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«Diese Vielfalt fasziniert mich»

Jessica Horsley, Dirigentin und Komponistin, will Brücken zwischen verschiedenen Religionen und Kulturen bauen. In ihrem musikalischen interreligiösen Projekt «Die 99 Namen» zeigt sie, dass es viele Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen spirituellen Traditionen gibt. «Die 99 Namen» werden am 12. Mai in St.Gallen-Neudorf zum ersten Mal in der Ostschweiz aufgeführt.

Warum stehen bei Ihrem Projekt die «99 Namen» aus dem Koran im Fokus?

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«Ein wichtiger Impuls war ein Projekt mit dem katholischen Kirchenchor von Therwil: Wir haben die Aufführung meiner Gemeindemesse geprobt. Manche Beteiligten waren unzufrieden mit einigen Textstellen. Sie störten sich am Gottesbild, das dort vermittelt wird, die Beschränkung auf Gott als den Vater und das Männliche empfanden sie als zu einengend. Ich bin dann auf den schottischen Religionswissenschaftler Neil Douglas-Klotz und seine Bücher über das Vater-unser-Gebet und die 99 Namen aufmerksam geworden. Letztere spielen in der islamischen SufiTradition eine wichtige Rolle. Diese vielen verschiedenen Namen für Gott – eine so grosse Vielfalt, das hat mich fasziniert. Ich habe siebzehn der Namen bei meinem Projekt ‹The Mass of Light› integriert. 17 der 99 war aber nicht das Ende der Geschichte; dann kamen eben ‹Die 99 Namen›.»

In der christlichen Spiritualität ist die Vielfalt der Gottesnamen heute kaum im Bewusstsein. Möchten Sie mit Ihrem Werk die Augen öffnen?

«Es ist mir ein Anliegen, zwischen verschiedenen Kulturen und Traditionen Brücken zu bauen und das Gemeinsame zu suchen. Wer christlich geprägt ist wie ich, hat oft eher enge Vorstellungen, was die Gottesbilder betrifft. Für mich bringt die Idee der 99 Namen in der Sufi-Tradition sehr deutlich zum Ausdruck, wie vielfältig und gross Gott ist. All diese Namen vermitteln eine Mini-Idee von der Grösse Gottes. Diese Vielfalt ist aber eigentlich auch der jüdischen und christlichen Tradition nicht fremd: Im jüdischen Tanach und in der Bibel finden wir auch ganz viele Bilder wie zum Beispiel Gott als den ‹Friedensfürst› oder ‹Retter›. Mit meinem Werk ‹Die 99 Namen› möchte ich aber auch auf einen anderen Aspekt aufmerksam machen, der mir persönlich am Herzen liegt: Die Mehrsprachlichkeit und die Grenzen der Sprachen. Ich bin in einem Umfeld aufgewachsen, wo alle die gleiche Sprache gesprochen haben, heute bin ich in meiner beruflichen Tätigkeit von vielen Sprachen umgegeben. Gerade beim Sprechen von oder über Gott kommt man sprachlich an Grenzen.»

In ihrem Projekt spielen nicht nur Musik und Sprache eine wichtige Rolle, im zweiten Teil wirken auch Sufi-Tänzerinnen und -tänzer mit.

«In der zweiten Konzerthälfte kommt ‹The Mass of Light› zur Aufführung. Der englische Titel kann als Messe und gleichzeitig als ‹Masse› des Lichts verstanden werden. Er weist auf die mystische und physikalische Doppeldeutigkeit hin – auch das soll auf das ‹Unfassbare› hinweisen. Die Sufi-Spiritualität kennt mit ihren tanzenden Derwischen eine ganz besondere Meditationsform.»

Wie kam das bei der Uraufführung an – ist dieser spirituelle Tanz für Menschen, die von der christlichen Spiritualität geprägt sind, nicht etwas völlig Ungewohntes?

«Die tanzenden Derwische sind eine Meditationsform: Die Tänzer bewegen sich im Kreis. Sie halten eine Hand geöffnet nach oben, die andere nach unten. Sie machen damit die Verbindung zwischen Himmel und Erde sichtbar. Das hat auch für die Menschen, die zuschauen, etwas Meditatives und auch Faszinierendes. Wer aus der christlichen Tradition kommt, hat meistens eine ‹verkopfte› Spiritualität kennengelernt. Die tanzenden Derwische zeigen eindrücklich, dass Spiritualität auch die körperliche Dimension miteinbezieht.»

Die promovierte Dirigentin und Komponistin Jessica Horsley ist in Grossbritannien geboren und aufgewachsen und christlich-anglikanisch geprägt. Schon als Kind trat sie als Solistin und Kammermusikerin auf. Sie lebt und arbeitet seit vielen Jahren in Basel.

Aufführung in der katholischen Kirche St.Maria Neudorf

Das musikalische Projekt «Die 99 Namen» wurde im Oktober 2022 in Basel uraufgeführt. Die Aufführung vom 12. Mai wird in der katholischen Kirche St.Maria Neudorf, St.Gallen (19 Uhr) wird von der Kath. Kirchgemeinde St.Gallen, vom Kompetenzzentrum für Integration und Gleichstellung des Kanton St.Gallen, kath. Konfessionsteil des Kanton St.Gallen sowie der Evang.-ref. Landeskirche des Kantons St.Gallen unterstützt.

Mitwirkende: Rolf Romei (Solo Tenor), Kerem Adıgüzel (Koran Rezitation), das Vokalensemble «Die Basler Madrigalisten», Drehtänzerinnen und -tänzer, der Organist Matthias Wamser und Jessica Horsley (Leitung).

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