Art on wheels

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ART ON WHEELS





ART ON WHEELS Judith Adelmann Stefanie Brehm Kris Buckley Leonid Hrytsak Julia Klemm Henriette Olbertz-Weinfurter Viola Relle Raphael Weilguni supported by Markus KarstieĂ&#x; sponsored by Danner-Stiftung 2014


PITFIRING



Pitfiring Am 16. Dezember 2014, um 8.30 Uhr, treffen sich acht KünstlerInnen im Akademiegarten der Akademie der Bildenden Künste in München und richten einen Erdofen ein: In eine am Vortag ausgehobene, 60 Zentimeter tiefe Grube schichten sie ihre getrockneten, geschrühten und leicht vorgebrannten Tonobjekte, zum Großteil kleinformatige Restobjekte, störrisches Kleingut, das sich nicht in das Ensemble einer Kunstausstellung eingliederte. Um diesem Material ein Höchstmaß an experimenteller Freiheit in der Feuergrube zu ermöglichen, umwickeln es die KünstlerInnen teilweise mit Metallen (Kupferdraht), organischen Materialien (Pferdedung, Pflanzendünger, Pferdehaar, Kaffeesatz etc.) und Mineralien (Salz). Dann befüllen sie die Grube mit Sägespähnen und Zeitungen, bringen eine Brandwand an – und legen das Feuer. Nach einer ganztägigen Wache bergen sie am nächsten Morgen, vorsichtig wie Archäologen die Objekte, säubern sie und löschen die Glut. Unter den dicken, rußigen Schichten werden Flammenverläufe, Schwarzweißkontraste und weitere überraschende farbliche Oberflächenstrukturen sichtbar: Das vormals vereinzelte Kleingut ist site-specific geworden, während des Pitfiring zu einem Ensemble gebrannt.

Pitfiring, oder Grubenbrand, zählt zu den ältesten Kulturtechniken zur Keramikherstellung. Früheste Einzelbeispiele gebrannter Artefakte in Eurasien, wie beispielsweise die Venus von Dolní Věstonice, datieren Archäologen in einen Zeitraum um 26.000 v.Chr. (die Venus wurde allerdings nicht in einer Grube, sondern höchtswahrscheinlich in einem offenen, rituellen Feuer gebrannt). Lange Zeit ging die Forschung davon aus, dass Keramik erst mit der Sesshaftigkeit des Menschen aufgekommen sei. Dame Kathleen Mary Kenyon, die wohl berühmteste Archäologin des 20. Jahrhunderts und bekannt für ihre innovativen Grabungstechniken, war eine derjenigen, die diese allgemeine Annahme widerlegten. Dame Kenyon tat dies in den 1950er Jahren im Rahmen ihrer Grabungen bei Jericho: Die Nomaden besaßen hier bereits Keramik, die Städter noch nicht.















ART ON WHEELS



Art On Wheels Akademie der Bildenden Künste – Hauptbahnhof – Königsplatz – Opernrondell – U-Bahn Hasenbergl. Nach der Bergung der Pitfiring-Objekte aus der Erdgrube wandern sie mit einigen neu hinzugekommenen Werken wie denjenigen von Leonid Hrystak oder Henriette Olbertz-Weinfurter von Ort zu Ort, platziert in Autos, wo sie Platz nehmen, zu Präsenzen und Beifahrern werden. Die meisten Autos stammen aus dem vergangenen Jahrhundert und tragen fremde Kennzeichen. Einmal an den belebten städtischen Durchgangsorten angekommen, transformieren sich die Gefährte in Flügelwesen mit weit geöffneten Türen, Kofferräumen und Motorhauben, die sich einander zuwenden und in Ausstellungsflächen mit maximalen Einblicken verwandeln – ein automobiles Happening, das archaische und moderne Kulturtechniken sowie prozessuale und fluide künstlerische Praktiken jenseits des White Cube vereint: Kris Buckley verschmilzt in ihrer Performance den Habitus eines städtischen Demonstranten mit demjenigen eines Musikers und eines Künstler-Gurus, indem sie vom Dach eines Mazda Demio mit Bullfängern durch ein Megaphon rappt; Leonid Hrystak zeigt mit seinem Handschuh aus Fahrradbremsbelägen

im Fünfsekundentakt die Himmelsrichtungen an und schleust auf diese Weise als lebender Kompass ein Ortungssystem in die Stadt, das hier seine traditionelle Funktion der Orientierung verloren hat; gleich einem archaischen Berührungs- und Beseelungsritual wedeln Viola Relle und Raphael Weilguni mit einem Pferdeschweif BesucherInnen ab, die einzelne Pitfiring-Objekte in den Händen halten. Und auch die städtischen Fortbewegungsmittel par excellence, die Kraftfahrzeuge, werden in ihrem ordnungsgemäßen, funktionalen Zusammenspiel von Verbrennungsmotor, Kraftübertragung, Fahrwerk, Karosserie und Elektronik durch die Kunst gestört. Mit teilweise dadaistischem Witz setzen die archaischen, ‚heißen Kunstobjekte‘ die Fahrzeuge außer Kraft: Manche Objekte, wie diejenigen von Viola Relle, ragen wie in die Vertikale modellierte Luftfilter vom Motor aus in die Höhe; dort, wo früher die Wackeldackel saßen, machen sich nun Julia Klemms um Konstruktionsrohre herum aufgebaute Tongebilde mit bewegter Oberfläche breit, oder zoomorph anmutende, plüschig-verrußte Objekte der Künstlerin scheinen aus dem Auspuff zu emergieren; die mit einer Glasmacherpfeife unter großer Hitze geformten „Goldkäfer“ von Henriette Olbertz-Weinfurter legen sich mit ihren glatten,


reflektierenden, vergoldeten und transparenten Oberflächen fremdkörperartig auf elektrische Leitungen, Luft- und Ölschläuche im Motorraum; Judith Adelmanns Kofferraum lädt zum Picknick mit kannibalischen Elementen ein und verwandelt sich gleichzeitig in einen Material- und Klangraum, in dem sich verschiedene Zeitschichten überlagern; Stephanie Brehms Kleingut versammelt sich auf dem zu einem weißen Display mutierten Autodach und zieht in der Wahrnehmung die sich verändernde städtische Kulisse in das automobile Happening: Die Stadt wird Teil der nomadischen Art On Wheels. Die Abschlussperformance entwendet die Kunstwerke wieder ihrem automobilen Kontext und schlägt den Bogen zurück zum Pitfiring und auch zu den Archäologen: Gleich Trophäen halten die Künstlerinnen ihre ‚geborgenen‘ Objekte in die Höhe.
















Einsammeln des getrockneten Pferdedungs

Objekt mit Kupferdraht, Pferdedung und Pflanzendünger

Links: Augehobene Grube Rechts: Befüllen mit Sägespähnen

Einbetten der Arbeiten

Objekte werden aus der Glut geholt

Viola Relle

Judith Adelmann

Kris Buckley vor der Akademie der Bildenden Künste

Julia Klemm

Julia Klemm


Leonid Hrytsak

Henriette Olbertz-Weinfurter

Am Hauptbahnhof

Stefanie Brehm am Hauptbahnhof und Kรถnigsplatz

Performance von Viola Relle und Raphael Weilguni am Hauptbahnhof

Henriette Olbertz-Weinfurter

Performance am Opernrondell



©H. Olbertz-Weinfurter, J. Klemm 2015 Auflage: 50 Layout: Henriette Olbertz-Weinfurter, Julia Klemm Text: Tanja Klemm Ort: Akademie der Bildenden Künste München



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