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Farbregler AUF ANSCHLAG
Es ist, als habe eine gütige Macht sich im Kalender verstolpert. Während draußen noch Frühlingsstürme den Tauentzien durchfegen, hat hier drin irgendwer die Zeit um ein paar Wochen vorgedreht und lässt einen die Mühen der Ebene (also die lange, für wetter- und lichtsensible Menschen beschwerliche Zeit zwischen Neujahr und Gründonnerstag) vergessen.
Die Mode hat es ja nun mal so an sich, dass sie der Zeit immer ein paar Schritte voraus und deshalb die Stoff gewordene Vorfreude ist. In der 4. Etage lässt sich also schon mal besichtigen, befühlen und anprobieren, wie hervorragend der Sommer werden könnte: Da sind unzählige Blumenmuster auf luftigen Kleidern, die an sich im lauen Wind wiegenden Klatschmohn und Kornblumen denken lassen. Da hängt naturfarbenes Leinen (Sonne, Schlagschatten, vor Hitze flirrende Luft!) und weckt Erinnerungen an eine ganze Ladung voller Farben und Gerüche – Sand und salzblaues Meer, Technicolor-Sonnenuntergang, Zitronen und Tomaten, Rosé und Negroni Sbagliato. Und wer bei einem kurzen, ärmellosen Kleid, dessen in Buntstifttönen gehaltene Fransen bei jeder Bewegung wippen, keine gute Laune bekommt, muss einfach noch eine Runde durchs Department drehen – und sich von den allgegenwärtigen Neonfarben aufwecken lassen. Da sieht es aus, als hätte jemand in der Bildbearbeitung die Regler für Kontrast, Sättigung und Schärfe bis zum Anschlag hochgeschoben.
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Zwei Besucherinnen, Freundinnen in ihren Endvierzigern, probieren Shirts in Granny-Smith-Grün und Shocking-Pink an. Als sie sich im Spiegel betrachten, sagt die eine zur anderen: „It’s so brightening“, und meint damit mutmaßlich sowohl die Wirkung auf den Gesamtlook als auch die Stimmung. Als wäre es abgesprochen, klingt aus Richtung der Rolltreppen ein helles Lachen herüber.
Ein paar Meter weiter zieht ein Schulkind die ältere Frau, mit der es unterwegs ist, zu einem neongrünen bauchfreien Leinentop mit Puffärmeln. „Schau dir das mal an!“, ruft es aufgeregt. Die Dame antwortet: „Ich finde es recht knallig.“ Das, möchte man ihr freundlich lächelnd zuflüstern, ist genau der Punkt •
Als Kulturjournalistin schreibt Anne Waak über fast alles, von Mode und Kunst über Food bis Feminismus. Ihr neuestes Buch „Kümmern und kämpfen. Warum geschlechtergerechte Erziehung uns alle freier macht“ erscheint am 17. März 2023 bei Goldmann.