhalb linker Kreise dagegen ist Ausdruck davon, dass es zu wenig Vertrauen in die unabhängige Organisierung der Arbeiter*innenklasse gibt, die ihre Streiks, Treffen und Demos selbst zu verteidigen lernen muss. Dass die Polizei sich sogar im DGB aufhalten darf, ist Ausdruck von purem Chauvinismus. Das beweist die GdP selbst überdeutlich: Die Gerichtskosten für die Polizei-Mörder*innen des 2005 in einer Zelle verbrannten Oury Jalloh übernahm auch die GdP, fast eine halbe Million Euro. Als Geflüchtete 2014 Gewerkschaftsmitglieder werden wollten und dafür den DGB Berlin-Brandenburg besetzten, hetzte die GdP von innen, die Polizei-„Kolleg*innen“ räumten die Geflüchteten dann gewaltsam. Wenn die Polizei die Interessen der Bourgeoisie erfüllt – gilt das dann auch für Lehrer*innen und Dozent*innen? Immer-

Nr. 22 Januar 2016

hin erhalten und schaffen sie bürgerliche Ideologie. Nein. Denn Schul- und Hochschullehrer*innen haben gemeinsame Interessen mit ihren Schüler*innen und Student*innen, die sie auch regelmäßig in gemeinsamen Streiks und Aktionen zum Ausdruck bringen. Sie sind zum Beispiel in Schulstreiks gegen Rassismus aktiv. Auch selbstbestimmte Lehrpläne sind eine Forderung, die der Existenz von Lehrer*innen nicht zuwiderläuft – anders als bei Polizist*innen die Freilassung von Gefangenen und das Ende der Repression. Können wir zusammen kämpfen? Darauf kommt es am Ende an. Die Polizei hingegen bekommt zwar ein Gehalt und besitzt keine Produktionsmittel, wird aber dadurch nicht Teil der Arbeiter*innenklasse. Sie ist ein unproduktives Element des Staatsapparats, deren objektives Interesse zu dem des „Gesamtkapitalisten“, dem bürgerlichen Staat, gehört. Ein höherer Polizei-Sold, Ergebnis eines polizeilichen „Streiks“, wird von den Arbeiter*innen teuer bezahlt: spätestens in den Kämpfen, wo sie einander gegenüberstehen.

Die Polizei und die (Konter-)Revolution Lenin und Trotzki versuchten für die erfolgreiche Oktoberrevolution 1917 gezielt, die Wehrpflichtigen-Armee zu organisieren und zu spalten. Ihnen war klar, dass der Bürger*innenkrieg nur sozial zu gewinnen wäre, also wenn die wehrpflichtigen Bauern*Bäuerinnen und Arbeiter*innen sich der Revolution anschließen, die ihr eigentliches Interesse nach „Friede, Land und Brot“ wiedergibt. Bei Polizist*innen ist das nicht der Fall: Ihre Existenz ist an den bürgerlichen Staat gebunden, es ist – wie auch bei Berufssoldat*innen – keine vorübergehende Aufgabe, zu „dienen“. Am Dasein als Bulle hängen ihre Pension, ihre soziale Stellung und ihr Umfeld, auch ihr Bewusstsein. Die Polizei neigt nicht zur Rebellion gegen den Staat. Wenn die Polizei tatsächlich einmal „rebelliert“ – geschehen zum Beispiel vorletztes Jahr in Argentinien – fordert sie höhere Löhne, bessere Ausrüstung und Straffreiheit für sich selbst, da sie in Drogenbanden-Morde verwickelt ist! In vorrevolutionären Phasen spitzen sich alle Tendenzen des Klassenkampfs zu. So schrieb Leo Trotzki 1932 in „Was nun?“ kurz vor dem Sieg der faschistischen Konterrevolution: Der Umstand, daß die Polizisten in bedeutender Zahl unter sozialdemokratischen Arbeitern rekrutiert wurden, will ganz und gar nichts besagen. Auch hier wird das Denken vom Sein bestimmt. Die Arbeiter, die Polizisten im Dienst des kapitalistischen Staates geworden sind, sind

DEBATTE

„Die Arbeiter, die Polizisten im Dienst des kapitalistischen Staates geworden sind, sind bürgerliche Polizisten und nicht Arbeiter.“ – Leo Trotzki bürgerliche Polizisten und nicht Arbeiter. In den letzten Jahren hatten sich diese Polizisten weitaus mehr mit revolutionären Arbeitern zu schlagen als mit nationalsozialistischen Studenten. Eine solche Schule hinterläßt Spuren. Und die Hauptsache: jeder Polizist weiß, daß die Regierungen wechseln, die Polizei aber bleibt. Die Entscheidung gegen die Revolution und für den Faschismus musste der Polizei leicht fallen – das trat auch ein. Es kostete jedoch bis Trotzkis „Was nun?“ schmerzhafte Erfahrungen, zu diesem Schluss zu gelangen. Noch neun Jahre vorher, während des gescheiterten Revolutionsjahres 1923, meinte derselbe Autor in „Revolutionsaussichten in Deutschland“: Die Polizei im größten Teil Deutschlands besteht aus Arbeitern, die in Gewerkschaften organisiert sind, die sozialdemokratisch sind. (…) Als Hypothese kann man sagen, dass ungefähr ein Drittel der Polizei kämpfen wird, sagen wir in Bayern, ein Drittel ungefähr wird neutral sein und ungefähr ein Drittel wird auf unserer Seite kämpfen. So wird allgemein die Polizei als reale Kraft gegen uns verschwinden. Diese Hypothese ging nicht auf. Die Realität überholte diese Fehleinschätzung, als die Arbeiter*innen-Regierungen von Ebert (SPD) zerschlagen werden konnten. Damit war die „taktische“ Perspektive der Spaltung des Polizeiapparats historisch widerlegt. Wenn in einer revolutionären Situation Teile des Staats gespalten werden, dann aufgrund der unversöhnlichen Rätemacht, nicht dank Taktiken gegenüber „demokratischen“ oder „kritischen“ Staatsteilen. Wie aber wird die Rätemacht hergestellt? Nur durch eine revolutionäre Partei, die in jedem Kampf die unversöhnliche Frontlinie zwischen der Arbeiter*innenklasse und dem Kapital sowie dessen Staat hervorhebt. Also eben durch die Feindschaft der Arbeiter*innenklasse zur Polizei! Das gilt in der jetzigen Phase der europäischen Krise mehr denn je. Imperialistischer Krieg nach außen bedeutet auch Militarisierung im Inneren. „Gefahrenzonen“, Angriffe auf Geflüchtete und Jugendliche, Großaufgebote bei Demonstrationen und neue militärisch ausgerüstete Polizeieinheiten zeigen in die gleiche Richtung: Deutschland rüstet auf. Wir sollten uns dagegen rüsten – mit einem Programm der Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse, ohne Polizei in ihren Reihen.

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KLASSEGEGENKLASSE Zeitschrift der Revolutionären Internationalistischen Organisation | Deutsche Sektion der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale | Preis: 1 Euro | Solipreis: 2 Euro

Wie hältst du es mit der Polizei?

DEBATTE: Niemand mag die Polizei. Wäre es aber richtig, sie gewerkschaftlich zu organisieren? VO N O S K A R H U B E R

A

lle linken Aktivist*innen machen früher oder später mal „Erfahrungen“ mit der Polizei. Niemand mag sie. Wäre es aber taktisch richtig, die Polizei gewerkschaftlich zu organisieren? Gehören Polizist*innen nicht auch irgendwie zur Arbeiter*innenklasse, weil sie für Lohn arbeiten? Lässt sich die Polizei sogar „spalten“? Nein, nein und nein. Ein Debattenbeitrag. Die Gewerkschaft ist die breiteste mögliche Einheitsfront, in der wir gegen das Kapital zuschlagen, auch zusammen mit unseren politischen Gegner*innen. Alle Schichten der Arbeiter*innenklasse sind in den DGB-Gewerkschaften vertreten. Die Mehrheit der Mitglieder ist zurzeit für Merkel, viele sind sogar für die erzreaktionäre AfD. Hegemonin in den DGB-Apparaten ist die SPD, die Partei von Hartz IV. Das Bewusstsein der Arbeiter*innenklasse entwickelt sich nicht ohne konkrete Kämpfe. Gewerkschaften

sollen wenn möglich unsere gesamte Klasse organisieren, um sie gegen das Kapital zu vereinen. Nach langen Kämpfen dürfen in ver.di endlich auch Geflüchtete offiziell Mitglieder werden, wenn auch noch mit ungenügenden Rechten. Eines der Haupthindernisse im Klassenkampf sind Bürokrat*innen, die mit der Sozialpartnerschaft auf Kosten der Arbeiter*innenklasse ihre eigenen Interessen verfolgen. Notwendig ist eine antibürokratische, klassenkämpferische Gewerkschaftsströmung, die unabhängig von allen Teilen des Kapitals und seines Staats ist. Wer soll also nicht Mitglied in der Gewerkschaft sein? Bosse, klar. Noch eine Minimalbedingung können wir uns vorstellen: keine Gewalt gegen Strukturen von Arbeiter*innen, Migrant*innen und Linken. Viele würden so eine Formulierung mittragen. Es gibt sie aber nicht! Also dürfen Polizist*innen beim DGB in der „Gewerkschaft der Polizei“ (GdP) organisiert sein – und auf andere Gewerkschafter*innen losschlagen.

Good cop, bad cop?

Nicht alle Polizist*innen sind Teil von „Schläger-Einheiten“. Doch die Polizei ist ein bewaffneter Apparat zur Durchsetzung kapitalistischer Interessen – nicht alle seine Elemente schlagen immer nur mit einer Waffe zu, viel öfter sind die Instrumente der Repression nur Dienst­ausweis und Druckpapier. Denn wenn eine einfache Streife eine geflüchtete Person ohne Aufenthaltsrecht kontrolliert, wird sie erste Schritte zur Abschiebung einleiten. Und als es beim Neupack-Streik in Hamburg Ärger gab, waren es auch „normale“ Polizist*innen, die für die Repression anrückten. Von linken Demonstrationen kennen viele das „good cop, bad cop“-Spiel: Polizeiliche „Deeskalationsteams“ plaudern mit dir, dann schließen sich vorne plötzlich die Reihen und die weniger netten Kolleg*innen in Kampfmontur beschließen zu kesseln. Das Deeskalationsteam ist in Windes­eile weg – die Schlagstöcke sind da.

Fortsetzung auf Seite 15 ➲


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