Hope Solo mit Ann Killion - Mein Leben als Hope Solo

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Hope Solo mit Ann Killion

Mein Leben als Hope

aus dem Amerikanischen von Michael Sailer


Edel:Books Ein Verlag der Edel Germany GmbH Copyright der deutschen Ausgabe © 2013 Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg www.edel.com 1. Auflage 2013 Titel der Originalausgabe: A Memoir Of Hope Solo Published by arrangement with Harper, an imprint of HarperCollins Publishers, LCC Copyright © 2012 Hope Solo Übersetzung: Michael Sailer Projektkoordination: Constanze Gölz Lektorat: Clemens Hoffmann für bookwise GmbH, München Fotos im Innenteil: mit freundlicher Genehmigung von Hope Solo; nicht von Hope Solo zur Verfügung gestellte Bilder sind anderweitig gekennzeichnet Satz und Layout: BUCHFLINK Rüdiger Wagner, Nördlingen Design Originalcover: Milan Bozie Umschlagadaption: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH | www.groothuis.de Druck und Bindung: optimal media GmbH, Glienholzweg 7 17207 Röbel / Müritz Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Printed in Germany ISBN 978-3-8419-0226-9


Inhalt

Vorbemerkung ........................................................................

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Prolog ......................................................................................

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1 Ein Leben im Schatten des Smiley ..................................... 17 2 Gottes zweites Paradies ........................................................ 33 3 Ein Doppelleben .................................................................... 49 4 Irgendwohin – egal wohin –, nur weit weg ...................... 61 5 Kahle Äste, kurz vor der Blüte ............................................ 72 6 Die 99er .................................................................................. 87 7 „Ich hätte schon vor langer Zeit sterben sollen“ ............ 101 8 Ein Arm wie Frankensteins Monster ................................... 113 9 Made In The WUSA .............................................................. 128 10 Ene mene muh und raus bist du ......................................... 144 6|


11 „So weint nur eine Tochter“ ................................................ 161 12 Schatten .................................................................................. 175 13 „Lass dich nie von einem Bauchgefühl leiten“ .................. 183 14 Kaltgestellt und angeprangert ............................................ 198 15 „Lass dir deine Freude nicht vom Teufel rauben“ ........... 212 16 Die neue Nummer eins ......................................................... 230 17 So verdammt schön .............................................................. 247 18 Professionell unprofessionell .............................................. 257 19 Seattle’s Beste ........................................................................ 270 20 Einer ist genug ....................................................................... 285 21 Ein Silberstreif am Horizont ................................................ 296 22 Nackte Tatsachen auf der Wiese ........................................ 307 Danksagung ............................................................................ 327

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KAPITEL DREIZEHN

„Lass dich nie von einem Bauchgefühl leiten“

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s ist alles in Ordnung! Alles okay!“ Ich hörte, wie Kate Markgraf mich anschrie. Der nasse Ball war mir soeben durch die Fingerspitzen gerutscht, über meinen Kopf ins Netz. Ein Tor. Im allerersten Spiel der WM. Ich riss die Arme hoch und brüllte vor Enttäuschung. Es stand 1:1 in der zweiten Halbzeit gegen Nordkorea, auf einem feuchten, rutschigen Platz in Chengdu. „Okay, okay“, sagte ich zu mir selbst. „Reiß dich zusammen, Hope.“ Ich war eher sauer als verunsichert. Unser Auftaktspiel lief nicht gut. Deswegen war Greg so angespannt gewesen, seit er damals Nordkorea beobachtet hatte. Sie spielten aggressiv, technisch gut, waren uns überlegen. Schon nach zwölf Sekunden musste ich einen wuchtigen Schuss meistern. Nordkorea hatte mehr Ballbesitz. Wir rannten hinterher. Am Morgen hatte ich in mein Tagebuch geschrieben: Papa, der erste Spieltag; ich weiß nicht, wie ich mich fühle. Mir ist ein bisschen mulmig, aber schon seit Tagen. Würde gerne ein Nickerchen | 183


machen, aber meine Augen zucken, und ich höre mein Herz gegen die Matratze schlagen. Du fehlst mir, Papa. Ich brauche dich. Hilf mir, den Augenblick zu erleben. Papa, ich liebe dich so sehr. Ich trage dein Armband. Ich habe dich bei mir. Bild im Spind, Armband und Halskette an, Asche im Tor, ich und mein Papa gemeinsam im Tor. Zeit, der Welt zu zeigen, aus welchem Holz diese Solos geschnitzt sind. Ich ging stark, voller Lebenskraft und Konzentration in mein erstes großes Turnier. In der ersten Halbzeit hielten wir das 0:0; ich musste einmal knapp retten und kam bei Steilpässen raus, um ihre unermüdlichen Attacken zu unterbinden. Kurz nach der Halbzeitpause brachte Abby uns ins Spiel: Auf Vorlage von Kristine Lilly drosch sie den Ball Richtung Tor. Er sprang der nordkoreanischen Keeperin von den Handschuhen und ins Netz. Ein eklatanter Beweis für das, was ich bereits wusste: Die Bedingungen waren hart für Torhüter, das Spielfeld klatschnass, der Ball schwer, und das neue Design der Balloberfläche machte ihn noch unberechenbarer. Minuten nachdem sie die Führung erzielt hatte, knallte Abby mit einer Nordkoreanerin zusammen, fiel zu Boden und blutete aus einer Platzwunde am Kopf. Das Spiel lief weiter, während sie genäht wurde, und Greg wechselte sie nicht aus. Wir schauten immer wieder zur Seitenlinie, ob eine Ersatzspielerin bereitstand, mussten aber in Unterzahl weiterspielen. Gregs Entscheidung, uns zu zehnt weitermachen zu lassen, bis Abby zurückkam, gab den sowieso überlegenen Nordkoreanerinnen zusätzlichen Schub und erhöhte den Druck. Sie ließen den Ball vor unserem Tor mühelos durch die Reihen laufen, und schließlich landete ein weiter Pass an der Strafraumkante bei Kil Son Hui. Sie schoss; ich dachte, ich könnte den Ball halten, aber der scharfe Schuss glitt durch meine nassen Handschuhe ins Tor. Es stand 1:1. Abby war schon drei Minuten draußen, jetzt stand es unentschieden, und wir schwammen. Dennoch ließ uns Greg weiter in 184 |


Unterzahl spielen. Seine Botschaft war klar: Ohne Abby sind wir verloren. Unsere Ersatzspielerinnen taugen nichts. Ich gewann meine Ruhe zurück, stand aber weiterhin enorm unter Druck. Die Nordkoreanerinnen ließen den Ball in den eigenen Reihen laufen, während unser Team nicht an den Ball kam. Nach einem Foul von Carli schlug Nordkorea den Freistoß weit vors Tor und ließ den Ball über sechs Stationen laufen. Shannon Boxx fälschte direkt vor mir einen Schuss auf den rechten Pfosten ab; ich bewegte mich erst nach rechts, dann nach links Richtung Ball. Aber Kim Yong Ae schnappte ihn sich und schoss über meine ausgestreckte rechte Hand ins Tor. Jetzt lagen wir 1:2 zurück. Noch nie hatten wir bei einer Weltmeisterschaft ein Gruppenspiel verloren. Ich sah die Angst in den Augen meiner Teamkameradinnen. Greg wirkte an der Seitenauslinie wie paralysiert und unternahm nichts, um den Schwung der Nordkoreanerinnen zu brechen. Nach zehn langen Minuten und zwei Gegentoren lief Abby endlich zurück auf den Platz, mit elf Stichen am Kopf. Wieder vollzählig, gewannen wir unsere Ruhe zurück. In der 69. Minute versenkte Heather O’Reilly einen Schuss in der oberen rechten Torecke. Das Spiel war wieder offen, aber Nordkorea setzte seinen Sturmlauf fort. In der Nachspielzeit wähnten sie einen Gewaltschuss schon im Tor, aber ich hechtete ins entfernte rechte Eck und konnte den Ball gerade noch abwehren. Nur Sekunden später ballerte eine andere nordkoreanische Stürmerin eine Direktabnahme aufs Tor, die ich ebenfalls abfing. Ich rettete uns das Leben. Endlich ertönte der Abpfiff. Wir hatten das Unentschieden gerettet und in der Gruppenphase einen vielleicht entscheidenden Punkt errungen. Ich war alles andere als glücklich über die Gegentore – vor allem das erste, als mir der Ball durch die Handschuhe gerutscht war – und dennoch stolz. Einige Male hatte ich spektakulär gerettet und unser Team im Spiel gehalten. Ich hatte einen bitteren | 185


Schnellkurs im Umgang mit rutschigen Bällen erhalten – ein Fehler, der mir nicht noch einmal unterlaufen würde. Obwohl wir alle nicht unseren besten Tag hatten – weder ich noch die Feldspielerinnen und unser Coach –, waren wir mit einem Punkt davongekommen. Dass ich am Ende über mich hinausgewachsen war, stärkte mein Selbstvertrauen. Nach dem Abpfiff kam Greg aufs Spielfeld. „Danke für die Paraden“, sagte er und umarmte mich. Dann deutete er zum Himmel. „Jemand dort oben wacht über dich.“ Ich erstarrte. Es war das erste Mal seit meiner Rückkehr von der Beerdigung – vor fast drei Monaten –, dass Greg meinen Verlust offen würdigte. In den letzten Vorbereitungswochen in den USA hatte er sich nie an mich gewandt oder mich gefragt, wie es mir ging. Und da wollte er jetzt, da ich in einem WM-Spiel zu Höchstform aufgelaufen war, meinen Vater als Motivationsfaktor benutzen? Das fand ich beleidigend. Aber ich sagte nichts. Innerlich am Brodeln, ließ ich mich umarmen.

II Die Asche war in einem kleinen Behälter, etwa so groß wie mein Daumen, den ich vor jedem Spiel in meinen Spind stellte. Obwohl ich beim Einlaufen ins Stadion normalerweise keine Torwarthandschuhe trug, griff ich in China darauf zurück. In der Umkleidekabine schüttete ich eine kleine Spur Asche in meinen linken Handschuh. Auf dem Spielfeld legte ich, während die Nationalhymne gespielt wurde, die rechte Hand aufs Herz, in der linken hielt ich den linken Handschuh. Auf dem Weg in mein Tor bekreuzigte ich mich, küsste meine geballte Faust, öffnete den Handschuh und ließ die Asche herausrieseln, während ich im Stillen ein kleines Gebet sprach. Meine Worte bei der Trauerfeier waren ernst gemeint: Mein Vater würde immer mit mir im Tor stehen. 186 |


Nach dem Nordkoreaspiel blieben wir noch ein paar Tage im grauen Chengdu – die Stadt ist berühmt für ihre wenigen Sonnenstunden –, um gegen Schweden anzutreten, die Nummer drei der Weltrangliste. 14. September 2007 Das zweite Spiel – bin so nervös, Papa. Bitte steh mir bei. Lass mich begreifen, dass ich nach dem letzten Spiel nichts mehr beweisen muss. Hilf mir, den Augenblick zu leben. Genau durch die Finger, Papa, dabei spielte ich so gut. Ich will nur entspannt spielen, im Augenblick, jede Minute genießen. Lass uns Spaß haben, Papa. Im Spiel gegen Schweden zeigte sich unsere Mannschaft stark verbessert. Die Verkrampftheit und Dramatik aus dem Nordkoreaspiel waren vergessen. Abby traf zweimal, das erste Mal per Strafstoß, und unsere Abwehr stand viel gefestigter. Ich traf auf meine alte Freundin Lotta Schelin – den aufsteigenden Stern des schwedischen Teams –, aber sie konnte mich nicht überwinden. Es war mein erster WM-Sieg, und zwar ohne Gegentor. Flüsternd dankte ich meinem Vater. Dann verließen wir Chengdu Richtung Shanghai und kamen wenige Tage vor dem Taifun Wipha in der Stadt an. Gegen Nigeria spielten wir im strömenden Regen um den Gruppensieg. Lori Chalupny traf nach nur 53 Sekunden ins Tor, die restliche Spielzeit lief Nigeria dem Rückstand hinterher. Gegen Ende musste ich mich dennoch einige Male strecken, um den Sieg zu retten. Wieder blieb ich ohne Gegentor. Trotz der schweren Vorrunde waren wir Gruppensieger und standen im Viertelfinale gegen England. Das Spiel fand in Tianjin in Nordchina statt, ein gutes Stück von Shanghai entfernt. Unsere ganzen Verwandten reisten mit uns. Am Abend vor dem Spiel ging ich hinüber ins Familienhotel. Meine große Gruppe von Unterstützern war rechtzeitig eingetroffen: meine | 187


Mutter, Marcus und seine Verlobte Debbie, Tante Susie, Oma Alice und Opa Pete, Adrian sowie Cheryls Eltern Mary und Dick. Zu den Spielen trugen sie zu Ehren meines Vaters Trauerflor. Bei meiner Familie zu sein war tröstlich für mich. Sie waren die Einzigen, die wirklich wussten, wie sehr mir mein Vater fehlte und wie sehr ich darunter litt. Mir war schmerzhaft bewusst, wie viel gemeinsame Zeit mit ihm ich unwiderruflich verpasst hatte, weil ich ständig auf Reisen war. Mit dem Rest meiner Familie würde ich diesen Fehler nicht noch mal begehen. Und wir hatten in China alle etwas zu feiern: Marcus und Debbie hatten gerade erfahren, dass sie ein Baby bekamen, gezeugt nur wenige Wochen nach dem Tod meines Vaters. Am Abend vor dem Viertelfinale spielte ich mit meinen Großeltern und Adrian Cribbage und sprach mit Marcus über unseren Papa. Meine Mama – wie immer die begeisterte Fotografin – zeigte uns die Bilder, die sie geschossen hatte. Alles war sehr zwanglos. Wieder auf meinem Zimmer, kruschte ich herum, bevor ich ins Bett ging – wie üblich als eine der Letzten, weil ich mal wieder mit meiner wiederkehrenden Schlaflosigkeit kämpfte. 22. September 2007 Hey Papa. Warum ist der heutige Tag so hart? Heute habe ich Angst. Marcus hat Angst. Ich bin froh, dass wir wenigstens ein bisschen zusammen sein konnten – er ist sehr bewegt. Will, dass wir für dich das volle Programm durchziehen. Steh mir bei in dem einsamen Tor. Wir spielen dieses Viertelfinale gegen England gemeinsam. Aber ich spiele für dich, für alles, was du mir beigebracht hast. Die Familie kommt immer zuerst, stimmt’s, Papa? England hatte im Erwachsenenbereich noch nicht viel erreicht – wir standen ihnen zum ersten Mal in einem WM-Spiel gegenüber –, galt jedoch als aufstrebendes Team. Ich hielt Kelly Smith, 188 |


mit der ich in Philadelphia gespielt hatte, für eine der besten Spielerinnen der Welt. In der ersten Halbzeit spielten wir verkrampft und blieben ohne Torerfolg, aber unsere Abwehr war stark. In der zweiten Hälfte erzielten wir innerhalb von zehn Minuten drei schnelle Tore – eine uneinholbare Führung. Unsere Ambitionen dämpften die Feierlaune nach dem Spiel. Wir waren unserem Ziel schon sehr nah, standen im WM-Halbfinale. So weit war die Mannschaft von 2003 auch gekommen, aber wir wollten mehr. Unser schwieriger Start gegen Nordkorea erschien uns jetzt wie ein Glücksfall. Wir hatten gegen ein gutes Team Nerven und Unerfahrenheit gezeigt und Lehren daraus gezogen. Ich war noch immer nicht der Meinung, dass wir wie die Nummer eins der Weltrangliste spielten. Unser Angriff war ungestüm, aber wenig kreativ. Aber wir hatten 50 reguläre Spiele nicht mehr verloren. Jetzt ging es gegen die Brasilianerinnen, die drei Monate zuvor in New York unorganisiert und schlecht vorbereitet aufgetreten waren. Und ich war seit drei WM-Spielen ohne Gegentreffer. Ich war in Höchstform, und ich war bereit.

III Am Dienstagabend, zwei Tage vor dem Halbfinale, aßen wir im Mannschaftshotel in Hangzhou zu Abend. In Hangzhou hatte ich im Januar 2001 einen meiner ersten Länderspieleinsätze erlebt und erfahren, dass mein Vater unter Mordverdacht stand. Das schien so lange her zu sein. Die Erinnerung an den falschen Verdacht schmerzte mich, weil mein Vater grundlos leiden hatte müssen. Ich wünschte so sehr, er könnte das Halbfinale sehen – und Brasiliens unglaubliche Spielerin Marta für mich ins Stolpern bringen. Mein Torwarttrainer Phil kam während des Essens zu mir und tippte mir auf die Schulter. „Hope“, flüsterte er mir gebückt ins | 189


Ohr, „Greg möchte dich nach dem Essen auf seinem Zimmer sprechen.“ Ich starrte ihn an. Der Ballon von Selbstvertrauen in mir zerplatzte. „Wieso?“, fragte ich. Phil schaute mich nur an und ging davon. Ich schob meinen Teller weg, weil mir plötzlich schlecht war. Ich wusste, was passieren würde. Vielleicht hatte ich das seit zwei Jahren erwartet. Als ich den Speisesaal verließ, sah ich Greg hereinkommen. Er würde eine Weile dableiben, also ging ich auf mein Zimmer und rief Adrian an. Ich versuchte zu sprechen, aber stattdessen kamen mir die Tränen. „Ich weiß nicht, was hier vor sich geht“, jammerte ich schließlich. „Das wird schon, Hope“, vertröstete er mich. „Reiß dich zusammen. Du musst mit ihm reden.“ Während ich Adrian zuhörte, atmete ich tief durch, um mich zu beruhigen. Adrian hatte recht; ich wollte nicht wie ein Wrack dastehen, wenn ich mit Greg sprach. Ich hängte auf, und sofort läutete mein Telefon. Es war Phil; er fragte, wo ich sei. „Ich bin gleich unten“, antwortete ich. Ich nahm den Fahrstuhl in Gregs Etage. Als ich in sein Zimmer kam, saß er im Sessel, spielte Gitarre und sang für sich selbst. „Hey, Hope, kennst du den Song?“ Er lächelte und strich über die Saiten. Sollte das ein Witz sein? Er war drauf und dran, mir das Schrecklichste mitzuteilen, was mir in meiner ganzen Fußballlaufbahn passiert war, und wollte über Pink Floyd plaudern? Ich starrte ihn nur an. Verarsch mich nicht, Greg, dachte ich, als ich mich auf dem Sofa niederließ. Sicherlich verriet mein Gesicht meine Gedanken. Als er meine Miene sah, wurde Greg zum harten Mann, zu demselben Arschloch, das mich den ganzen Sommer über angebrüllt hatte. 190 |


„Wieso kommst du zu spät? Ich sagte, du sollst um sieben da sein.“ Ich schaute zu Phil, der am anderen Ende des Sofas saß. „Man hat mir gesagt, nach dem Essen“, erwiderte ich. Ich legte die Hände auf die Knie, betrachtete sie und holte tief Luft, um mich zu fassen. Greg, links neben mir sitzend, lehnte sich vor und richtete seinen Finger auf mich. „Schau mich verdammt noch mal an, wenn ich mit dir rede“, blaffte er. „Ich habe es satt, von dir nicht respektiert zu werden. Erst kommst du zu spät, und jetzt schaust du mich nicht mal an.“ Ich war schockiert. Dass es schlimm werden würde, hatte ich mir gedacht, aber die Wut in seiner Stimme war verblüffend. Okay, dachte ich, ich soll dich anschauen, du Arschloch? Ich blickte wieder auf meine Knie, sammelte mich, hob dann langsam den Kopf und starrte ihn an, ohne den Blick abzuwenden, während er meine Karriere zum Scheitern verurteilte. Ich sei nicht reif für ein großes Turnier, meinte Greg. Das habe er sich von Anfang an gedacht, und bestätigt habe es sich im ersten Spiel, als mir der Ball durch die Hände gerutscht war. Nach diesem geschenkten Tor hätte er mich auf die Bank setzen sollen. Bri könne gegen Brasilien auf eine siegreiche Bilanz zurückblicken, sagte Greg. Sie komme besser mit der brasilianischen Spielweise zurecht. Die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen 2004 gegen Brasilien habe sie praktisch alleine gewonnen. Und sie habe gerade erst in New York gegen Brasilien gespielt. Ich beobachtete, wie sich sein Mund bewegte, und hörte, wie die Worte herauskamen. Ich konnte sie mir gedruckt in der Zeitung vorstellen, von ESPN aufgezeichnet und im Fernsehen ausgestrahlt, in Schlagzeilen und Kurzzitate gegossen. Briana Scurry, eine der Heldinnen der WM 1999, erobert ihren Stammplatz im Tor zurück. Ich war wie betäubt. Greg erwartete eine Antwort. Die Genugtuung, mich weinen oder toben zu sehen, gönnte ich ihm nicht, | 191


sondern riss mich zusammen, um meinem Zorn in klaren, präzisen Worten Ausdruck zu geben. „Greg, ich muss deine Entscheidung respektieren, weil du mein Coach bist“, sagte ich. „Aber ich stimme dir nicht zu. Es spielt keine Rolle, was Bri vor drei Jahren geschafft hat. Sie hat seit über drei Monaten kein Spiel absolviert, war seit drei Jahren nicht mehr deine Nummer eins, und ich spiele so gut wie noch nie. Ich werde mit deiner Entscheidung niemals einverstanden sein. Und wenn mich irgendwer fragt, werde ich sagen, dass diese Entscheidung falsch ist.“ Greg lächelte. Jetzt war er wieder der coole Typ. „Deshalb mag ich dich so, Hope“, sagte er. „Ich erwarte von meinen Spielerinnen, dass sie auf dem Platz stehen wollen. Dass sie wütend sind, wenn sie nicht spielen. Ich habe dir vier WM-Spiele gegeben. Ich habe dich so weit gebracht.“ „Ich habe mich selbst so weit gebracht“, blaffte ich zurück. „Eine Menge Leute haben an mich geglaubt – lange vor deiner Zeit.“ Greg war noch nicht fertig. Er erzählte, Lil und Abby hätten sich dafür eingesetzt, Bri spielen zu lassen. „Ich bin derselben Meinung wie die Spielführerinnen“, sagte er. „Das ist ein Bauchgefühl.“ Es hatte also hinter meinem Rücken ein Treffen stattgefunden? Eine Entscheidung, die darauf beruhte, wen sie lieber mochten? Ich blickte Greg an und schüttelte angewidert den Kopf. Er war ein schwacher Anführer, der sich seiner Verantwortung entledigte. Greg hatte nicht die Eier, zu seinen Entscheidungen zu stehen. Stattdessen schob er den Spielerinnen den Schwarzen Peter zu. „Du kannst dich nicht von einem Bauchgefühl leiten lassen, Greg“, sagte ich. „Ich bin seit drei Jahren deine Stammtorhüterin. Und jetzt, im wichtigsten Spiel des Turniers, schmeißt du mich raus, weil dein Bauch dir das sagt?“ 192 |


Mein Ton gefiel Greg offenbar nicht. Ich weinte nicht und knickte auch nicht ein. Statt es ihm leichtzumachen, hielt ich mit Worten und Logik dagegen und hatte meine Gefühle im Zaum. Deshalb versuchte er, mich zu provozieren, so wie den ganzen Sommer über auf dem Platz. Er kritisierte mein Training und sagte, Bri sei viel besser auf Zack gewesen. Was auch immer er an Begründungen daherbrachte, meine Arbeitsmoral konnte er nicht infrage stellen. Nach dem Englandspiel hatte er allen Stammspielerinnen gesagt, sie sollten es im Training langsam angehen lassen. Wir hatten im schwülen chinesischen Monsun in elf Tagen vier harte Spiele absolviert, deshalb hatte er uns ausdrücklich eingeschärft, wir sollten uns ausruhen. Ich war nicht die Einzige, die sich zurückhielt. Bri andererseits war seit drei Monaten ohne Spiel – klar, dass sie ihr Letztes gab. Ich sah rüber zu Phil und wusste nicht, was ich sagen sollte. Alle Logik war vollkommen für die Katz. Greg war total durcheinander; seine Rechtfertigungen, mich auf die Bank zu setzen, wechselten jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte. Diskutieren war zwecklos. Er war in Panik, und ich musste es ausbaden. Wir schwiegen beide. Ich hatte nichts mehr zu sagen, also stand ich auf und wollte gehen. Greg lehnte sich rüber und stieß mich wieder aufs Sofa. „Du gehst verdammt noch mal erst, wenn ich sage, dass du gehen darfst“, schärfte er mir ein. Dass er mich angerührt hatte, machte mich fassungslos. Ich wollte zurückhauen, ihn fester schlagen, als ich Marcus damals geschlagen hatte, oder die Cheerleaderin oder irgendjemanden in meinem Leben. Einen Sekundenbruchteil lang dachte ich, ich würde es wirklich tun – ich fühlte, wie sich meine Hand bewegte. Aber ich durfte mich nicht provozieren lassen. Also riss ich mich zusammen und warf einen Blick rüber zu Phil, froh, einen Zeugen zu haben. „Sind wir fertig?“, fragte ich eisig. | 193


Auf dem Weg in mein Zimmer zitterte ich vor Wut. Für den kurzen Aufenthalt in Hangzhou teilte ich mir das Zimmer mit einer anderen Torhüterin, Nicole Barnhart, was etwas eigenartig war. Normalerweise wohnen Torhüterinnen nicht zusammen. Ich zog es vor, den Raum nicht mit jemandem zu teilen, der um meinen Platz wetteiferte. Ich wollte mich Barnie nicht anvertrauen, aber sie war nun mal da, als ich Marcus anrief. All die Gefühle, die ich in der letzten halben Stunde mühsam unterdrückt hatte, sprudelten jetzt aus mir heraus. Ich weinte und schimpfte auf Greg und gab mir keine Mühe, irgendetwas zurückzuhalten.

III Ich ging aus dem Zimmer und den Gang entlang zu Kristine Lilly. Lil spielte ihre fünfte Weltmeisterschaft, sie war die letzte verbliebene Spielerin der ersten WM 1991. Wir standen uns nie sehr nahe, aber ich respektierte ihr Können. Ihre Erfolgsstory wirkte allerdings nicht einschüchternd auf mich. Sie musste mich anhören und ausreden lassen. „Lil, ich bin seit drei Jahren eure Stammtorhüterin“, sagte ich. „Wie kannst du im Halbfinale der WM beschließen, dass du jemand anderen im Tor haben willst?“ Lil wirkte über meine Frage erschrocken; offenbar hatte sie nicht damit gerechnet, dass Greg etwas von ihrem Privatgespräch ausplaudern würde. Auf diese Konfrontation war sie definitiv nicht vorbereitet. Sie stotterte und meinte, sie denke nicht, dass es etwas ausmache, wer im Tor steht. „Lil, du bist unsere Spielführerin“, meinte ich weiterhin. „Es sollte dir gefälligst etwas ausmachen, wer im Tor steht. Du solltest eine Meinung dazu haben. Aber wenn nicht, wenn du denkst, das sei egal, wie kannst du dann hingehen und dich so für Bri einsetzen?“ 194 |


Bei diesen Worten glaubte ich, einen kurzen Zweifel über ihre Augen huschen zu sehen. Hatte sie einen Fehler gemacht? „Es hat einen Grund, dass ich eure Stammtorhüterin bin“, redete ich weiter. „Weil ich die anderen ausgestochen habe. Du solltest wollen, dass die besten Spielerinnen auf dem Platz stehen. Es ist so arrogant, zu behaupten, es sei egal, wer im Tor steht.“ Ich schrie nicht, sondern war ganz ruhig. „Ich habe jeden Respekt verloren, den ich einmal vor dir hatte“, sagte ich. Dann ging ich weg, weiter den Gang entlang zu Abby und sagte ihr genau dasselbe. Von ihr fühlte ich mich noch mehr verraten – sie und ich entstammten derselben Generation von Spielerinnen. „Wie konntest du mir so in den Rücken fallen?“, fragte ich. Abby hatte zumindest eine Antwort parat. „Hope, ich halte Bri für die bessere Torhüterin.“ Das brachte mich zum Schweigen. Ich hielt es nicht für richtig, und ich glaubte nicht, dass Abby viel von Torhütern verstand. Aber wenigstens hatte sie eine Meinung und stand zu ihrer Rolle in der Angelegenheit. Das musste ich anerkennen. Ich ging zurück auf mein Zimmer, legte mich aufs Bett und rief meine Mutter an. „Ich spiele gegen Brasilien nicht mit, Mama“, sagte ich weinend. „Du schwindelst“, lachte meine Mutter. Ich log nicht. Es war kein böser Traum. Ich rollte mich zur Seite und vergoss bittere Tränen.

V Tags darauf trainierten wir im Stadion. Ich fühlte mich innerlich wie tot, aber ich hielt meinen Kopf aufrecht. Es waren nicht viele US-Medienleute in China – die Reise war kostspielig, und die meisten Sender und Zeitungen sparten ihr Budget für die Olympischen Spiele in Peking im folgenden Jahr. Aber die Reporter, die | 195


da waren, bekamen den Wechsel im Tor mit; in den Interviews nach dem Training war er das beherrschende Thema. Greg begründete seine Entscheidung vor der Presse damit, dass ihn Bri mit ihrer Leistung im Training und ihrer Vorgeschichte gegen Brasilien überzeugt habe. Auf die Frage, ob mein Selbstvertrauen erschüttert sei, sagte er, das interessiere ihn nicht; die Mannschaft sei hier, um Weltmeister zu werden. Lil blieb bei ihrer Theorie, ein so grundlegender Wechsel sei nicht weiter von Belang. „Aus Sicht des Teams spielt das keine große Rolle“, sagte sie den Journalisten. Die ESPN-Reporter spürten mich auf. „Ich bin nicht glücklich darüber, kein bisschen“, antwortete ich. „Aber die Entscheidung liegt beim Trainer, und ich muss sie hinnehmen. Ich muss für mein Team da sein. Sie werden mich brauchen. Sie werden alle 21 Spielerinnen brauchen.“ 27. September 2007 Die Beste der Welt, Papa? Ich weiß nicht recht, ob die Welt das so sieht. Kannst du dir das vorstellen – Halbfinale, und ich sitze auf der Bank. Aber ich brauche dich auch dort an meiner Seite, Papa. Er ist der Feigling, für den wir ihn immer hielten. Was wird jetzt passieren, Papa? Ist meine Karriere mit dem Spiel gegen England beendet? Papa, es ist hart. Meine Mühen waren umsonst. Bitte hilf mir und Marcus, das durchzustehen, Papa. Ich spiele noch immer für dich. Mit all meiner Liebe – Baby Hope Am Donnerstag, den 27. September sorgte die Nachricht, dass ich meinen Stammplatz verloren hatte, zu Hause für Furore, in Blogs und Sportsendungen. Die ESPN-Kommentatoren, Julie Foudy und der frühere US-Coach Tony DiCicco, zeigten sich über Gregs Entscheidung verwundert. Wieso nahm jemand eine so tief greifende Veränderung vor, wo doch alles so gut lief? „Es 196 |


wirkt sich negativ aus, wenn man nur auf positive Dinge achtet“, sagte Julie. „Ich halte die Entscheidung für falsch.“ DiCicco stimmte ihr zu. „Wenn es keinen Torwartstreit gibt, wieso dann einen entfachen?“ „Das ist die Art Entscheidung, die einem den Job rettet oder einen schnell arbeitslos macht“, meinte ESPN-Kommentator Rob Stone. Wegen des Zeitunterschieds liefen unsere Spiele in den USA im Morgengrauen. In Seattle, wo es noch dunkel war, schaltete Lesle Gallimore den Fernseher ein und las den Lauftext auf dem Schirm. „Hope Solo im Tor durch Briana Scurry ersetzt.“ Sie tastete nach ihrem Telefon und rief Amy an. „Ist Hope verletzt? Was ist los?“ Ich trug in Hangzhou keine Asche bei mir. Auf der Bank würde mein Papa nicht bei mir sein. Und dann begann das Spiel. Das schlimmste WM-Spiel in der US-Geschichte. Beim 0:4 gegen Brasilien wurde mein Team vollkommen auf dem falschen Fuß erwischt und überrumpelt.

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KAPITEL VIERZEHN

Kaltgestellt und angeprangert

A

ls die Schlacht geschlagen und die Brasilianerinnen davongetanzt waren, bahnte ich mir meinen Weg über den Platz. Abby hielt mich auf. „Hope, ich habe mich geirrt“, stammelte sie. Ich nickte, aber ich war unterwegs zu meiner Familie, um ihnen für die Unterstützung zu danken. Ich überquerte das Spielfeld, und Marcus beugte sich mir über das Geländer entgegen. Der Schmerz stand ihm ins Gesicht geschrieben. In den Händen hielt er seinen Behälter mit der Asche meines Vaters. „Das hätte für Papa sein sollen“, sagte er mit bebender Stimme, den Tränen nahe. Das versetzte mir den letzten Schlag. Ich hatte mir so sehr gewünscht, für meine Familie Stärke zu zeigen, zu Ehren meines Vaters. Ich sehnte mich danach, sie stolz zu machen. Jetzt war da nur noch mehr Schmerz. Aber es gab mir Kraft, meiner Familie nahe zu sein. Und Adrian, der am Ende des Spiels durchs Stadion zu der Tribüne über dem Tunnel gelaufen war, durch den Greg hinausging, um ihn anzuschreien und ihm zu sagen, was für ein Idiot er war. Adrian war wie ich und kümmerte sich nicht darum, wer ihn hörte. 198 |


Während sich das Stadion leerte, reichte ich meinen Verwandten die Hand und bedankte mich. Schließlich kam mich ein Sicherheitsmann holen. Als letzte Spielerin verließ ich das Feld Richtung Tunnel zur Umkleidekabine. Adrian wartete dort auf der Tribüne auf mich. „Sei stark, Hope“, sagte er. „Sei zuversichtlich. Sei aufrichtig. Hab keine Angst, diesem Arschloch zu sagen, was du denkst.“ In den Katakomben des Stadions warteten Reporter auf uns, gegen die Metallabsperrungen gedrängt, um zu hören, was wir zu der historischen Niederlage zu sagen hatten. Unser Pressebeauftragter Aaron Heifetz wich mir nicht von der Seite, als ich an den Journalisten und ESPN-Kameras vorbeiging. Ich war fast am Bus, als sich eine Frau, die ich nicht kannte, übers Geländer reckte und mir eine Frage stellte. Heifetz antwortete an meiner Stelle. „Sie hat nicht gespielt“, blaffte er. „Sprechen Sie bitte nur mit denen, die mitgespielt haben.“ Ich blieb stehen. Ich durfte nicht für mich sprechen? „Heif, das entscheide ich selbst“, sagte ich und wandte mich zu der Frau mit dem Mikrofon. „Die Entscheidung war falsch“, sagte ich, „und ich denke, jeder, der was von Fußball versteht, weiß das. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass ich diese Bälle gehalten hätte. Und Tatsache ist: Wir schreiben nicht mehr 2004. Jetzt ist 2007, und man muss in der Gegenwart leben. Man lebt nicht von großen Namen. Man kann nicht von der Vergangenheit zehren. Es ist egal, was jemand in einem olympischen Endspiel vor drei Jahren geleistet hat. Was zählt, ist jetzt, das ist meine Meinung.“ Ich wandte mich ab und ging zum Bus. „Sag mir nie mehr, welche Interviews ich geben darf“, erklärte ich Heifetz. Er war außer sich. Wahrscheinlich sei er jetzt seinen Job los, sagte er, dann ging er zurück, maßregelte die Journalistin, weil | 199


sie mich belästigt hatte, und führte Bri, ohne anzuhalten, an der Reportermeute vorbei. Im Mannschaftsbus ging ich nach hinten und setzte mich zu meinen engeren Freundinnen. Die Stimmung war zappenduster, kaum jemand sprach ein Wort. Die Spielerinnen waren erschöpft, wütend, schockiert. „Ich habe gerade ein Interview gegeben“, sagte ich zu Carli, Tina, zu allen, die in der Nähe waren. „Was hast du gesagt?“ „Dass ich überzeugt bin, dass ich diese Bälle gehalten hätte.“ „Au weia, Hope“, kicherte jemand. „Das geht schon in Ordnung“, meinte Carli. „Ich weiß nicht recht“, erwiderte ich und stöpselte mir meine Kopfhörer ins Ohr. Ich hatte nicht das Gefühl, dass irgendwas in Ordnung ging. Unser Team hatte soeben die schlimmste WM-Pleite aller Zeiten erlitten, die erste Niederlage seit fast drei Jahren. In 90 Minuten war alles, wofür wir gearbeitet hatten, zusammengebrochen. Der Bus verließ das Stadion und brachte uns in unser Hotel in Hangzhou. Dort wollten wir essen, kurz unsere Familien treffen und dann die lange Busreise zurück nach Shanghai antreten. Als wir in der Lobby standen und uns leise unterhielten, kamen die Brasilianerinnen und ihre Fans rein. Sie waren im selben Hotel untergebracht – eine saudumme Entscheidung der chinesischen Organisatoren. Die Brasilianerinnen tanzten in der Lobby Samba, schlugen ihre Trommeln und schlängelten sich durch die kleinen Gruppen amerikanischer Fans. Man spürte, wie die Spannung zunahm – es hätte mich nicht gewundert, wenn eine Schlägerei ausgebrochen wäre. Brasilien feierte auf typisch brasilianische Weise, aber damit rieben sie uns unsere Pleite förmlich unter die Nase. Kurz darauf saßen wir wieder im Bus und fuhren durch die Nacht nach Shanghai, wo ein paar Tage darauf das Spiel um den dritten Platz anstand. Einige schliefen, andere checkten ihre 200 |


Telefone, sprachen mit Verwandten in den Staaten, wo es immer noch früh am Morgen war. Carli smste mit ihrem Trainer James in New Jersey und wandte sich zu mir. „Hope, James meint, das entwickelt sich zu Hause zur Bombe. Es kommt überall in den Nachrichten.“ „Was?“ „Dein Interview.“ Den Rest der Fahrt über starrte ich aus dem Fenster, sah die Lichter in der dunklen Nacht vorbeirauschen und ließ meine Worte in meinem Kopf noch mal ablaufen. Ich hatte gesagt, was ich von Gregs Entscheidung hielt – wahrscheinlich hatte er der Presse seine Gründe mitgeteilt, wieso er auf Bri setzte. Das, fand ich, gab mir das Recht, meinen Standpunkt zu verdeutlichen. Als wir am Westin-Hotel in Shanghai ankamen, klemmte ich mich mit Carli und Marci Miller, mit der ich mir das Zimmer teilte, vor den Computer. Wir fanden das Interview auf ESPN und sahen es uns an. „Das ist nicht so schlimm, oder?“, fragte ich. „Es war an Greg gerichtet, nicht an Bri.“ Zögernd stimmten mir Carli und Marci bei. Nein, es war nicht so furchtbar. „Na ja“, sagte ich und versuchte dabei zu lächeln, „es ist wohl nur eine Frage der Zeit, dass mir die älteren Spielerinnen die Hölle heißmachen.“ Und schon läutete mein Telefon. Ich blickte zu Carli und Marci. „Das sind sie, garantiert“, sagte ich beim Abnehmen. Es war Lil. Sie sagte, die älteren Spielerinnen wollten mit mir sprechen, und bat mich, in ihr Zimmer zu kommen.

II Ich ging den Flur entlang. Inzwischen war es nach Mitternacht. Ich öffnete die Tür zu Lils Zimmer und sah die Altstars, die mich grimmig erwarteten. Kate Markgraf stand bei der Tür. Lil, Shannon | 201


Boxx, Christie Rampone, Abby und Bri saßen auf den Betten. Ich ging zur anderen Seite des Zimmers und lehnte mich an die Wand. Sie hatten das Interview gesehen und teilten mir mit, in ihren Augen hätte ich eine Teamregel gebrochen. „Nun, ich bin Profisportlerin – natürlich bin ich überzeugt, dass ich auf dem Platz etwas bewirkt hätte“, sagte ich. „Genau wie ihr“, fügte ich hinzu. „Wir sollten alle glauben, dass wir was bewirken können, oder wozu sind wir sonst Profis?“ „Ich kann dich verdammt noch mal nicht mal ansehen“, sagte Kate Markgraf. „Was zum Teufel glaubst du, wer du bist? Ich halte es nicht mal in einem Raum mit dir aus.“ Sie ging raus und schlug die Tür hinter sich zu. Wow, dachte ich, das scheint mir übertrieben dramatisch. Jetzt waren wir zu fünft. Ich stand da und ließ sie alle zu Wort kommen. Sie sagten, man werfe keine Mannschaftskameradin den Wölfen zum Fraß vor, ich hätte gegen die Regeln verstoßen und das Team verraten. Ich bekam zu hören, ich hätte all das ruiniert, worauf dieses Team beruhe, und niedergerissen, was Julie Foudy und Mia und Lil und all die Spielerinnen aufgebaut hätten, die uns den Weg geebnet hatten. „Es geht hier nicht um Julie Foudy oder irgendwen sonst aus der Vergangenheit“, sagte ich. „Es geht um unser Team. Ich käme nie auf die Idee, Bri wehzutun. Ich respektiere Bri absolut. Aber als professionelle Athletin bin ich überzeugt, dass ich in dem Spiel etwas bewirkt hätte. Ich glaube fest genug an mich, um zu wissen, dass ich es besser gemacht hätte. Ich denke, wir alle sind genug von uns überzeugt, um zu glauben, dass wir das Ergebnis beeinflussen können.“ „Wirst du dich wenigstens bei Bri entschuldigen?“, fragte jemand. Ich wandte mich zu Bri, um sie wissen zu lassen, dass ich ihr nicht wehtun wollte, nicht nach allem, was sie für mich getan 202 |


hatte, als mein Vater starb. Ich fühlte mich an die Wand gedrängt. Bri sprach zuerst. Sie gestand, ich hätte sie sehr verletzt. Sie habe versucht, für mich da zu sein, als mein Vater starb, und sei schockiert, dass ich ihr das antue. „Es tut mir leid, Bri“, sagte ich, „wirklich. Ich wollte dich nicht verletzen. Mein Kommentar war an Greg gerichtet, nicht an dich.“ Mir war klar, wie plump und peinlich sich das anhörte. Gerne wäre ich in diesem Moment mit Bri allein gewesen, aber ich war in einem Zimmer voller wütender Frauen, die einen öffentlichen Akt der Buße von mir forderten. Alles wirkte irgendwie gezwungen, inszeniert. „Hope, wir haben deine Sicht der Dinge gehört“, sagte Christie Rampone. „Du hast gehört, wie wir uns fühlen. Was machen wir nun, um voranzukommen und die Sache wiedergutzumachen?“ Dankbar blickte ich zu Pearcie. Sie versuchte als Einzige, uns aus diesem Schlamassel rauszubringen, all den scharfen Worten und dem Zorn. Die Gruppe beschloss, ich solle die gesamte Mannschaft um Verzeihung bitten. Für den Morgen wurde ein Treffen anberaumt. Ich verbrachte ein paar qualvolle Stunden in meinem Zimmer und fand keinen Schlaf. Den Großteil der Nacht weinte ich und überlegte, was ich tun sollte. Ich habe mein Leben lang immer gesagt, was ich denke, und konnte stets dafür geradestehen. Jetzt musste ich deswegen durchs Feuer. Es war schrecklich, Bri wehgetan zu haben. Sie war so gut zu mir gewesen, als mein Vater starb. Ich schwor mir, am Morgen mit ihr zu reden und die Sache zwischen uns ins Lot zu bringen. Als ich am nächsten Morgen zu dem Treffen ging, sah ich Bri an der Tür stehen. „Hast du eine Sekunde für mich?“, fragte ich sie. „Bitte lass dir versichern, dass ich dir nie wehtun wollen würde. Ich habe solche Achtung vor dir.“ | 203


Sie wandte sich ab. „Hope, ich kann dich jetzt nicht ansehen“, sagte sie. Okay, dachte ich, das wird seine Zeit brauchen. Die Bedingungen stellt Bri. Ich muss geduldig sein. Ich betrat den Raum und spürte, wie mich 20 Augenpaare durchbohrten, als stünde ich auf einer Bühne. Ich sagte dasselbe, was ich Abends zuvor im kleinen Kreis in Lils Zimmer gesagt hatte: „Ich wollte Bri nicht wehtun. Mein Kommentar galt Greg und seiner Argumentation. Ich sagte, ich hätte diese Bälle gehalten, weil ich absolut überzeugt sein muss, dass ich etwas ausrichten hätte können.“ Kein Anzeichen von Unterstützung, stattdessen Feindseligkeit und Wut. Sogar Hass. Harte Worte flogen mir entgegen. „Du hörst dich nicht aufrichtig an.“ „Kümmert es dich überhaupt, was du angerichtet hast?“ „Wie kannst du der Mannschaft so in den Rücken fallen?“ „Weißt du, wie furchtbar du im Fernsehen ausgesehen hast, schmollend auf der Bank?“ „Seit Greg dir mitgeteilt hat, dass du nicht auflaufen wirst, versinkst du in Selbstmitleid. Manche von uns sitzen bei jedem Spiel auf der Bank.“ In der Hoffnung auf ein mitfühlendes Gesicht blickte ich meine wenigen guten Freundinnen an, sah aber nur leeres, kaltes Starren. Ich schaute zu den jüngeren Spielerinnen, zu Aly und Cat, Leslie Osborne, Lori Chalupny und Tina Frimpong, meiner ehemaligen UW-Teamkameradin, und fühlte mich wie eine Geächtete. Alle waren auf der Seite von Lil und Abby. Niemand trat für mich ein. Nur in Carlis Gesichtsausdruck fand ich eine Spur von Mitgefühl. „Du hast dich nicht mal bei Bri entschuldigt“, sagte jemand. Ich hatte Bri schon am Abend zuvor in Lils Zimmer gesagt, dass es mir leidtat, und gerade eben vor der Tür mit ihr gesprochen. Dennoch entschuldigte ich mich noch einmal bei Bri, 204 |


vor allen anderen. Bis jetzt hatte ich bei dem Treffen die Fassung bewahrt, aber als ich den Mund auftat, brach meine Stimme. „Es tut mir leid, Bri“, sagte ich. „Ich wollte dir nie wehtun. Es tut mir leid, dass ich es getan habe.“ Dann schickte man mich raus, um über mein weiteres Schicksal zu befinden.

III Später am Morgen hatten wir ein Training im Pool des Hotels, um unsere Beine zu regenerieren. Mir war unwohl, ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Niemand sprach mit mir, und ich hatte keine Ahnung, was in meiner Abwesenheit beschlossen worden war. Im Pool hielten sich meine Mitspielerinnen von mir fern, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Nach den Übungen verließ ich den Pool als Erste. Sobald ich draußen war, versammelten sich die anderen zum gemeinsamen Hurraruf. O Gott, dachte ich, ich sehe nicht gerade wie ein Teamplayer aus. Sofort sprang ich wieder ins Wasser. Erst da dämmerte mir, dass der Hurraruf meinem Weggehen gegolten hatte. Nach dem Training stellte sich Greg in der Hotellobby einer kleinen Abordnung der Presse. So gut wie alle Fragen drehten sich um mich. „Es gibt immer eine Möglichkeit zur Versöhnung“, betonte er. „Wir werden uns bemühen, diese Hürde zu überwinden.“ Aber meine Teamkameradinnen hatten sich bereits entschieden, dass eine Versöhnung nicht infrage kam. Nachdem ich das Treffen verlassen hatte, befanden sie meine Entschuldigung für Heuchelei. Ich musste bestraft werden. Sie würden nicht zulassen, dass ich um den dritten Platz mitspielte. Ich durfte nicht mal zu dem Spiel gehen, nicht mehr mit der Mannschaft | 205


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