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„ ALS KARL SAGTE : ‚ PERFEKT ‘ , HAT MICH DAS SEHR GLÜCKLICH GEMACHT “
Im Grunde hat er den Beruf, den er seit nahezu 35 Jahren ausübt, selbst erfunden: Als Sound Director fertigt Michel Gaubert die Musik, die Saison für Saison bei den weltweit wichtigsten Modenschauen läuft, nach Maß an. Celine, Dior, Raf Simons und JW Anderson – kaum ein Top-Label hat sich nicht schon auf Gauberts enzyklopädisches Musikwissen und sein untrügliches Gespür für Sounds verlassen. Eine besonders enge Arbeitsbeziehung pflegte der Franzose dabei mit dem 2019 verstorbenen Karl Lagerfeld, der bekannt war für die spektakulären Inszenierungen seiner Kollektionen für das Haus Chanel. Wenn sich also einer mit der engen Verbindung von Mode, Musik und Emotionen auskennt, dann ist es Gaubert. Das Alsterhaus-Magazin trifft den Soundtüftler in seiner Wohnung im 16. Pariser Arrondissement.
MICHEL GAUBERT, IHRE KARRIERE IN DER MUSIK BEGANN ENDE DER 1970ER-JAHRE IN PARISER SCHALLPLATTENLÄDEN WIE DEM CHAMPS DISQUES AUF DEN CHAMPS-ÉLYSÉES, FÜR DEN SIE ALS EINKÄUFER ARBEITETEN, ANSCHLIESSEND WURDEN SIE DJ IM LEGENDÄREN CLUB LE PALACE IM 9. ARRONDISSEMENT.
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WIE KAMEN SIE SCHLIESSLICH ZUR MODE?
Das muss so um 1986 oder ’87 gewesen sein. Bis dahin hatte ich schon mal hier und da Freund*innen bei ihren Modenschauen mit der Musik geholfen. Aber so richtig ernsthaft betrieb ich das erst, als Produzent*innen von Schauen bekannterer Designer*innen mich baten, sie mit Soundtracks auszustatten. Eine Modenschau, die mir besonders in Erinnerung ist, ist natürlich meine erste Zusammenarbeit mit Karl Lagerfeld für sein eigenes Label.
WIE GENAU KAM DIE ZUSTANDE?
Wir kannten uns vom Ausgehen in Paris, aber als er mich für die Frühjahr/Sommerkollektion 1990 anfragen ließ, war ich mir erst nicht sicher, ob ich schon so weit war. Ich wusste nicht mal, wie ich mit jemandem wie Karl sprechen geschweige denn professionell umgehen sollte.
Aber ich habe keine Angst davor, Neues auszuprobieren, und ich hatte auch schon damals das Selbstvertrauen, dass ich das schaffen würde. Also sagte ich Ja. Er war sehr charmant. Manchmal spielte ich ihm Sachen vor, die noch nicht fertig waren, und er sagte: „Keine Sorge, wir arbeiten hier zusammen an etwas – ich bin auch noch nicht fertig.“ Für ihn war diese Kollaboration ebenfalls etwas Neues. Bis dahin liefen Modenschauen üblicherweise unter einem Thema und zu einem einzigen Musikstück. Ich wollte das anders machen und eine Dramaturgie mit Höhen und Tiefen kreieren. Karl verbrachte dann eine halbe Stunde neben mir am DJ-Pult, hörte sich jedes einzelne Stück an, das ich rausgesucht hatte – und sagte: „Das ist perfekt!“ Das hat mich sehr glücklich gemacht. Leider kann man im Internet nur Ausschnitte der Videoaufnahmen davon finden.
ES ERSCHEINT SELBSTVERSTÄNDLICH, DASS DIE ATMOSPHÄRE EINER FASHION SHOW UND DAMIT DIE BOTSCHAFT, DIE SIE SENDET, AUCH STARK ÜBER DIE MUSIK VERMITTELT WIRD. SIE HABEN EINMAL GESAGT, DASS IHR JOB JEDOCH ERST ETWA IN DEN
VERGANGENEN 15 JAHREN BREITE AUFMERKSAMKEIT
ERFAHREN HAT. WIE ERKLÄREN SIE SICH DAS?
Ich denke, dass Musik in diesem Zeitraum im Leben vieler Menschen eine größere Rolle spielt als zuvor. Früher sagten viele, dass sie nichts von Musik verstünden oder sich nicht so dafür interessierten. Heute ist Musik durch Plattformen wie Spotify und YouTube und durch unzählige Festivals viel zugänglicher und allgegenwärtig. Viele benutzen sie als Teil ihres Images, genau wie ihre Outfits oder die Orte, an denen sie sich aufhalten. Dadurch ist auch das Verständnis dafür gewachsen, dass der Soundtrack, wie bei einem Film ja auch, ein wichtiger Aspekt der Gesamtinszenierung einer Show ist.
SIE ARBEITEN MEIST ENG MIT DEM ODER DER
DESIGNER*IN ZUSAMMEN. ABER ANHAND WELCHER
KRITERIEN ENTSCHEIDEN SIE SICH FÜR EINE
KONKRETE MUSIKSTIMMUNG?
Ich überlege mir: Möchte ich das Publikum glücklich machen, verärgern oder es zum Weinen bringen? Nein, ganz so läuft es nicht. Obwohl wir das auch hinkriegen würden. Das bewegte Bild – also die Models, die in der Kollektion über den Laufsteg gehen – lässt sich mithilfe des Sounds stark beeinflussen. Und manchmal möchte ich den Bildern einen kleinen Twist verpassen. Statt eine in Marineblau gehaltene Kollektion zu Möwengeschrei zu zeigen, möchte ich eine weitere Dimension finden, eine andere Logik. Ich möchte die Dynamik nutzen, die in einem Stück steckt, und die Erwartungen unterwandern. Subversion ist eines meiner Lieblingsspiele – wenn die andere Person bereit ist, sich darauf einzulassen.
WELCHE SHOW KOMMT IHNEN BEIM STICHWORT
„EUPHORIE“ ALS ERSTES IN DEN SINN?
Die Präsentation der Chanel Cruise Collection 2016/17 in Kuba.
WARUM AUSGERECHNET DIE?
Sie war unglaublich, vor allem auf einer menschlichen Ebene. Alle Mitarbeiter*innen von Chanel waren für fünf oder sechs Tage nach Havanna gekommen. Wir wohnten alle im selben Hotel – es war, als wären wir eine Band auf Tour. Wir arbeiteten mit Fachleuten vor Ort zusammen, darunter 60 Musiker*innen. Sie waren so hingebungsvoll und interessiert daran, das Ganze möglichst gut zu machen. Statt traditionelle Musik zu spielen, erarbeiteten wir etwas, das an Ennio Morricone erinnerte, aber auf Kubanisch. Das Ergebnis war sehr mitreißend und berührend. Die Show fand unter freiem Himmel auf einem Boulevard statt, beim Finale spielten zwei Dutzend ganz in Weiß gekleidete Rumba-Musiker*innen, alle im Publikum standen auf und tanzten. Was für ein Souvenir.
GAB ES AUCH SHOWS, DIE NICHT WIE ERHOFFT VERLAUFEN SIND?
Anfang der Neunziger kamen DAT-Kassetten auf, das waren digitale Audio-Magnetbänder. Der Klang war sehr gut und man konnte von Track zu Track springen – also idealerweise. Eines Tages aber verhedderte sich während einer Show das Tape in der Maschine und ließ sich nicht mehr abspielen –ein Albtraum. Ich tat, was auch immer ich konnte, damit wenigstens irgendeine Musik lief. Diesen Job habe ich wirklich in den Sand gesetzt.
ZURÜCK ZU SCHÖNEREM: WAS IST DIE FRÜHSTE MUSIKALISCHE ERINNERUNG, DIE SIE MIT EUPHORIE UND GLÜCK VERBINDEN?
Die stammt aus meiner Kindheit, aus der Zeit, als ich mit meinen Eltern nach Südfrankreich in den Urlaub fuhr. Sie liebten Musik und hörten beim Fahren immer Radio. Es waren sehr lange Fahrten, bestimmt zehn Stunden. Ich erinnere mich an Serge Gainsbourg und die Rolling Stones. Immer, wenn deren Lieder kamen, freute ich mich. Ich selbst fahre bis heute nur als Beifahrer Auto und bemerke immer wieder, wie sehr viel aufnahmefähiger ich in diesem begrenzten Raum bin.
WAS HÖREN SIE, WENN SIE AUGENBLICKLICH GUTE LAUNE BEKOMMEN WOLLEN?
Da gibt es einiges, ich brauche viel Abwechslung. Aber als Erstes fällt mir Lou Reed ein, das „Transformer“-Album. Als es 1972 herauskam, verbrachte ich ein Schuljahr in Kalifornien. Reed spielte auf der Platte mit Ambiguität, mit Androgynität und dem Schwulsein. Die Texte, ich denke besonders an „Walk on the Wild Side“, waren subversiv, aber so uneindeutig, dass das Album nicht verboten werden konnte. „Transformer“ wurde unter anderem von David Bowie produziert, den ich liebte. Das Zusammentreffen dieser zwei Musiker fand ich unglaublich, das ganze Album war ein Augenöffner für mich.
WIE ENTDECKEN SIE HEUTZUTAGE NEUE MUSIK?
Ich höre bis heute Radio, zum Beispiel den Internetsender NTS. Obwohl ich das nicht unbedingt mache, weil ich auf der Jagd nach neuen Stücken bin, sondern weil mich interessiert, was andere Menschen zu sagen haben. Ansonsten versorgen mich befreundete DJs und diverse Promoter*innen mit Musik. Ich gehe überall auf der Welt in Plattenläden, lese viel Musikpresse und halte mich mit Instagram über Neuerscheinungen auf dem Laufenden.
LASSEN SIE UNS NOCH IN DIE ZUKUNFT SCHAUEN: WELCHEN ANSTEHENDEN EREIGNISSEN SEHEN SIE MIT FREUDE ENTGEGEN?
Wir leben in einer Zeit, in der alles so unvorhersehbar scheint. Daher denke ich nicht allzu weit in die Zukunft. Ich plane nicht über die nächsten zwölf Monate hinaus. Ich werde nach Indien reisen, nach Mexiko, nach Miami – wo jeweils tolle Projekte auf mich warten. Ich plane nicht, aufzuhören zu arbeiten, ich plane nicht weiterzuarbeiten. Ich mache einfach, was ich schon immer getan habe: das, wonach ich mich fühle