Kadewe 2017 Food

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Algen

GRÜNE KRAFTWERKE Warum Algen die Zukunft unserer Ernährung sind. TEXT JULIA NIEMANN

Im Englischen bezeichnet der Begriff »pond scum« sowohl die Schraubenalge, eine Grünalgenart, als auch menschlichen Abschaum. Wenn man jemanden »pond scum« nennt, verkehrt man meistens schon vorher, spätestens aber danach üblicherweise nicht mehr auf freundschaftlicher Basis. Das allein zeigt, dass die Alge im Westen keine besonders gute Reputation hat. Umso überraschender daher die Tatsache, dass die Wasserpflanzen langsam aber sicher in unsere Ernährung hineingleiten. »Is pond scum the future of food?«, fragte die LA Weekly kürzlich ungläubig auf ihrer Titelseite. Ob also Abschaum die Zukunft der Ernährung sei. Um die Antwort vorwegzunehmen: Ja. Glaubt man jüngsten Studien zum Thema, bleibt uns gar nichts anderes übrig, als uns an die Vorstellung zu gewöhnen, dass Algen künftig fest zu unserer Nahrung gehören werden. Algen zählen zu den ältesten pflanzlichen Organismen der Erde. Sie wachsen zehn- bis zwanzigmal so schnell wie Landpflanzen und liefern, je nach Art, eine Vielzahl an unterschiedlichen Nährstoffen. Diese Eigenschaften machen sie besonders interessant für die Lebensmittelindustrie. Wertvolle Öle, ein hoher Vitamin-B12-Gehalt, viele Proteine und Omega-3-Fettsäuren, die in so hoher Konzentration ansonsten nur in Fisch und Fleisch zu finden sind. Als Wasserpflanzen brauchen Algen keine Pestizide und keinen Acker. Und das Wasser, in dem sie wachsen, kann recycelt werden. Kurzum: Algen sind nachhaltig für Umwelt und Klima, sie sind gesund und reichlich vorhanden – könnten also auch einen wesentlichen Beitrag im Kampf gegen den Welthunger leisten. So weit, so gut. Aber schmeckt das auch? Wer Algen allein mit dem glitschigen Kitzeln am Bauch assoziiert, das man beim Durch-den-See-Schwimmen lieber nicht erleben möchte, unterschätzt die Vielfalt des Lebensmittels. Schon die Azteken schöpften die Blaualge Spirulina von Wasseroberflächen und verarbeiteten sie zu Kuchen. Auf westlichen Tellern sind Makroalgen heute längst alltäglich, meist allerdings in Gestalt der Nori-Blätter, die um japanische Maki oder Onigiri gewickelt werden. Dabei können Algen auch cremig sein, etwa wenn man sie zu Pesto verarbeitet. In Sesamöl mariniert und geröstet, werden sie zu knusprigen Chips, und aus rohen Algen lässt sich ein wohlschmeckender Salat zubereiten. Braunalgen sind dagegen vor allem in der japanischen Küche beliebte Geschmacksträger. Es gibt etwa tausend verschiedene Arten, weltweit werden mehrere Millionen Tonnen jährlich geerntet. Die meisten Algen werden in Japan und China gegessen, aber auch in Kalifornien und in der Bretagne gelten sie als Delikatessen und landen regelmäßig in den Kochtöpfen. Im deutschsprachigen Raum fasst die Alge kulinarisch allmählich Fuß. In einer Bäckerei auf Sylt wird Algenbrot aus Sylter Algen

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angeboten. In Puddings, Joghurts, Eiscreme und Margarine werden die Wasserpflanzen als Stabilisatoren oder Bindemittel eingesetzt. Seit einem Jahr gibt es auch Algenlimonade. Die Wiener Chemikerin Anneliese Niederl-Schmidinger entwickelte das Getränk aus der Süßwasseralge Chlorella mehr oder weniger zufällig. Sie forschte eigentlich im Bereich der erneuerbaren Energien. Als Grundlage für Bio-Diesel suchte sie nach Technologien zur Züchtung von Mikroalgen – und erkannte, wie wertvoll die Inhaltsstoffe der Pflanzen sind. Also erfand sie die Algenlimonade »Helga«; der Name leitet sich von »healthy algae«, gesunde Alge, ab. Die Algen für »Helga« werden in Deutschland kultiviert, in der Altmark in Sachsen-Anhalt. In einem geschlossenen Glasröhrensystem werden dort hochqualitative Pflanzen im Gewächshaus angebaut. Auch auf Sylt gibt es eine deutsche Algenfarm. Dort werden ganzjährig Nordsee-Makroalgen gezüchtet, die dann unter anderem an Restaurants verkauft werden. Die Qualitätssicherung ist bei der Produktion besonders wichtig, weil nur so sichergestellt werden kann, dass die Algen keine Schwermetalle enthalten oder bakteriell verunreinigt sind. Die Zahl deutscher Produktionsstätten wächst, und das nicht nur für die Nahrungsindustrie. Algen sind auch interessant für die Entwicklung von Treibstoffen und für die Produkte von Pharma- und Kosmetikkonzernen. Und für die Kunst! Womit werden unsere Teller gefüllt sein, wenn Temperaturen und Meeresspiegel so weit gestiegen sind, dass das Wasser unsere Küsten überschwemmt? Die New Yorker Künstlerin und Ernährungswissenschaftlerin Allie Wist versuchte, mit ihrem Kunstprojekt »Flooded« (Überflutet) eine Antwort auf diese Frage zu geben: Sie lud Anfang 2017 zu einer futuristischen Dinnerparty ein, deren Speisenfolge aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen gemäß vorwegzunehmen versuchte, wovon wir uns in wenigen Jahrzehnten ernähren werden. Ein flüchtiger Blick auf Wists Menü reicht schon, um das große kulinarische Thema dahinter zu erahnen: Algen. Die Gastgeberin tischte etwa einen Schokoladenpudding aus der japanischen Algengelatine Agar-Agar und Karuben, den kakaoähnlichen Schoten des Johannisbrotbaums, auf. In Westafrika wird es bald schon zu heiß und trocken für die Kakaoproduktion sein, und widerstandsfähige Pflanzen wie Algen und Karub reagieren weniger empfindlich auf die Konsequenzen des Klimawandels. Dazu reichte Wist einen Salat aus Seetang, weil die Wasserpflanzen fünfmal mehr Kohlendioxid absorbieren als Landpflanzen und unter schlechteren Bedingungen besser und schneller wachsen. Als Digestif gab es einen Drink, in dem giftgrüne Eiswürfel aus Spirulina-Algen schwammen. Die gute Nachricht für Skeptiker: Sie waren geschmacklos.


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