70 Jahre Deportation Alexander Muth

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Alexander Muth 70 Jahre Deportation der Deutschen in der Sowjetunion

Konferenz anlässlich des 70. Jahrestages der Deportation der Deutschen in der Sowjetunion 28. – 31.08.2011 Begegnung junger Menschen mit Zeitzeugen


Vorwort Als wir, Herr Wohlfahrt und ich (Alexander Muth) auf dem Heimweg von Berlin waren, wo wir 4 Tage verbrachten mit der Jugendbegegnung und als Teilnehmer an der Konferenz anlässlich der Deportation der Deutschen in Russland im September 1941, unterhielten wir uns über das in den 4 Tagen Erlebte. Ich sagte, dass mir alles sehr gefallen habe und ich das Ganze als interessanten Urlaub für mich ansehe. Ich nahm mir vor, zu Hause das Erlebnis in meinem Tagebuch festzuhalten. Ich hatte mich in Berlin mit der Organisatorin der Jugendbegegnung mit Zeitzeugen Frau Bechtold und dem Fotografen Herrn Kühl verabredet, dass sie mir Fotos von der Veranstaltung für mein Tagebuch zuschicken werden. Da sagte Herr Wohlfahrt, er möchte sich auch ein Exemplar als Weihnachtsgeschenk wünschen. Ich konnte dem Mann diese Bitte nicht abschlagen, hatte er mich doch diese drei Tage überallhin begleitet und sorgsam betreut. Ich versprach es ihm. Als ich Frau Bechtold wegen der Fotos anrief, sagte ich ihr, dass ich plane, ein kleines Album mit Text und Bildern von der Konferenz anzufertigen. Da sagte sie sofort, da möchte sie auch ein Exemplar haben. Ich versprach ihr, diese Bitte zu erfüllen. Das veranlasste mich, dieses Heft ordentlich zu gestalten. Deswegen musste ich bei meinem Freund Johannes Herber Hilfe suchen, damit er die Verarbeitung des Textes übernimmt, was er auch versprach zu tun. So kam dieses Heft mit anstrengender Arbeit für uns beide zustande. Horn-Bad Meinberg, August 2011

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70 Jahre Deportation der Deutschen in der Sowjetunion Am 28. August 2011 jährte sich der Erlass über die Deportation der Deutschen in der Sowjetunion zum 70. Mal. Anlässlich dieses Ereignisses organisierte Dr. Christoph Bergner, MdB, Parlamentarischer Staatssekretär, Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten eine Konferenz zum Gedenken an die Opfer der Deportation der Deutschen in der Sowjetunion, die vom 30. – 31. August 2011 in der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin stattfand. Elena Bechtold, die Bundesvorsitzende des Jugend- und Studentenrings der Deutschen aus Russlands (JSDR), wurde beauftragt, ein Begegnungsprojekt „Geschichte erleben, begegnen und gedenken: persönliche Begegnung junger Menschen mit Zeitzeugen der Deportation der Deutschen in Russland“ zu organisieren, das vom 28. bis 31. August 2011 in Berlin stattfand und ein gemeinsames Projekt des Jugend- und Studentenrings der Deutschen aus Russland und der Bundesstiftung „Flucht. Vertreibung. Versöhnung“ war. Jetzt stand vor Elena Bechtold die Frage: wo sollte sie geeignete Zeitzeugen finden, die es zur Zeit nicht mehr viel gibt? Die meisten der noch lebenden sind krank, altersschwach und trauen sich nicht mehr, so etwas mitzumachen. Frau Bechtold ging mit der Suche ins Internet. Sie stieß auf mein Buch „Erinnerungen eines Zeitzeugen. Die Vertreibung der Wolgadeutschen unter Stalin in den Jahren 1941 - 1989“. Sie bestellte sich das Buch, las es durch und sah, dass ich als Zeitzeuge tauglich sein könnte. Frau Bechtold wandte sich an die Leiterin des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte Katharina Neufeld, erkundigte sich über meine Gesundheit usw. Als Frau Katharina Neufeld ihr berichtete, dass ich gesundheitlich noch fit bin für mein Alter von 86 Jahren und für ihr Suchen geeignet wäre, rief mich Frau Bechtold an. Sie stellte sich kurz vor, wer sie sei und um was es gehe. Als ich erfuhr, dass es um die Aufklärung junger Menschen gehe, sagte ich sofort zu, denn es war schon immer mein Anliegen seitdem ich in Deutschland, in der Heimat meiner Vorfahren lebe. Denn es ist ja so, dass die Überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland von unserem Schicksal in der früheren Sowjetunion kaum oder gar nicht informiert ist, und auch von den Medien davon nicht informiert wird. Und wenn sich jetzt eine Gelegenheit bietet, den jungen Leuten, der jungen Generation solche Informationen zu bringen, freue ich mich sehr. Frau Bechtold äußerte den Wunsch, sich mit mir mal persönlich zu treffen, um die Sache konkreter zu besprechen. Wir einigten uns, uns am 11. August 2011 bei mir zu Hause zu treffen. Am 11. August 2011 nach Mittag kam Frau Bechtold mit dem ehrenamtlichen Fotografen der Landmannschaft der Deutschen aus Russland Andrej Ebert zu mir nach Hause. Frau Bechtold sah sich bei uns etwas um, besichtigte meine Arbeiten (meine zwei gedruckten Bücher). Danach nahm sie von mir ein Interview, stellte Fragen betreffend der bevorstehenden Veranstaltung. Herr Ebert nahm mit der Videokamera uns und das Gespräch auf. Frau Bechtold lud mich zu der bevorstehenden Begegnung und Konferenz ein, damit ich mich mit den Jugendlichen, die aus Deutschland, Russland, Kasachstan, der Ukraine und aus Usbekistan eingeladen wurden, als Zeitzeuge der Kriegs- und Nachkriegsereignisse in der Sowjetunion unterhalten sollte. Stattfinden sollte die Jugendbegegnung und die Konferenz vom 28. bis den 31. August 2011 in Berlin. Die Kosten für die Hin- und Rückreise, für Unterkunft und Verpflegung übernahmen die Veranstalter. Frau Bechtold wollte mir die Fahrkarten für den Zug für die Hin- und Rückfahrt mit der Post zuschicken. Da fiel mir ein Gedanke ein, ob es vielleicht möglich wäre, dass ich mir einen Begleiter mitnehmen könnte. Ich äußerte Bedenken, dass in meinem Alter allein zu 2


fahren etwas riskant wäre. Ich sagte, ich hätte einen guten Freund, der uns womöglich mit dem Auto nach Berlin fahren würde. Sie sagte, sie könne das nicht entscheiden, sie müsse das mit ihrem Vorgesetzten besprechen. Ich sagte, das wäre auch nur mein Wunsch, ich müsse es auch erst noch mit meinem Freund besprechen. So verabschiedeten wir uns und wollten alles in Ruhe klären. Ich rief am nächsten Tag meinen Freund Herrn Wohlfahrt an und teilte ihm meine Idee (zusammen nach Berlin zu fahren) mit, wenn dieser Vorschlag von den Organisatoren gebilligt und die Kosten übernommen werden. Ich wusste, dass sich Herr Wohlfahrt für solche Veranstaltungen interessieren würde. Er versprach mir, sich das mal zu überlegen, sich mit seiner Frau zu beraten und dann zurückzurufen. Es dauerte auch nicht lange und er meldete sich. Er sagte, wenn die Kosten übernommen würden, mache er mit. Am 20. August erhielt ich von Frau Bechtold eine schriftliche Einladung, die hier beiliegt. Telefonisch teilte sie mir mit, dass die Kostenübernahme für Herrn Wohlfahrt auch genehmigt sei. Jetzt mussten wir uns zu dieser Reise vorbereiten.

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Büro Dr. Christoph Bergner, MdB Platz der Republik 11011 Berlin Tel.: 030-227-73675 Elena Bechtold Alexander Muth Kampstraße 32 32805 Horn-Bad Meinberg

Berlin, 19.08.2011 Einladung zum Begegnungsprojekt „Geschichte erleben, begegnen und gedenken: persönliche Begegnungen junger Menschen mit Zeitzeugen der Deportation der Russlanddeutschen“ vom 28. bis 31. August in Berlin Sehr geehrter Herr Muth, hiermit lade ich Sie ganz herzlich zum Begegnungsprojekt „Geschichte erleben, begegnen und gedenken: persönliche Begegnungen junger Menschen mit Zeitzeugen der Deportation der Russlanddeutschen“ vom 28. bis 31. August 2011 in Berlin als einen Zeitzeugen dieser Ereignisse ein. Dieses Begegnungsprojekt ist ein gemeinsames Projekt der Stiftung „Flucht. Vertreibung. Versöhnung“ und des Jugend- und Studentenrings der Deutschen aus Russland (Jugendorganisation der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V.) und soll die Geschichte der Deportation der Russlanddeutschen in der Erinnerung junger Generation verankern, die Erfahrungen der Zeitzeugen an die breite Öffentlichkeit vermitteln und das Bewusstsein für eine Schicksalsgemeinschaft der Russlanddeutschen stärken. Die Ergebnisse des Begegnungsprojektes werden an der Konferenz des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten Dr. Christoph Bergner anlässlich des 70. Jahrestages der Verkündung des Erlasses zur Deportation der Russlanddeutschen am 30. – 31. August 2011 in Berlin vorgestellt. Wir haben für Sie ein Zimmer im A&O Hotel Berlin gebucht. Adresse: A&O Berlin Hauptbahnhof Lehrter Straße 12 10557 Berlin Bitte kommen Sie am 28. August bis 18:00 Uhr im Hotel an. Das Begegnungsprojekt findet in den Seminarräumlichkeiten des Hotels statt. Das Programm des Begegnungsprojektes:

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Sonntag, 28.08.2011 bis 18:00 Uhr 18:00 Uhr – 19:00 Uhr 19:00 Uhr – 20:00 Uhr Montag, 29.08.2011 9:00 Uhr – 10:00 Uhr

Ankunft der Zeitzeugen, Zimmerbelegung Abendessen Kennenlernen der Jugendlichen und der Zeitzeugen Begrüßung der Teilnehmer und Vorstellung der Arbeit der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung (Prof. Dr. Manfred Kittel, Direktor der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung)

10:00 Uhr – 12:00 Uhr 12:00 Uhr – 13:00 Uhr 13:30 Uhr – 18:00 Uhr 18:00 Uhr – 19:00 Uhr

Gruppenarbeit: Interviews mit den Zeitzeugen Mittagessen Gruppenarbeit: Interviews mit den Zeitzeugen Abendessen

Dienstag, 30.08.2011 9:00 Uhr – 11:00 Uhr

Abschließende Auswertung der Präsentation

Ab 12:00 Uhr

Teilnahme an der Konferenz des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten anlässlich des 70. Jahrestages der Verkündung des Erlasses zur Deportation der Russlanddeutschen (Programm beigefügt)

15:30 Uhr – 16:30 Uhr

Ein gemeinsamer Auftritt der Jugendlichen und der Zeitzeugen mit der Präsentation der Ergebnisse

Mittwoch, 31.08.2011 08:45 Uhr – 18: 00 Uhr

Ab 18:00 Uhr

Teilnahme an der Konferenz des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten anlässlich des 70. Jahrestages der Verkündung des Erlasses zur Deportation der Russlanddeutschen Abreise

Das Programm der Konferenz am 30. – 31. August 2011 des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten anlässlich des 70. Jahrestages der Verkündung des Erlasses zur Deportation der Russlanddeutschen ist diesem Brief beigefügt. Ich freue mich, Sie auf unserem Begegnungsseminar begrüßen zu dürfen und verbleibe mit freundlichen Grüßen Elena Bechtold Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim MdB Dr. Christoph Bergner 5


Sonntag, den 28.08.2011 Das Wetter war schön mit einer leichten Bewölkung. Herr Wohlfahrt kam mit seinem Auto zu mir wie verabredet um 8 Uhr. Ich verabschiedete mich von meiner kranken Frau, die jetzt für 4 Tage von unserer Tochter Marina verpflegt werden musste. Wir machten uns mit Herrn Wohlfahrt sofort auf den Weg, es ging alles gut voran. Unterwegs machten wir 2 mal eine kleine Pause, suchten die Toiletten auf, stärkten uns etwas. Wir kamen immer näher nach Berlin. Herr Wohlfahrt hatte von seinem Enkel Emanuel einen Fahrplan durch Berlin machen lassen, der uns auch gut durch Berlin bis zur Kreuzung Perlebergerstraße / Lehrterstraße führte. Auf der Haltestelle stand ganz nahe an der Kreuzung ein Bus. Herr Wohlfahrt musste auf die mittlere Fahrspur fahren und sofort rechts in die Lehrterstraße einbiegen. Als er schon fast in dieser Straße war, gab es plötzlich einen Knall auf der rechten Seite. Herr Wohlfahrt hielt sofort an. Wir können uns bis heute nicht erklären, woher das Taxi kam, das uns gerammt hatte. Es war auch sofort ein Polizist da. Er stand vor uns auf der Lehrterstraße. Er sagte, dass Herr Wohlfahrt der Schuldner sei. Wir hatten nicht mal Zeit, das Ereignis richtig einzuschätzen. Der Unfall wurde protokolliert. Unser Auto hatte von der vorderen bis zur hinteren Tür einen starken Kratzer. Am Taxi war der vordere rechte Kotflügel etwas verbogen. Beide Autos konnten weiterfahren. Gott sei Dank, dass es keinen Verletzten gab. Wir waren nur noch 900 m von unserem Ziel, dem Hotel A&O in der Lehrterstraße, entfernt. Wir kamen am Hotel um 13 Uhr 45 an, wurden auf einen Parkplatz im Hinterhof des Hotels auf Platz 13 eingewiesen. Als wir das Auto geparkt hatten, nahmen wir unsere Sachen und gingen ins Hotel zur Rezeption. Wir erhielten den Kartenschlüssel für das Zimmer 227. Wir fuhren mit dem Lift in die 2. Etage. Es war ein Zimmer mit 2 Betten, einem Tisch, 2 Stühlen, einem Garderobenschrank, Fernseher, Dusche und Toilette. Als wir uns eingerichtet hatten, gingen wir zurück in das Anmeldezimmer, setzten uns bequem in die Sessel und schauten uns um. Von hier rief Herr Wohlfahrt Frau Bechtold an. Sie kam auch sofort, begrüßte uns und freute sich, dass wir gekommen waren. Sie sagte uns, dass wir in diesem Hotel auch unsere volle Verpflegung in der Kantine bekommen, die sich im 1. Untergeschoss befindet. Um 18 Uhr gäbe es Abendbrot, wobei wir uns schon mit den eingeladenen Jugendlichen bekannt machen könnten. Dann gingen wir auf unser Zimmer und bereiteten uns vor, zum ersten Mal in diesem Hotel zu übernachten, was für mich das erste Mal in meinem Leben vorkommen sollte. Um 18 Uhr begaben wir uns in die Kantine zum Abendbrot. In der Kantine ist Selbstbedienung, reichliches gutes Essen: Salate, Fleisch, Wurst, sogar Suppe und verschiedene Getränke. Man kann sich aussuchen was man will und wie viel man will. Dabei machten wir uns mit mehreren Jugendlichen bekannt. Dann warteten wir auf das Taxi, das Frau Bechtold bestellt hatte, um uns Zeitzeugen zum Reichstagsgebäude zu bringen. Dabei machten wir uns miteinander bekannt. Das waren: Lydia Giedt, geboren 1932 an der Wolga, wurde mit der Schwester und der Großmutter nach Kasachstan deportiert, die Mutter war in der Trudarmee, die Großmutter ist bald gestorben, Frau Giedt ist alleine mit der 9-jährigen Schwester geblieben. Konnte sich nach dem Krieg und der Aufhebung der Kommandantur für die Ausbildung an einer Pädagogischen Fachschule trotz vielen Schwierigkeiten durchsetzen und hat danach als Grundschullehrerin gearbeitet. Karl Vogel, geboren 1926 an der Wolga in einem Dorf in der Nähe der Stadt Samara. Im Dezember 1941 wurde er mit der Familie nach Kasachstan deportiert. Er blieb von der 6


Trudarmee verschont, da er ständig in weit entfernten Orten Schafe und Kälber hütete. Das hatte ihm das Leben gerettet. Mathilde Vogel, geboren 1931 in der Ukraine, wurde von der Wehrmacht zusammen mit anderen Sowjetdeutschen nach Deutschland mitgenommen, danach in die „Heimat“ (Kasachstan) repatriiert. Der vierte Zeitzeuge war ich, Alexander Muth, geboren in der Wolgarepublik im Dorf Wiesenmüller. Am 5. September 1941 wurde ich mit meiner Familie (Eltern und 5 Geschwistern) in das Dorf Bezjazykowo Region Krasnojarsk deportiert. Im März 1943 wurde ich in die Trudarmee eingezogen und kam nach Krasnoturjinsk im Nordural. Hier arbeitete ich als Holzfäller und schaffte mich bis zum Waldrevierleiter. 1957 siedelte ich, schon mit meiner eigenen jungen Familie, nach Kirgisien. 1989 kam ich mit Frau und den 2 jüngsten Kindern nach Deutschland, nach Detmold. Als das Taxi kam, stiegen wir 4 Zeitzeugen, Herr Wohlfahrt, Erika Becht, die von der Landmannschaft als unsere Begleiterin beauftragt war, und Elisabeth Steer, die Nichte von Frau Vogel, die ebenfalls die Eheleute Vogel begleitete, ein. Das Taxi brachte uns zum Regierungsgebäude. Wir wurden durch einen Nebeneingang eingelassen, mussten uns aber einer strengen Durchsuchung unterziehen. Dieser Nebeneingang war extra für solche Besuche eingerichtet worden, die Durchgehenden wurden streng kontrolliert. Es war ja Sonntagabend und gab deshalb viele Besucher, die sich die große Glaskuppel ansehen wollten. Unsere Sachen wurden auf ein Prüfband gelegt, wir selbst wurden auch von elektronischen Geräten geprüft, gingen auch noch durch eine elektronische Schleuse. In einem Vorzimmer konnte man Kopfhörer nehmen, damit man die Erklärungen auch gut hören konnte. Gleich am Anfang der Besichtigung konnte man die Stimme des Exkursionsführers hören, der verschiedene Kommandos gab: „Stehebbleiben!“, „Weitergehen!“ usw. Jeder konnte die für ihn passende Lautstärke im Kopfhörer einstellen. Der Fotograf Andrej Ebert, der uns bis zum Ende der Konferenz begleitete, machte auch hier ununterbrochen Aufnahmen, machte auch Videos. Von meinen Aufnahmen, die ich machte, kann man einige auf den nächsten Seiten dieser Abhandlung sehen. Meine Aufnahmen kamen dunkel heraus, weil es schon Abend und zu wenig Licht war. Es sind Ansichten von der Stadt Berlin, die ich von der Kuppel aus machte. Als wir bis zur Kuppel kamen, wurde die Führung abgebrochen. Vor dem Ausgang musste man die Kopfhörer abgeben. Wir, die Zeitzeugen und unsere Begleiter, wurden mit dem Taxi zurück zum Hotel gebracht.

Bilder 1 bis 6 Das sind die Bilder, die in der Kuppel aufgenommen wurden.

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Bild 1: Elena Bechtold mit mir, gleich am Anfang der F端hrung in der Kuppel am 28.08.2011

Bild 2: Ansicht Berlins von der Kuppel 8


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Montag, den 29.08.2011 Um 7 Uhr gingen wir mit Herrn Wohlfahrt zum Frühstück, wo es eine große Auswahl von schmackhaften Speisen gab. Um 9 Uhr fuhren wir beide nach oben in die 5. Etage. Hier wurden wir in ein großes Zimmer gebeten, wo in der Runde Tische mit Stühlen standen, die von den eingeladenen Jugendlichen besetzt waren. Es war auch noch reichlich Platz für die Zeitzeugen. Von den Jugendlichen waren angereist: aus Russland – Alexander Steinebreis, Nadjeshda Barg und Maria Klipan; aus Kasachstan – Nikolai Horch; aus Usbekistan – Ekaterina Schneider; aus der Ukraine – Elena Link; aus Deutschland – Stepan Boldt, Igor Christ, Charlotte Warkentin, Alexander Specht, Kamilla Disendorf, Katharina Eist, Wladimir Dorn und Tatjana Weber. Außerdem waren anwesend die Zeitzeugen Lydia Giedt, Karl und Mathilde Vogel mit ihrer Begleiterin Elisabeth Steer, die Vertreterin der Landmannschaft der Deutschen aus Russland Erika Becht, der Fotograf Andrej Ebert, die Vorsitzende des Jugend- und Studentenrings der Deutschen aus Russland (JSDR) und Wissenschaftliche Mitarbeiterin des MdB Dr. Christoph Bergner Elena Bechtold, der Direktor der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ Prof. Dr. Manfred Kittel. Frau Elena Bechtold eröffnete die Begegnung und erteilte das Wort Herrn Dr. Manfred Kittel. Der begrüßte die Teilnehmer und erklärte den Zweck und die Tätigkeit seiner Stiftung, erörterte den Stand der Arbeit der Stiftung.

Bild 7: Hotel A&O, im Sitzungssaal. Hinter dem Tisch – Prof. Dr. Manfred Kittel, in der Mitte rechts neben ihm Elena Bechtold mit den Jugendteilnehmern und Zeitzeugen, außer Alexander Muth und Herrn Wohlfahrt (29.08.2011) 11


Bild 8: Das gleiche Bild, nur mit uns beiden - Herrn Wohlfahrt und mir (29.08.2011) Danach wurden die jugendlichen Teilnehmer auf die Zeitzeugen verteilt und in verschiedene Zimmer versetzt. Ich bekam 4 Jugendliche: Nikolai Horch aus Kasachstan, Charlotte Warkentin aus Deutschland, Maria Klipan aus Russland und Elena Link aus der Ukraine. Ich hatte mich am Vorabend, als wir von der Besichtigung der Reichtagskuppel zurück ins Hotel kamen, mit Herrn Wohlfahrt geeinigt, dass er den Text, den ich zu Hause vorbereitet hatte, vom Blatt abliest, und ich ihn punkteweise erkläre. Als wir unseren Plan Frau Bechtold vorlegten, sagte sie: „Es ist aber so geplant, dass die Zeitzeugen sich allein mit ihren zugeteilten Jugendlichen unterhalten sollen.“ Deshalb musste ich meinen Begleiter bis zur Mittagspause entlassen. Herr Wohlfahrt hatte das auch sofort akzeptiert und sagte, er wolle dann die Zeit ausnutzen und sich in Berlin etwas umschauen. Ich entschuldigte mich bei ihm und sagte, er solle aber unbedingt zum Mittagessen wieder im Hotel sein. Es wurde ein Tisch in die Nähe des Fensters gerückt, wo es sich meine Zuhörer bequem machten. Ich setzte mich ihnen gegenüber. Als wir uns so eingerichtet hatten, stellte ich mich erst mal vor, erzählte etwas von meiner Person. Danach machte ich meinen Zuhörern einen Vorschlag: ich werde meinen vorbereiteten Text punktweise vorlesen und gleichzeitig etwas erklären. Wenn sie anschließend noch Fragen haben, werde ich alle beantworten. So wurden wir uns einig. Ich informierte sie zuerst kurz über den Dorfplan meines Geburtsortes, den ich extra zu diesem Zweck mitgebracht hatte. Ich zeigte ihnen einige Bilder von Wiesenmüller, wo man noch einige Häuser aus der Vorkriegszeit sehen konnte, die bis heute noch erhalten geblieben sind. Dann erläuterte ich kurz die Geschichte der ASSRdWD. Ich zeigte ihnen den Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 28. August 1941, offizielle und geheime Dokumente über die Deportation der Deutschen von der Wolga, über die Bedingungen der Deportation. 12


Meinen Zuhörern war fast alles verständlich, denn ich habe nach jedem Punkt, wo ich Fragen vermutete, angehalten und etwas ausführlicher erklärt. Ich zeigte ihnen auch meine zwei veröffentlichten Bücher und das Bilderheft von meinem Geburtsort Wiesenmüller. Ich hatte zwei Ausschnitte aus meinem Buch über die Vertreibung der Deutschen und wie ich den 2. Weltkrieg erlebt habe, kopiert, die ich meinen Zuhörern zum Lesen übergab. Einige Male kam der Fotograf zu uns und machte Aufnahmen. Wir hatten das alles knapp geschafft bis zur Mittagszeit. Dann fuhren wir nach unten zum Mittagessen. Auch Herr Wohlfahrt erschien pünktlich zum Mittagessen. Danach hatten wir bis 16 Uhr frei. Wir nutzten diese Zeit mit Herrn Wohlfahrt zum Mittagsschläfchen. Frau Bechtold hatte uns mitgeteilt, dass wir Zeitzeugen uns um 16 Uhr im Anmelderaum versammeln sollten. Da sollte das Taxi kommen und uns zur Konrad-Adenauer-Stiftung bringen. Im Weiteren führe ich den von mir zu Hause ausgearbeiteten Plan meiner bevorstehenden Rede vor den Jugendlichen in Berlin an. ………………………………………………………………………………………………….. Sehr geehrte Jugendliche, meine Damen und Herren! Ich danke Gott, dass er mich bewahrt, getragen und in das Land meiner Vorfahren geführt und die Gesundheit geschenkt hat, dass ich heute vor euch stehen kann und Euch herzlich begrüßen darf. Ich danke Gott, der Regierung und dem deutschen Volk, dass wir hier aufgenommen wurden und mit allem Lebensnotwendigen versorgt werden. Ich stehe Ihnen gerne zur Verfügung und bin bereit, alle Ihre Fragen bezüglich der Deportation, die sich heute zum 70. Mal jährt, zu beantworten. Meine Vorfahren väterlicherseits kamen aus dem Dorf Schlierbach, Kreis Wächtersbach in Hessen. Meine Vorfahren mütterlicherseits stammen aus dem Dorf Kleingartach, Kreis Eppingen, heute im Land Baden-Würtemberg. Sie kamen alle im Jahre 1766 nach Russland und ließen sich erstmals in der Mutterkolonie Grimm auf der Bergseite (rechtes Ufer) der Wolga nieder. Als das Land um die Kolonie herum knapp wurde, siedelten beide Ururgroßväter in die Tochterkolonie Wiesenmüller auf der Wiesenseite (linkes Wolgaufer) um. In dem Dorf Wiesenmüller erblickte ich im Jahre 1925 das Licht der Welt. Ich habe die Hungerjahre 1933-1934 miterlebt, überlebt und gesehen, wie viele Menschen verhungert sind. Ich erlebte die Verfolgungen in den Jahren 1937-1938, wo mein Onkel sein Leben durch Erschießung opfern musste. In den Jahren 1939-1940 absolvierte ich die 7. Klasse der Unvollständigen Mittelschule des Dorfes Wiesenmüller in deutscher Sprache. Ich erlebte die Deportation der Einwohner von Wiesenmüller mit meinen Eltern und noch 5 Geschwistern. Wir wurden am 5. September 1941 von Hof und Gut vertrieben. Über den Verlauf und den Vorgang dieses Ereignisses stehe ich Ihnen jetzt zur Verfügung. (Ich habe meine Erinnerungen an die Aussiedlung, die Trudarmee, die Kommandanturaufsicht und an die weiteren Erlebnisse bis zur Auswanderung nach Deutschland im Jahre 1989 in einem Buch veröffentlichen lassen, das man in den Buchläden und im Internet bestellen kann.)

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Die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen Die ASSRdWD war ein föderaler Bestandteil der Russischen Sozialistischen Sowjetrepublik (RSFSR) und umfasste das kompakte deutsche Siedlungsgebiet an der mittleren Wolga. Die Autonomie der Wolgadeutschen existierte bereits seit dem 29. April 1919. 1924 wurde die ASSRdWD gegründet, die bis zum 28. August 1941 bestand und durch den Erlass vom 28. August 1941 aufgelöst wurde. Fläche: Vor seiner Abrundung im Jahre 1922 hatte das Autonome Gebiet der Wolgadeutschen eine Fläche von 19.694 Quadratkilometern. Nach der Umwandlung in die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik im Jahre 1924 betrug ihre Fläche 25.447 Quadratkilometer. Bis 1929 vergrößerte sich ihr Territorium auf 27.400 Quadratkilometer. Hauptstadt Engels, die schon bei der Gründung der ASSRdWD überwiegend von Russen und Ukrainern bewohnt war. Die Hauptstadt trug vor ihrer Umbenennung in Engels im Jahre 1931 den Namen Pokrowsk. Sie ist die einzige Stadt von den Wolgadeutschen Orten und Siedlungen der ehemaligen ASSRdWD, die nicht ins Russische umbenannt wurde. Administrative Gliederung: Das Territorium war vorerst in 13 Landkreise (Rayons) gegliedert. Nach der Abrundung von 1922 wurden diese in 14 Kantone umgebildet. Im Juli 1927 erfolgte zunächst eine Reduzierung auf 11, später eine Umbildung auf 12 Kantone. Nach der letzten Umbildung gab es 24 Kantone. Ein Kanton (Jagodnaja Poljana) lag außerhalb des Territoriums der ASSRdWD. Bevölkerung: Die Einwohnerzahl belief sich im Jahre 1924 auf 660.841 und 1929 auf 610.200 Personen. Die Bevölkerung der ASSRdWD setzte sich aus 28 Nationen zusammen. 66,4% der Einwohner waren deutscher Nationalität und 1,2% der Bevölkerung verteilte sich auf weitere Nationalitäten, z.B. Tataren, Mordwinen, Kasachen und Esten und 20,4% waren russischer Nationalität. Es gab zu der Zeit bis zur Auflösung der ASSRdWD viele Dorfschulen, 11 Techniken, ein Pädagogisches Institut, ein deutsches Theater und ein Kindertheater. Es wurden 21 Zeitungen in deutscher Sprache herausgegeben. In Moskau wurde seit 1934 die „Deutsche Zentralzeitung“ herausgegeben. In den Jahren 1933-1935 wurden 555 deutsche Büchertitel und viele Lehrbücher in deutscher Sprache für den deutschen Lehrunterricht gedruckt. Ausgesiedelt wurden vom 3. September bis zum 21. September 1941 aus der ASSRdWD in 151 Zügen 365.764 Personen. Die Ankunft an den Ausladestellen vom 9. September bis zum 5. Oktober 1941 betrug 361.159 Personen. Unterwegs verstarben 129 Personen, geboren wurden unterwegs 98 Kinder Zurückblieben von den Zügen 237 Personen (spurlos verschwunden).

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Ausschnitt Aus meinem Buch „Die Auswanderungsgeschichte deutscher Bürger von Deutschland nach Russland und zurück nach Deutschland in den Jahren 1764 – 1994 mit Integrierung“ (Wie ich den 2. Weltkrieg und die Aussiedlung erlebt habe) Alexander Muth Wie ich schon früher erwähnt habe, arbeitete ich in der Schusterei mit noch 6 Männern, alten Schustern, die sich ein Fischernetz gekauft hatten. Ich war der ältere unter deren Söhnen und hatte das Recht, mit denen mit dem Netz fischen zu gehen. So kam es am 22. Juni 1941, dass wir uns mit den Söhnen der Schuster aufmachten mit dem Fischernetz zu einem Teich, der 5 km von unserem Dorf entfernt war, ich war also der, der das Kommando übernahm. Wir hatten keine Transportmöglichkeiten und machten uns zu Fuß auf den Weg zum Fischen. Wir hatten auch guten Erfolg und viel Spaß dabei, hatten eine Menge Fische gefangen. Abends kamen wir müde, aber froh nach Hause, ohne Zwischenfälle. Ich ging etwas früher zu Bett als sonst. Als meine Mutter vom Melken unserer Kuh kam, war es schon dunkel. Zu dieser Zeit waren unsere Kühe, das heißt die Kühe der Dorfbewohner, in einem Pferch hinter dem Dorf untergebracht, denn es ging eine Seuche um. Meine Mutter sagte: „Es ist Krieg mit Deutschland!“ Ich sagte, dass das nicht sein könne, denn die Sowjetunion hatte doch einen Nichtangriffspakt mit Deutschland unterzeichnet. Ich nahm an, dass meine Mutter etwas nicht richtig verstanden hatte. Doch am nächsten Tag erwies sich, dass alles seine Richtigkeit hatte, es war die bittere Wahrheit. Es gab zu dieser Zeit im Zentrum des Dorfes an einem Telefonmast einen Lautsprecher, der dies bestätigte. Es war eine bittere Überraschung für alle Menschen. Die Leute waren alle betrübt, mussten aber weiter arbeiten wie vorher. Jetzt will ich versuchen, niederzuschreiben, wie ich die Aussiedlung erlebt habe, aus meiner eigenen Sicht, als damals 16-jähriger. Ich weiß, dass ich das nicht so hinbringe wie Herr Woldemar Herdt, der russlanddeutsche Schriftsteller, denn ich war ja damals noch etwas zu jung und hatte keine solche Bildung genossen. Darum bitte ich um Verständnis. Die Menschen in unserem Dorf Wiesenmüller mussten alle ihrer Arbeit nachgehen wie auch vor Kriegsbeginn. Man hörte, dass in den russischen Nachbardörfern alle wehrpflichtigen Männer einberufen wurden, nur die deutschen wurden nicht mobilisiert. Ich ging wie früher zur Arbeit in meine Schusterwerkstatt. Als ich am Abend, den 30. August, von der Arbeit nach Hause ging (ich musste an dem Gelände der Käsefabrik vorbeigehen), da sah ich dass in dem Hof nebenan am Büro (da gab es eine freie Stelle) mehrere Autos geparkt waren, aus denen Soldaten ihre Habseligkeiten ausluden und ihre Gewehre in Pyramiden aufstellten, usw. Ich dachte mir: was soll denn das bedeuten, und ging weiter nach Hause. Ich erzählte meinen Eltern über meine Beobachtungen, aber die konnten sich das auch nicht erklären. Es ging das Gerücht um, die Soldaten sollten die Käsefabrik, die MTS (Maschinen-Traktoren-Station), die Kirche, die voll mit Saatgut (Weizen) gespeichert war, bewachen. Wir abonnierten damals die deutsche Republikzeitung „Nachrichten“, die in Engels herausgegeben wurde. Die Zeitung Nr. 204 vom Sonnabend, den 30. August, kam zu uns ins Dorf am Montag. Darin war der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR veröffentlicht, laut dem alle Deutschen von der Wolga vertrieben und nach Sibirien verschickt werden sollten. Das rief sofort unter den Menschen große Sorgen, Panik und Chaos hervor. Man fragte sich: warum, weswegen sollten wir so hart bestraft werden. Aber dass die Soldaten uns bewachen sollten, das ahnten wir nicht. Nachts patrouillierten die Soldaten auf 17


den Straßen und am Dorfausgang. Die Menschen wollten ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen, wollten sich für die Reise vorbereiten. Aber es gab eine Anordnung, dass alle ihre Arbeit auch weiterhin fortzusetzen haben, und dass sie 10 Tage vor der Aussiedlung des Dorfes von der Arbeit befreit werden, um sich zur Aussiedlung vorzubereiten, denn die reiche Ernte war noch nicht vollständig eingebracht. Aber die Menschen trauten den Behörden nicht, bereiteten sich so langsam zur Reise vor, ein jeder wie er konnte, wie er es verstand, denn es gab in den Bekanntmachungen viele Unklarheiten, es wurde Vieles von den Leuten aufgebracht, was nicht stimmte. Die meisten Männer waren weit auf den Feldern auf ihrer Arbeit in der Kolchose beschäftigt, mussten in den Brigaden auf dem Felde nächtigen. Die Brigaden waren manche bis zu 25 km vom Dorf entfernt gelegen. Mein Vater war auch unter denjenigen, die in der Brigade nächtigen mussten. Aber er brachte es, ich weiß nicht wie, fertig, manchmal nachts heimlich nach Hause zu kommen und unser Schwein zu schlachten. Das Fleisch wurde eingesalzt, der Speck – ausgebraten. Meine Mutter musste am Tage auf der Kolchosplantage arbeiten, nachts – Kuchen und Brot backen, das dann zu Zwieback getrocknet wurde. Unser Vermögen, das Vieh usw. wurde von den Behörden irgendwie aufgeschrieben, was mir aber in Vergessenheit geraten ist. Die Soldaten patrouillierten nachts in den dunklen Straßen (es gab damals noch kein elektrisches Licht im Dorf), damit kein Unheil passieren, keiner sich von den „Spionen“ in unser Dorf schleichen konnte, von denen es ja laut Erlass Tausende und aber Tausende gab. Da war die Kirche, die mit Getreide voll gespeichert war, die MTS, die Käserei, und es wurde Sabotage befürchtet, diese Objekte wurden streng bewacht. Aber die Menschen haben an so etwas gar nicht gedacht, sie waren alle nur mit sich beschäftigt, sich auf den Weg vorzubereiten. Alle machten das sehr geduldig wie Schafe, hofften doch noch immer mit Vertrauen auf die Regierung, es könnte doch ein Missverständnis sein. Mir war bekannt, dass das Nachbardorf Friedenberg am 5. September ausgesiedelt werden sollte. Das wusste ich, weil meinem Onkel Alexander Fritzler (Mamas ältester Bruder), der mit einem Gefährt die Berufsschule bediente, am 4. September befohlen worden war, morgen, den 5. September, mit seinen Pferden und Wagen nach Friedenberg zu fahren, um Leute zur Bahnstation zu bringen. Das hatte mir mein Landsmann, ebenfalls aus Wiesenmüller, Georg Winter erzählt. Georg Winter war der Cousin des damaligen Dorfsowjetvorsitzenden Johannes Winter (Spitzname: Jule Hannes). Dieser Dorfsowjetvorsitzende hatte mitbekommen, dass es in Friedenberg mit der Aussiedlung Probleme gegeben haben soll, denn die Einwohner waren noch nicht bereit, viele waren noch in den Feldbaubrigaden. Da soll er den Behörden gesagt haben, man solle doch zuerst Wiesenmüller aussiedeln, da sei alles bereit. Er hoffte angeblich, man würde ihn dafür von der Aussiedlung verschonen. Aber seine Speichelleckerei half nichts. Er wurde wie alle ausgesiedelt, kam in die Trudarmee und verhungerte dort. Seine Frau wurde blind, sie kam mit ihrem ältesten Sohn bei einem Zugunglück ums Leben. Seine Schwiegertochter war beim Bau ihres Hauses aus dem Fenster gestürzt und kam dabei um. Georg Winter erzählte mir das alles und sagte, dass sein Cousin auf solche Art von Gott bestraft worden sei. Um 2 Uhr nachts vom 4. auf den 5. September 1941 wurden wir durch ein Fensterklopfen von den Soldaten geweckt. Es wurde etwas mitgeteilt, doch keiner verstand, was die von uns wollten, denn keiner von uns verstand ein Wort Russisch. Es ging von Nachbarn zu Nachbarn und wurde gefragt, was das zu bedeuten hätte. Wir vermuteten ja, dass das alles „Vorbereiten“ bedeuten sollte, aber man wollte sich vergewissern, das Vorgehen klären. Ich begann, die nötigsten Papiere zusammenzuräumen, die mitgenommen werden mussten. Die Mutter mit den anderen Kindern packten Kleider und Lebensmittel ein. Es gab in diesem Chaos immer wieder Missverständnisse, es wurde wieder zu den Nachbarn gegangen, um zu erfahren, ob es neue Anordnungen gegeben hätte. Es gab niemand, den man hätte fragen können, alles ging durcheinander, jeder machte, was er wollte, wie er es verstand. 18


Unterdessen wurde es hell, man sah an der Dorfeinfahrt Fuhren mit unbekannten Fuhrleuten ankommen. Sie waren aus anderen Dörfern, jeder Fuhrmann hatte bis zu 10 Fuhren, alle mit Ochsen vorgespannt. In diesem Moment sah man ein Pferdegespann ins Dorf galoppieren, unter den Männern war auch unser Vater. Er stieg schnell vom Wagen, (wir wohnten von der Einfahrt in der 6. Straße) nahm 2 Ochsenfuhren und führte sie in unseren Hof, um unser Hab und Gut, das wir mitnehmen wollten, aufzuladen. Gleich darauf kam ein Soldat auf unseren Hof, nahm einen Wagen, führte ihn weg und sagte: „Ein Wagen reicht für euch“ Wir fingen sofort mit dem Aufladen an. Wir konnten nur das Allernötigste aufladen: Bettsache, die paar Kleidungsstücke, die wir hatten, Nahrungsmittel, die unsere Eltern in der kurzen Zeit nachts vorbereitet: etwas Mehl, Zwieback, Brot, Schinken von unserem Schwein, das unser Vater trotz Verbot geschlachtet hatte. Das Knochenfleisch vom Schwein mussten wir im Keller liegenlassen wegen Platzmangel auf dem Wagen. Wir konnten bei weitem nicht alles mitnehmen, was wir für unsere große Familie brauchten und vorbereitet hatten. Wir waren ja 8 Personen – 6 Kinder und die Eltern. Die Mutter hatte am Tag zuvor noch Krümmelkuchen (wir sagten „Ribbelkuchen“) gebacken, für den jetzt kein Platz mehr war. Die Mutter schnitt den oberen Teil mit den Ribbeln herunter, legte ihn in ein Körbchen, deckte es mit einem Tuch zu und hängte es hinten unter den Wagenkasten an die Lenkachse. Inzwischen standen schon Soldaten auf dem Hof und trieben uns an, schneller wegzufahren. In diesem Moment kam ein russischer Nachbar zu uns (im Dorf wohnten einige Russenfamilien, die in der Käserei arbeiteten) und fragte, ob er etwas Weizen nehmen dürfe für seine Hühner. Ich nehme an, er war gekommen, um nachzusehen, was man da noch nehmen könnte. Er brachte für mich ein Unterhemd, das ich gut gebrauchen konnte. Ich half ihm, einen Sack Weizen zu füllen, von dem wir genügend im Speicher hatten. Auf dem Hof lief auch unsere Ziege herum, die es schon immer nicht verpasste, wenn wir die Eingangstür offen ließen. Sie schlich sich dann hinein, um nachzusehen, ob es da Gutes gab, Brot zum Beispiel u. a. Ich dachte mir: ich lasse die Eingangstür offen, dass die arme Ziege es sich noch einmal kann gut gehen lassen, sie muss ja so wieso krepieren, nachdem alle Häuser verlassen und die Tiere sich selbst überlassen sind. Dann fuhren wir unter dem Druck der Soldaten schweren Herzens vom Hof. Die Mutter weinte. Auch mir, der ich das noch gar nicht so richtig verstehen konnte, fiel es unheimlich schwer, unseren Hof zu verlassen. Wie es unseren Eltern zu Mute war, die ihr Leben lang für diesen Hof geschuftet hatten, der viel Schweiß und Blut gekostet hatte, das konnte ich mir gar nicht vorstellen. Erst jetzt, wo ich selber schon mehrmals mein Haus und meine Wirtschaft verlassen musste, obwohl auch freiwillig, kann ich es erst richtig verstehen. So wegen nichts, gänzlich unschuldig, alles stehen und liegen lassen, in die Fremde ziehen! Die Kuh, an der die Mutter mit ganzem Herzen hing, stand jetzt im Pferch hinterm Dorf, nicht getränkt, nicht gemolken – das war schrecklich für die Mutter. Aber wir mussten wegfahren, ohne dass jemand Mitleid hatte – es ist unbeschreiblich so etwas zu erleben. Als ich 1956, nach der Aufhebung der Kommandantur, mein Heimatdorf noch einmal besuchte, erfuhr ich von einer deutschen Frau, die nicht ausgesiedelt worden war, weil sie mit einem Russenmann verheiratet war, dass das Vieh damals längre Zeit auf dem Feld herumlief, brüllte, dann später verreckte. So wurden wir damals von bewaffneten Soldaten wie Verbrecher aus dem Dorf hinaus begleitet und dort festgehalten, bis sich alle Dorfbewohner versammelt hatten, außer denen aus den unteren Straßen, die einige Tage später weggeschafft wurden, denn für alle hätte an der Eisenbahnstation der Platz in dem Zug nicht ausgereicht. Jetzt hatte mir meine Landsmännin, die auch in Wiesenmüller geboren und 8 Jahre älter als ich war, weiter erzählt: Als sich die Menschen hinterm Dorf auf der Wiese versammelt hatten und von Soldaten umstellt waren, sammelten sich einige Musikanten aus dem Dorfblasorchester (Jakob Kindsvater, Peter und Samuel Moor, Friedrich Schneider,

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Alexander und Friedrich Held) und spielten das Lied „Jesus geh voran“. Ich persönlich hatte das aber damals in dem Tumult nicht gehört, denn es gab ein schreckliches Durcheinander. Alle Verwandten versuchten zusammenzuhalten. Da es aber auf dieser Landstraße sehr eng war, kam es oft zu Streitereien, die Wagen konnten nicht aneinander vorbeikommen, es wurde geschrien und geschimpft. Es gab dann das Kommando von den Soldaten, sich einzuordnen auf dem Feldweg Richtung Bahnstation. Es war ringsum ein einziges Menschenmeer vermengt mit Wagen und Zugvieh. Und das Ganze war von Soldaten umringt, die befürchteten, die Menschen könnten den Gehorsam verweigern. Sie gingen so 30 m seitwärts von der Kolonne in einem Abstand von ca. 50 m. Wir fuhren meistens an noch nicht abgeernteten Feldern vorbei. So begleiteten sie uns zu Fuß bis zur Bahnstation Lebechinskaja, 35 km von unserem Dorf, wo wir spät abends ankamen. Wir mussten ganz nah an den Gleisen unsere Habe abladen. Die leeren Fuhren wurden ohne Fuhrmänner auf den Feldweg gebracht und auf dem Weg, wo wir herkamen, zurückgejagt. Unterdessen wurde es Nacht, die wir auf unseren Bündeln verbringen mussten. Als es hell wurde, sahen wir in der Ferne die Fuhren. Sie bewegten sich nicht, denn sie hatten sich ineinander festgefahren. Ein Ochse eines Gespanns lag, so musste der andere daneben stehen. Manche streunten auf dem Feld und in der Steppe umher und fraßen. Unsere Männer erhielten den Befehl, die Fuhren in Ordnung und wieder auf den Weg zu bringen. Was später mit dem eingespannten Vieh geschah, weiß keiner. Zum Morgen hatte man leere Güterwagen auf die Gleise bereitgestellt, in die wir unsere Sachen verladen mussten. Die Soldaten sorgten dafür, dass wir uns streng in den vorgeschriebenen Waggons einrichteten: die Kisten, Koffer und Bündel so aufeinander stapelten, dass auch noch Platz für die Nachtlager blieb, oder man sich auf den Sachen für die Nacht einrichten konnte. In den Waggons gab es keinerlei Einrichtungen, weder zum Kochen, noch Toiletten. Wenn der Zug irgendwo im Felde anhielt, stürmte alles hinaus, jeder suchte ein Fleckchen, die Not zu verrichten (gewöhnlich schrie jemand: Frauen und Kinder auf diese Seite, die Männer – auf die andere). Dann suchten die Männer und Jungen Steine in der Umgebung, um eine Kochmöglichkeit zu schaffen, sowie etwas Brennbares (trockene Sträucher, Stengel u. a.) Die Frauen machten sich ans Kochen. Oft, wenn die Lokomotive plötzlich das Signal zum Weiterfahren gab, musste die ganze Kocherei abgebrochen werden. Manche schütteten die halbfertige Suppe aus, denn sie hatten Angst, sich oder irgend jemanden zu verbrühen, manche schafften es auch, sie mit in den Waggon zu nehmen. Das war nicht einfach, denn an den Waggons gab es keine Treppen. Es kam auch nicht selten vor, dass jemand vom Zug zurückblieb.

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Ausschnitt Aus dem Buch von Jakob Schmal „Den Kelch bis zur Neige geleert“ (Wie ich den 2. Weltkrieg und die Aussiedlung erlebt habe) Jakob Schmal Jetzt will ich einen Beitrag über diesen „Überraschungskrieg“ bringen, wie sie ein junger Mann erlebt hatte. Es geht hier um den jungen Mann Jakob Schmal, der am 26. September 1923 in dem großen Dorf Grimm an der Wolga geboren wurde und an 22.Oktober 2002 in Berlin gestorben ist. Er beschrieb dieses „Ereignis“ in seinem Buch „Den Kelch bis zur Neige geleert“, wo er das Schicksal der Deutschen in Russland beschreibt. Jakob Schmal verlor früh seinen Vater und musste in jener Zeit sozialer Erschütterungen der Familie beistehen. Jakob besuchte die Grimmer Mustermittelschule, die in der Republik der Wolgadeutschen durch ihre Traditionen weit bekannt war. In der Schule muss es ihm die deutsche Muttersprache angetan haben, denn schon im Frühjahr 1940 finden wir ihn in der der Republikhauptstadt Engels als Sprecher des wolgadeutschen Rundfunks, war dann auch dessen letzter Sprecher geworden. Der schwarze Herbst 1941 setzte das Ende. Jetzt – was Jakob Schmal schreibt in seinem Buch „Den Kelch bis zur Neige geleert“: „Früh am Morgen des 22. Juni begab ich mich durch die leeren Straßen in das Gebäude des wolgadeutschen Rundfunks zur sonntäglichen Morgensendung. Wir Sprecher – Alexander Fjodorowitsch Timofejew und ich – pflegten ziemlich früh im Senderaum zu erscheinen, um uns mit dem für die Sendung vorbereiteten Material bekannt zu machen. Außer uns beiden war niemand im Hause. Bis Sendebeginn blieb noch etwas Zeit, so schaltete ich den Rundfunkempfänger ein, drehte gewohnheitsmäßig am Knopf; plötzlich hörte ich eine deutsche Stimme, ich hielt sofort inne. Ein faschistischer Sender schmähte unser Land und das Sowjetvolk, all das, was uns nah und teuer war. Zuletzt vernahm ich, dass die Faschisten in den frühen Morgenstunden unsere Staatsgrenze überschritten hatten und sich auf dem Vormarsch ins Landesinnere befanden. Ich schaltete aus, um meinen älteren Kollegen, der kein Deutsch verstand, über das soeben gehörte, zu informieren, fand aber völlig verdattert, keine Worte. So ließ ich es sein bis nach der Sendung. „Achtung! Hier spricht Engels!“ So begann unsere Morgensendung. Es folgte eine Übersicht der neuesten Ausgaben der Republikzeitungen „Nachrichten“ und „Bolschewik“. Nach mir meldete sich Alexander Fjodorowitsch. Wie auf heißen Kohlen sitzend lauschte ich seinen Vortrag; mir schien, er wolle kein Ende nehmen. Dann verabschiedeten wir uns von unseren Hörern, stellten das Mikrophon ab. Nun fasste ich Mut und teilte Genossen Timofejew mit, was ich soeben vernommen hatte. Er hörte mein Gestotter erstaunt an, schaute, als sehe er mich zum ersten Mal, schwieg eine Weile und meinte dann: „Das kann nicht sein, du hast dich verhört. Also, mache keine Dummheiten und gib es nicht weiter.“ Alexander Fjodorowitsch war für mich jungen Burschen eine anerkannte Autorität. So glaubte ich wirklich, etwas zusammenphantasiert zu haben, hatten wir doch erst am Vortage durch unseren Unionssender „Komintern“ rosige Mitteilungen aus Berlin gehört. Der Morgen verhieß einen schönen Tag. Ich wohnte zur Untermiete bei David Koch, dem stellvertretenden Volkskommissar für Handel unserer Republik. Als ich ihm unter vier Augen von meinem Erlebnis berichtete, warnte er mich ebenfalls, auf keinen Fall etwas verlauten zu lassen. „Sei gescheit, Jabje“, sagte er, „mache keine Dummheiten.“ Am Vortag hatte im Lustgärtchen von Engels ein Johann-Strauß-Abend stattgefunden. Das Sinfonieorchester der wolgadeutschen Staatsphilharmonie spielte unsterbliche Walzer des großen Komponisten. Ich war mit meiner Freundin zu diesem Konzert gegangen. Wir 21


genossen die himmlische Musik. Am nächsten Morgen wollten wir einen Ausflug zur „Grünen Insel“ unternehmen. Gemächlich schlenderten wir durch die einsame Straße zum Wolgaufer, über das Gehörte sagte ich meiner Freundin kein Wort. Über der Wolga und der Stadt erstrahlte eine herrliche Morgensonne, die Menschen gingen ihren sonntäglichen Geschäften nach. Niemand außer mir wusste etwas darüber, was ich gern als nicht wahr gewusst hätte. Dann liehen wir uns einen Kahn aus und fuhren los. Plötzlich ertönte aus dem Schalltrichter an der Wasserstation eine laute Stimme: Jakob Schmal sollte sofort ans Ufer kommen. Dort erwartete mich eine Angestellte unseres Rundfunkkomitees. „Du wirst sofort im Betrieb erwartet“, sagte sie hastig. Dort ging alles drunter und drüber. Es stellte sich heraus, dass W. M. Molotow inzwischen im Moskauer Rundfunk eine Regierungserklärung verlesen und den heimtückischen Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion gemeldet hatte. Unsere Übersetzer unter der Leitung von Alexander Ehrlich waren dabei, Molotows Ansprache ins Deutsche zu übersetzen. Dreimal mit halbstündigen Pausen wurde an jenem verhängnisvollen Sonntag die Erklärung der Sowjetregierung über den wolgadeutschen Rundfunk ausgestrahlt. Die drei letzten Sätze prägten sich mir für immer ein: „Unsere Sache ist gerecht. Der Feind wird zerschmettert werden. Der Sieg wird unser sein.“ Schon am selben Tag standen die Mitarbeiter des Rundfunkkomitees genauso wie Tausende anderer Einwohner von Engels vor dem Kriegskommissariat Schlange, um sich freiwillig an die Front zu melden. Hätten sie in jenen Stunden daran denken können, dass es knapp zwei Monate darauf heißen würde: „Die Wolgadeutschen müssen fort, ihr Hab und Gut verlassen.“ Aus dieser Tatsache kann man sehen, wie patriotisch gesinnt die Deutschen waren bis zu der Aussiedlung. Sie waren treu und zuversichtlich ihrem Vaterland gegenüber, genau so wie auch ihre russischen Nachbarn. Nach all dem muss man sich mal vorstellen, dass über Nacht fast alle Bürger deutscher Nationalität der Wolgarepublik Diversanten, Spione und Verräter wurden, nach diesen vorher angeführten ehrlichen Leistungen, die sie für das Sowjetland vollbracht haben. Weiter – noch einige Erinnerungen von Jakob Schmal. Er schrieb: „Wir verabschiedeten uns zwar von den Hörern mit. „Bis morgen früh“, doch es war uns nicht beschieden, unser Wort zu halten. Am anderen Morgen, am 30. August 1941, begab ich mich durch die noch leeren Straßen von Engels zum Gebäude des Rundfunkkomitees, um die Morgensendung zu machen. Am Eingang zum Rundfunkkomitee hielt mich ein Rotarmist des NKWD an und fragte streng: „Was wollen Sie?“ Ich musste meinen Ausweis vorzeigen. Er prüfte ihn lange, beschaute das Foto, musterte mich prüfend und misstrauisch, forderte mich schließlich auf, in den unteren Stock des Gebäudes zu gehen. In der Vorhalle erblickte ich den zweiten Posten, der die versiegelte Tür zum zweiten Stockwerk (dort befand sich der Senderaum) bewachte. Ich dachte sofort an mein Komsomolbüchlein, das ich gestern in einem Schubfach im Studio zurückgelassen hatte. ,Nie werde ich es herausbekommen’, schoss es mir durch den Kopf. Ja, dazu bedurfte es schließlich eines Papiers mit Stempel des Stadtkomsomolkomitees, das bestätigte, dass ich tatsächlich Mitglied des Leninschen Kommunistischen Jugendverbandes war. Erst einen Tag vor der Aussiedlung nahm man die Versiegelung von der Tür, die die Treppe in den zweiten Stock verschloss, dann auch oben von der Tür zum Sendezimmer, ich durfte in Begleitung eines „grünmützigen“ Rotarmisten, der jede meiner Bewegung verfolgte, eintreten, die Schublade öffnen und mein Mitgliedsbuch herausholen. Bevor ich es in die Tasche steckte, prüfte es mein Begleiter. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass dieses rote Büchlein nicht gefälscht und ich kein Spion oder Diversant war, deutete er mir an, dass ich gehen darf.

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Doch zurück zu jenem Morgen. Im Zimmer, das ich betrat, befand sich Genosse Timofejew, unser russischer Sprecher. Er hatte eben an alle Funkstellen der zweiundzwanzig Kantonzentren unserer Republik telefonisch die Mitteilung durchgegeben, dass die heutige Morgensendung aus Engels ausbleibe und man in dieser Zeit den Unionssender „Komintern“ empfangen solle. Seine Stimme war heiser. Was eigentlich los war, wusste auch er nicht. So saßen wir und rätselten hin und her. Mein erster Gedanke war, ob sich in die gestern Abend ausgestrahlte Heinrich-Hoffmann-Sendung nicht ein Fehler eingeschlichen hatte. Auch Alexander Fjodorowitsch schloss dies nicht aus. Die Zeiten waren hart, ein unbedacht gesprochenes Wort, und es konnte einem an den Kragen gehen, besonders wenn man beim Radio angestellt war. Ich rief mir jede Zeile in Erinnerung, konnte aber keine einzige Holprigkeit in der gestrigen Sendung ausmachen. Inzwischen war unsere Sendezeit gekommen. Da wir uns nicht meldeten, begannen die Telefone zu klingeln. Zuerst rief die Leiterin des Radiokomitees Emilie Petrowna Kropotowa an, wollte wissen, warum wir „schweigen“. (Übrigens war sie eine Wolgadeutsche, mit einem Russen verheiratet, deshalb wurde sie nicht ausgesiedelt). Ihr folgten Redakteure, Mitarbeiter verschiedener Abteilungen. Alle stellten uns ein und dieselbe Frage: „Weshalb sendet ihr nicht?“ Wir wussten aber nur, dass das Sendezimmer versiegelt war und bewacht wurde. Das sagten wir dann auch unseren Kollegen. Bald fanden sich alle bei uns ein. Von Arbeit konnte keine Rede sein. Man stellte verschiedene Mutmaßungen an, alle fühlten sich vor den Kopf gestoßen. Dann kam unsere Putzfrau, teilte mit, am nahegelegenen Zeitungskiosk herrschte großes Gedränge, sie habe Gesprächsfetzen aufgefangen, darunter auch das Wort „Aussiedlung“. Meine Sendezeit an jenem Morgen war schon vorbei, ich eilte zum Zeitungskiosk. Dort konnte ich noch jenes Exemplar der „Nachrichten“ und das russischsprachige Exemplar „Bolschewik“ bekommen. Auf dem Rückweg las ich beide Texte des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941, die in diesen Zeitungen auf der ersten Seite in Feindruck waren. Alle stürzten mir entgegen, jeder wollte als erster die Zeitungen haben, doch dann besann man sich eines Besseren und bat mich, den Erlass vorzulesen. Ich stellte mich in die Mitte des geräumigen Zimmers, las den deutschen Text vor. Es fällt mir auch heute noch schwer, die Bestürzung meiner Arbeitskollegen wiederzugeben. Im Raum herrschte zuerst Grabesstille, die Menschen waren sprachlos, die Nachricht kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Allmählich erwachte man aus dem Schock, grübelte über Gründe, die im Erlass für die Aussiedlung angeführt wurden. Keinem wollte es in den Kopf, niemand wollte glauben, dass es in der Republik von Spionen und Diversanten wimmelte. Es schien auch unvorstellbar, dass eine solche Menschenmasse, eine ganze autonome Republik, zumal in solch schwerer Zeit, einfach ausgesiedelt werden konnte. Eine derartige Aktion erforderte ja eine Unmenge Transportmittel und anderes, was für wichtigere Angelegenheiten gebraucht wurde. Tränen standen meinen Kollegen in den Augen, die Herzen krampften vor Schmerz zusammen: warum nur war uns diese Ungerechtigkeit widerfahren? Noch heute sehe ich das tränenbenetzte Gesicht von Karl Franzowitsch Grünberg vor mir. Er war ein Politimmigrant und leitete bei uns die Hörspielredaktion. Schon in den ersten Wochen meines Einsatzes im Radiokomitee war mir dieser bescheidene Mann durch seine ständige Bereitschaft aufgefallen, allen und jedem, wenn nötig, bei der Arbeit zu helfen.“

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Der weitere Verlauf der Konferenz und des Treffens mit den Jugendlichen Um 16 Uhr kam das Taxi, brachte uns, die Zeitzeugen mit unseren Begleitern zum Haus der Konrad-Adenauer-Stiftung. Das ist ein modernes, großartiges Gebäude mit einem Sitzungssaal mit ca. 200 Sitzplätzen. Der Sitzungsraum ist so eingerichtet wie der im Regierungsgebäude. Hier eine Aufnahme, die ich am 29.08.2011 von dem Sitzungssaal im Hause der KonradAdenauer-Stiftung gemacht habe. Man sieht die Bühne mit dem Wandschild. Das war ein Moment während der Übungen der Jugendlichen zu ihrem Auftritt auf der morgigen Konferenz. Die Zeitzeugen sitzen auf den Stühlen als Zuschauer. Herr Wohlfahrt sitzt mit dem Rücken zur Kamera.

Bild 9: Einsicht in den Sitzungssaal im Konrad-Adenauer-Stiftungs-Haus

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Das nächste ist ein Bild von dem großen Wandschild, wo die 4 Zeitzeugen zu sehen sind. Es war nicht ausreichend Licht, deshalb kam das Bild etwas dunkel heraus.

Bild 10: Die Zeitzeugen von links: Mathilde Vogel, Alexander Muth, Lydia Giedt, Karl Vogel (Aufgenommen vom Bildschirm) Als wir zur Konrad-Adenauer-Stiftung kamen, war die Jugendgruppe schon beschäftigt mit ihrer Vorbereitung zum morgigen Tag. Es klappte nicht immer mit der Technik so richtig, es sollte ja auch ein Film aufgenommen werden. Herr Wohlfahrt und ich bedauerten die jungen Leute, zweifelten daran, ob sie es schaffen würden. Aber um vorzugreifen muss ich gestehen, dass wir uns geirrt hatten. Sie hatten es hervorragend geschafft, alle Anwesenden waren begeistert, auch wir beiden. Um 18 Uhr kam unser Taxi und brachte uns zum Hotel zurück. Jetzt hatten wir frei bis 19 Uhr, bis zum Abendbrot.

Dienstag, den 30.08.2011 Das Wetter war heute wechselhaft, mit Sonne und Wolken, trocken. Wir gingen mit Herrn Wohlfahrt wie gewöhnlich um 7 Uhr zum Frühstück, konnten uns reichlich bedienen mit dem schmackhaften Frühstück. Wir hatten jetzt frei bis 11 Uhr 30. Da gingen wir mit Herrn Wohlfahrt zu Fuß zu unserer Unfallstelle, wollten uns in Ruhe da noch mal umschauen. Um 11 Uhr 30 brachte uns das Taxi zur Konrad-Adenauer-Stiftung. Die Jugendlichen waren gleich nach dem Frühstück dorthin gefahren, um nochmals zu proben. 25


Wir mussten uns anmelden, bekamen jeder ein Anhängeschild mit unseren Namen und der Aufschrift: „70. Jahrestag der Deportation der Russlanddeutschen“ 30.-31. August 2011 Alexander Muth

Es bekamen auch alle Teilnehmer der Konferenz solch ein Schild. Herr Wohlfahrt bekam eins mit handschriftlicher Aufschrift. Wir 4 Zeitzeugen bekamen noch jeder eine Mappe für Notizen. Von der Mappe und dem Anhängeschild habe ich ein Foto gemacht.

Bild 11: Die Mappe mit dem Anhängeschild, das ich bei der Anmeldung bekam

In der vorderen Reihe waren die Plätze reserviert für diejenigen, die mit Vorträgen auftraten. Dr. Christoph Bergner hatte den ersten Platz an der rechten Seite, die Zeitzeugen – vom Eingang rechts. Als sich alle Teilnehmer angemeldet hatten, gab es in der Kantine einen Imbiss und Bekanntmachungen.

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Bild 12: Herr Wohlfahrt und Alexander Muth im Empfangssaal des Konrad-AdenauerStiftungs-Haus

Bild 13: Alexander Muth mit Andrej Ebert, der die Videoaufnahmen w채hrend der Konferenz und der Jugendbegegnung machte 27


Danach wurden alle Teilnehmer gebeten, ihre Plätze einzunehmen. Die Eröffnung der Konferenz erfolgte mit einer musikalischen Begrüßung von dem Kammerorchester der Familie Hubert, danach begrüßte Dr. Christoph Bergner die Teilnehmer mit einer Einleitung.

Bild 14: Herr Dr. Christoph Bergner bei der Eröffnung der Konferenz in der KonradAdenauer-Stiftung am 30. August 2011

Danach erteilte Dr. Bergner das Wort der Stellvertretenden Vorsitzenden der KonradAdenauer-Stiftung Frau Hildegund Neubert.

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Bild 15: von links: Dr. Alexander Hoffmann – Visitator der Deutschen Bischofskonferenz; die Zeitzeugen Karl Vogel, Mathilde Vogel, Alexander Muth und Lydia Giedt (30.08.2011)

Danach verlief die Konferenz dem Programm nach mit einer Pause zum Mittagessen. Die Konferenz moderierte Dr. Christoph Bergner. Dr. Alfred Eisfeld (Nordost-Institut – Historiker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa) berichtete über „Die Deutschen in der Sowjetunion im 20. Jahrhundert“ Dann kam der Bericht über „Deportation, Umsiedlung und Verfolgung von Nationalitäten unter Hitler und Stalin“ von Prof. Dr. Dietmar Neutatz, Universität Freiburg i. B. Seit 2003 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und osteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der Albert-Ludwig-Universität Freiburg im Breisgau, Stellvertretender Vorsitzender der Wissenschaftlichen Kommission für Geschichte der Deutschen aus Russland / GUS. Eleonora Hummel, Schriftstellerin: „Deportation in literarischen Reflektionen.“ Danach eine Pause für Zeit zum Austausch, zur Besichtigung der Ausstellung und zur freien Verfügung. Nach dieser Pause kam die Präsentation der Jugendlichen, die von Frau Bechtold organisiert wurde.

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Bild 16: Die Jugendgruppe vor der Präsentation (von rechts): Stepan Boldt, Elena Bechtold, Alexander Steinebreis, Katharina Eist, Igor Christ, Nikolaj Horch, Ekaterina Schneider, Charlotte Warkentin, Kamilla Disendorf, Nadeshda Barg, Maria Klipan, Elena Link und Erika Becht. Nicht auf dem Bild: Alexander Specht, Wladimir Dorn und Andrej Ebert, die in der Zeit mit der technischen Unterstützung der Präsentation beschäftigt waren. (30.08.2011)

Die Jugendlichen hatten sich auf der Bühne in zwei Gruppen aufgestellt, wo sie einzeln vor das Publikum mit dem Mikrophon traten und ihre Erlebnisse mit den Zeitzeugen schilderten, und zwar: Nikolai Horch, 26 Jahre, aus Saran (Kasachstan): „Das ruhige Leben der deutschen Familien endete am 28. August 1941. Die jungen Leute verabschiedeten sich von ihren Zukunftsplänen. Sie kamen nach einem langen und gefährlichen Weg am Deportationsort an. Dort mussten sie für ein Stückchen Brot und Suppenbrühe, oder ein paar Kartoffeln oder Rüben unter schwierigen Bedingungen arbeiten. Das war schrecklich, dass sie an einen fremden Ort ziehen mussten. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was ich in solch einer Situation machen würde, wenn Soldaten kämen und sagen würden, ich sollte in einen fremden Ort ziehen. Ich hätte panische Angst.“ Katharina Schneider, 26 Jahre, aus Fergana (Usbekistan): „Während des Gesprächs mit Frau Mathilde Vogel fühlte ich mich, als ob ich vor meiner leiblichen Oma säße und sie mir ihre Geschichte erzählen würde. Es ist eine traurige Lebensgeschichte, die mich bis ins Tiefste gerührt hat. Ich bin beeindruckt, wie die Frau ihren Leidensweg gemeistert hat. Und trotz aller Missstände hat sie ihren Glauben an das Gute im Leben nicht verloren! Es ist sehr wichtig für mich, die Lebensgeschichten unserer Verwandten nicht zu vergessen. Wie es heißt: ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft.“

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Charlotte Warkentin, 19 Jahre, aus Niederstetten (Deutschland): „Während ich den Geschichten zuhöre, wechseln meine Gefühle permanent: von Entrüstung über die geballte Ladung von Ungerechtigkeit zu Wut, weil ich nicht begreifen kann, wie man solche Ereignisse überhaupt zugelassen hat und hat verantworten können; Fassungslosigkeit über die menschenunwürdigen Behandlungen der Deportierten, über tiefes Mitleid bis hin zur Rührung, weil ich in den Augen erkenne, wie dankbar er ist, am Leben zu sein und all die schrecklichen Ereignisse überstanden zu haben.“ Igor Christ, 25 Jahre, aus Stuttgart (Deutschland): „Je öfter ich mich mit der Geschichte der Deutschen aus Russland beschäftige, um so besser verstehe ich meine Lebenssituation. Die Frage nach meiner Herkunft und Identität kann ich am besten durch Reflexion von Schicksalen unserer Vorfahren verstehen und beantworten. Ich finde, dass die Vergangenheitsforschung besonders wertvoll ist, wenn ich von Mitmenschen mit Nachfragen über die russlanddeutsche Minderheit konfrontiert werde. Ich finde, dass alle Generationen über diese Schreckenszeit informiert werden sollten, damit so etwas nie wieder passiert.“

Bei diesen Vorträgen der Jugendlichen wurden sie vom Publikum reichlich bejubelt, bei manchen Zuhörern glänzten Tränen in den Augen. Es war sehr aufregend, alle waren sehr begeistert. Als alle Jugendlichen ihre Vorträge präsentiert hatten, wurden sie auf der Bühne aufgestellt und sie zeigten sich dem Publikum. Auf der Bühne wurde es hell von den Blitzen der Fotokameras, die aus dem Publikum kamen. Danach wurden wir Zeitzeugen jeder mit einem schönen Blumenstrauß gewürdigt.

Bild 17: Die mit den hübschen Blumensträußen geehrten Zeitzeugen. Von links: Karl Vogel, Mathilde Vogel, Alexander Muth und Lydia Giedt (30.08.2011) 31


Dann wurde die Jugendgruppe mit Dr. Christoph Bergner und der Organisatorin dieser Begegnung Frau Elena Bechtold (auf dem Bild die erste von links) zum Fotografieren aufgestellt. Auch die Zeitzeugen wurden gebeten, sich hier einzureihen, aus Platzmangel setzten wir uns auf der Bühne vor die Jugendgruppe.

Bild 18: Die Jugendgruppe mit Dr. Christoph Bergner (Bildmitte). Weiter von links im Bild stehend Frau Elena Bechtold (die Organisatorin der Begegnung junger Menschen mit den Zeitzeugen). Vorne sitzen die Zeitzeugen (von links): Lydia Giedt, Alexander Muth, Mathilde und Karl Vogel (30.08.2011)

Es war ein Herr Edwin Grieb aus dem Gebiet Perm (Russland) ohne Einladung zur Konferenz zugereist. Er erhielt aber auch wie alle Teilnehmer ein Umhängeschild und einen Ehrenplatz beim Fotografieren. Dieser Herr Grieb ist ebenfalls ein Veteran der Trudarmee und ein aktiver Streiter für die Deutschen im Gebiet Perm. Er ist Vorsitzender des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur „Wiedergeburt“ in der Stadt Solikamsk. Ich unterhielt mich auch kurz mit ihm, da gesellte sich zu uns auch Frau Katharina Neufeld (die Leiterin des Museums für Russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold) und begrüßte Herrn Grieb. In diesem Moment machte der Vorsitzende der VIRA e. V. (Vereinigung zur Integration der russlanddeutschen Aussiedler) Alexander Kühl eine Aufnahme. Er schickte mir ein Foto zu.

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Bild 19: Alexander Muth, die Leiterin des Museums für Russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold Frau Dr. Katharina Neufeld und der aus Russland zur Konferenz zugereiste Herr Edwin Grieb

Um 18 Uhr 30 – Empfang-Abendbüffet im Forum der Konrad-Adenauer-Stiftung. Um 20 Uhr 00 – Kulturelles Programm (Kammerorchester der Familie Hubert aus Bayreuth), Leitung – Albert Hubert; Russlanddeutsches Theater Niederstetten: Maria und Peter Warkentin. Als die Konferenz am 30. August 2011 mit ihrem Programm zu Ende war, die Jugendgruppe ihren Vortrag gehalten hatte, wie vorher bereits beschrieben, wurde sie auf der Bühne aufgestellt, die Zeitzeugen dazu gebeten zum Fotografieren und zum Bejubeln. Es blitzte aus allen Ecken des Publikums von den Fotokameras, alle applaudierten vor Begeisterung. Danach verließen die Jugendlichen die Bühne. Dann betrat die Bühne das Familienorchester unter der Leitung von Albert Hubert, das im Jahre 1990 in Osinniki (Sibirien) mit 16 Mitgliedern gegründet wurde. Seit 1993 existiert es in Bayreuth (Deutschland). Das Orchester spielte ein klassisches Musikstück. Darauf betraten die Bühne die Eheleute Maria und Peter Warkentin. Sie stellten sich vor das Orchester. Peter Warkentin sagte: „Wir hatten uns mit meiner Frau vorbereitet, einen kurzen Vortrag zu halten über das damalige Geschehen, aber die Jugendgruppe hat ihren Vortrag dem Publikum so hervorragend aufgeführt, so dass alles klar und verständlich war. Deswegen singen wir statt unseres Vortrags ein Lied zum selben Thema, zum Thema „unserer Kindheit“, und Frau Warkentin stimmte ein Lied an im wolgadeutschen – hessischen Dialekt: „Zu Hause war alles so schön“, ihr Mann begleitete sie mit der Gitarre. Das Publikum klatschte und jubelte ohne Ende. Ich persönlich hatte mich durch diesen Vortrag, der mich so sehr an meine Kindheit an der Wolga erinnerte, so aufgeregt, dass ich die Tränen nicht zurückhalten konnte. Ich hatte zum ersten Mal das Glück, den Vortrag der Eheleute Warkentin anzuhören, stellte aber sofort fest, dass sie ausgezeichnete Schauspieler sind. Ich war völlig begeistert. 33


Bild 20: Auf dem Foto sieht man das Orchester der Familie Hubert und davor die Eheleute Maria und Peter Warkentin.

Mittwoch, den 31.08.2011 Das Wetter – wechselhaft mit Sonne und Wolken, meistens sonnig. Wie gewöhnlich gingen wir mit Herrn Wohlfahrt um 7 Uhr zum Frühstück, heute zum letzten Mal. Bis 10 Uhr hatten wir frei bis das Taxi kam. In dieser Zeit brachten wir mit Herrn Wohlfahrt unsere Sachen zum Auto, das im Hinterhof des Hotels geparkt war, denn wir mussten heute unser Zimmer frei machen. Das Taxi kam um 10 Uhr, wir, die Zeitzeugen und unsere Begleiter, nahmen Platz und fuhren zur Konrad-Adenauer-Stiftung. 34


Moderation: Dr. Christoph Bergner Prof. Dr. Otto Luchterhandt, Göttinger Arbeitskreis e. V. : „Traumatische Volksgruppe-Herausforderung für die Integration in Deutschland.“ Prof. Dr.Dr.h.c. mult. Ludwig M. Eichinger und Prof. Dr. Nina Berend – Institut für deutsche Sprache: „Verlust deutscher Sprachbindung-Herausforderung für Kulturelle Rehabilitierung, Integration in Deutschland und Hilfepolitik in den Herkunftsgebieten.“ Kaffeepause In dieser Pause konnte man sich in einem Zimmer einen Videofilm von Alexander Kühl (von der VIRA – Vereinigung zur Integration der russlanddeutschen Aussiedler) ansehen, den er früher von Zeitzeugen aufgenommen hatte. Damals (am 24.07.2011) hatte er auch mich gefilmt für ein Gedenkbuch über noch lebende Zeitzeugen. Moderation: Dr. Christoph Bergner Podiumsdiskussion zum Thema: „Wird Deutschland mit der Aufnahmepolitik und der Integration der russlanddeutschen Spätaussiedler seiner historisch-moralischen Verantwortung gerecht?“ Teilnehmer: Dr. Reiner Klingholz, Berlin – Institut für Bevölkerung und Entwicklung – Vertreter des BAMF. Adolf Fetsch (Vorsitzender der Landmannschaft der Deutschen aus Russland e. V.) Oliver Dix (Präsidialmitglied des BdV). Mittagessenspause (Fortsetzung der obigen Themen) Themen: „Deutsche Kulturautonomie“; „Zukunft der deutschen Minderheiten in Russland, Kasachstan und der Ukraine.“ Statements: Heinrich Martens, Präsident des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur (Russische Föderation). Herr Martens konnte krankheitshalber nicht kommen. Er wurde vertreten von seiner Frau Olga, die seinen Bericht vorgelesen hat; Alexander Dederer, Vorsitzender der Assoziation der gesellschaftlichen Vereinigungen der Deutschen Kasachstans; Wladimir Leysle, Vorsitzender des Rates der Deutschen in der Ukraine. Zusammenfassung – Dr. Christoph Bergner 35


Abfahrt zum Parkfriedhof Marzahn-Kranzniederlegung und Andacht: Dr. Alexander Hoffmann, Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für die Katholiken aus Russland und anderen GUS-Staaten. Pfarrer Edgar L. Born – Aussiedlerbeauftragter der Evangelischen Kirche von Westfalen. Als die Veranstaltung im Haus der Konrad-Adenauer-Stiftung zu Ende war, kam Dr. Alexander Hoffmann zu mir und bat mich, dass Frau Vogel und ich die Kerze am Denkmal anzünden sollten. Ich sagte zu. In seinem Schlusswort um 14 Uhr sagte Dr. Christoph Bergner, dass in einer halben Stunde hier zwei Busse vorfahren werden, die die Teilnehmer an der Kranzniederlegung zum Friedhof Marzahn bringen werden. Nach der Kranzniederlegung werden alle Teilnehmer mit den Bussen bis zum Hauptbahnhof Berlin gebracht. Damit ist die Konferenz zu ihrem Ende gekommen. Als wir zum Friedhof Berlin - Marzahn kamen, lagen am Denkmal schon 4 Kränze von: 1. der Bundesregierung Deutschland; 2. dem Bundesverband der Landmannschaft der Deutschen aus Russland; 3. der Landesgruppe Berlin-Brandenburg und dem Verein Vision e.V.; 4. der VIRA-Vereinigung zur Integration der russlanddeutschen Aussiedler e.V. und dem Landesverband NRW der Landmannschaft der Deutschen aus Russland.

Bild 21: „Die letzte Kraft“ – Denkmal den gestorbenen und gequälten Russlanddeutschen in der Sowjetunion während und nach dem 2. Weltkrieg

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Das Denkmal steht auf einem freien Platz. Hinter dem Denkmal gibt es eine grüne Wand, gegenüber gibt es mit einem Abstand eine Waldanlage. Vor den Bäumen waren eine Reihe Bänke aufgestellt, wo die Zeitzeugen und die älteren Gäste Platz nehmen konnten.

Bild 22: Bei der Trauerfeier am Friedhof Marzahn. Sitzen: die Zeitzeugen; stehen: Teilnehmer der Kranzniederlegung. Erster von links – Dr. Christoph Bergner (31.08.2011)

Das Denkmal wurde am 28. August 2002 zum Gedenken an die Verfolgung der Deutschen in der Sowjetunion auf dem Parkfriedhof Marzahn in Berlin eingeweiht. Die Plastik heißt „Die letzte Kraft“ und wurde von dem aus Kirgisien (Sowjetunion) stammenden Bildhauer Jakob Wedel geschaffen. Jakob Wedel lebt seit 1988 in Deutschland.

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Bild 23: Die Eröffnungsansprache wurde von Lilli Selski von der Landmannschaft der Deutschen aus Russland gehalten.

Danach kam die Gedenkandacht, die von Pfarrer Edgar L. Born und Pfarrer Dr. Alexander Hoffmann gehalten wurde.

Gedenkandacht 31.08.2011 – Friedhof Marzahn (P1 - Pfarrer Edgar L. Born; P2 - Dr. Pfarrer Alexander Hoffmann; G - Gemeinde )

P1 Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. G In Ewigkeit. Amen. P2 Gelobt sei Jesus Christus. G In Ewigkeit. Amen. P1 Liebe Schwestern und Brüder: am Gedenkstein für die Opfer des Stalinismus haben wir uns versammelt, um der russlanddeutschen Menschen zu gedenken, die vor, während und nach dem 2. Weltkrieg in der UdSSR umkamen in den Jahren des großen Terrors oder durch die Deportationen oder in den Arbeitslagern. (Auf dem Stein steht: Den Deutschen, die in der Sowjetunion unter Stalins Regime gelitten haben. Eure Geduld war grenzenlos. Euer Leid unermesslich. Das Gedenken an euch werden wir für immer bewahren.) P2 In Psalm 22 lesen wir: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie nach, aber meine Hilfe ist ferne. 38


P1 Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch ich finde keine Ruhe. P2 Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle Knochen haben sich von einander gelöst; mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs. P1 Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe und meine Zunge klebt mir am Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub. P2 Ich kann meine Knochen zählen; sie aber schauen zu und sehen auf mich herab. P1 Aber du, Herr, sei nicht ferne; meine Stärke, eile , mir zu helfen. Amen. P2 Jemand versuchte, sich auf die entsetzlichen Ereignisse von 1941 einen Reim zu machen und schrieb Ende desselben Jahres:

P1 „Herr, wo bist du, großer Gott? Hilf uns doch in uns’rer Not. Eine finstre Schwarze Wolke, eine schwer geprüfte Zeit. Von der Heimat weggetrieben, weit hinweg von Hof und Haus, niemand ist zurückgeblieben, alle mussten wir hinaus. Menschen haben wir verloren, einer hier, der andre dort. Viele Kinder sind erfroren Auf dem Weg zum fremden Ort. Nach der langen, weiten Reise in die Berge Kasachstans, pferchten sie uns in Baracken eng und schmutzig, Mann für Mann. Wenig Brot, das wir besessen, von zu Hause mitgebracht, hatten wir bald aufgegessen, hungrig war’n wir Tag und Nacht. Ob du uns wohl wirst erhören Und uns führen aus der Not? Ob zurück wir werden kehren? Fest vertrau’n wir auf dich Gott!“

P2 Zum einen die Frage: Herr, wo bist Du? Und zum anderen das Bekenntnis: Fest vertrauen wir auf dich, Gott. Wir Christen glauben: Keinem von uns – an keinem Ort und zu keiner Zeit – ist Gott fern. Unser Herr Jesus Christus ist in das Elend dieser Welt hineingegangen, um es zu tragen und 39


zu überwinden. Er wurde selbst zu Unrecht verurteilt und zu Tode gebracht und ist darum allen nahe, denen Unrecht geschah und geschieht. P1 Der gekreuzigte Christus ist Grund unseres Glaubens, der auferstandene Herr – Grund unserer Hoffnung. So schreibt Petrus in seinem 1. Brief: „Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi.“ P 2 Wir entzünden die Osterkerze. In ihrem Licht wollen wir der Umgekommenen gedenken und gewiss sein, dass kein Leben verloren, sondern in seiner Gnade geborgen ist für immer. Entzünden durch Zeitzeugen – ein Moment Stille

P 1 Ansprache Wendelin Mangold, ein russlanddeutscher Lyriker schrieb:

Zwischling Zwischen Bleiben und Gehen. Zwischen später und jetzt. Zwischen Ernten und Säen. Zwischen Willkür und einfach Gesetz. Zwischen Anspruch und Würde. Zwischen gottlos und fromm. Zwischen Nehmen und Hürde. Zwischen Abfuhr und einfach Willkomm. Zwischen Kindern und Eltern. Zwischen Regen und Schnee. Zwischen Trinken und Keltern. Zwischen Ankunft und einfach Wehweh. (In. Rund um das Leben. Gedichte. Stuttgart 1998. S. 82)

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Ein Leben lang ein Zwischling sein. Zwischen den Stühlen sitzen. Zwischen Mühlsteinen liegen und aufgerieben werden. Schon im 1. Weltkrieg gerieten die Deutschen in Russland zwischen die Fronten. Es kam zur Deportation von tausenden grenznah wohnenden Wolhynien-Deutscher. Und erst recht im 2. Weltkrieg. Hatten die Hungersnöte von 1921 und 1933, die Entkulakisierung, die großen Säuberungen der dreißiger Jahre und die Zerschlagung der Kirchen schon viel Not und Elend über die Menschen in der UdSSR gebracht, so kam für die Deutschen mit dem Ukas vom 28.08.1941 eine neue Dimension des Leidens hinzu. Auseinander gerissen wurden die Familien. Eheleute, Geschwister, Verwandte, Nachbarn, Freunde. Schon an den Verladestationen wurden die Väter von der Familie getrennt und in Arbeitslager verschleppt. Andere folgten ihnen später: Jugendliche ab 15 Jahre, Männer bis 65 Jahren und Frauen bis 45 Jahre. Manche Familien haben sich erst 1956 wiedergefunden – fanden ihre Lieben nicht wieder. Bis heute werden in russlanddeutschen Zeitungen Suchanzeigen aufgegeben, die sich auf jene Jahre beziehen. Man muss davon ausgehen, dass diese ungeheure Zerrissenheit das Schicksal der Erlebnisgeneration und der nachfolgenden Generationen prägte. Es kam zu Verwerfungen in Lebens- und Familiengeschichten, die bis heute traumatisch nachwirken. Diese Zerrissenheit ist genauso eine Kriegsfolge, wie der weitgehende Verlust der deutschen Sprache, der Verlust der Heimat, der Verlust des Besitzes und der Würde. Das alles trägt zur zerbrechlichen russlanddeutschen Identität bei. Viele haben gehofft, hier in der Heimat ihrer Vorfahren sich irgendwie wieder zusammenzusetzen. Zwischlinge. Zerrissene. Sicher: Die Deportation der Russlanddeutschen war auch eine Folge des Krieges, den Hitlerdeutschland in die UdSSR trug. Die Versöhnung mit den Völkern der Sowjetunion muss uns bleibende Pflicht sein. Nur: welche Rolle können und sollen die Russlanddeutschen in diesem Prozess der Versöhnung spielen? Viel zu lange sahen wir sie unsicher dabei stehen. Mit fragendem Blick: wohin gehören wir? Mit wem sollen und können wir uns versöhnen mit all’ unserer Zerrissenheit? Was ist mit unserem Schicksal, das weder in den russischen noch in den meisten bundesdeutschen Geschichtsbüchern Erwähnung findet? Vielleicht müssen wir neue Formen der Versöhnung finden, in denen das Schicksal der Russlanddeutschen genauso aufgehoben ist, wie das der Menschen in der GUS und der Deutschlanddeutschen. Z.B. haben wir gute Erfahrungen gemacht mit der aktiven Mitwirkung russlanddeutscher Familien bei Tschernobylkinder-Aktionen. Es gibt Gelegenheit, Russlanddeutsche in die Partnerstadtarbeit einzubeziehen. Außerdem bahnt sich seit dem Ökumenischen Kirchentag in München eine Versöhnungsinitiative zwischen Russlanddeutsche aus dem Ruhrgebiet und Christen im Gebiet Kaliningrad an. Es wird Zeit, dass aus den Zwischlingen zu wertgeschätzten, nicht mit Füßen getretenen Brückenmenschen der Versöhnung werden. Dazu können wir alle beitragen. P 2 Ansprache: Paulus schreibt im 2. Brief an die Korinther: 41


„Wir wissen: Wenn unser irdisches Zelt abgebrochen wird, dann haben wir eine Wohnung von Gott, ein nicht von Menschenhand errichtetes ewiges Haus im Himmel. Wir sind also immer zuversichtlich, auch wenn wir wissen, dass wir fern vom Herrn in der Fremde leben, solange wir in diesem Leib zu Hause sind: denn als Glaubende gehen wir unseren Weg, nicht als Schauende.“ Weil wir aber zuversichtlich sind, ziehen wir es vor, aus dem Leib auszuwandern und daheim beim Herrn zu sein. Deswegen suchen wir unsere Ehre darin, ihm zu gefallen, ob wir daheim oder in der Fremde sind. (2 Kor 5,1.6-10) Wort des lebendigen Gottes.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Liebe Schwestern und Brüder im Glauben, ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft, sagte gestern ein Jugendlicher, der half, die Zeitzeugen vorzustellen. Damit sagte er: Nur derjenige, der weiß, woher er kommt, hat ein Fundament, von dem aus er sein Leben entwerfen und weiterbauen kann. Der Mensch will kreieren, bauen, entwerfen und wachsen über sich hinaus. Er will Ebenbild Gottes sein. Kreator. Deshalb ist Deportation so furchtbar. Der Verlust von Heimat ist nicht nur Verlust von Vermögen und aller sozialer Bezüge, es geht tiefer, es beraubt den Menschen der Entfaltung und der Gestaltungsmöglichkeit, es beraubt ihn der Zukunft. Daher die große Sehnsucht nach einer Heimat. Nun sind heute sehr viele Menschen ohne Heimat. Freiwillig oder unfreiwillig. Kosmopoliten und Flüchtlinge – ohne Heimat. Sesshaftigkeit ist da für einen Biederkeit, für den anderen Ziel aller Träume. Der Text des Korintherbriefes scheint da ganz aus der Reihe zu tanzen. Statt von einem Haus, spricht er von einem Zelt, das Leben im hier und jetzt bezieht er nicht, umgekehrt, auf eine Heimat, umgekehrt, er spricht von einem „Dasein in der Fremde“. Das „Daheim sein“ versteht der Text als ein Sein beim Herrn, dort ist von „Heimat“ als dem ewigen Haus im Himmel die Rede. Geht dieser Bibeltext gänzlich an der Sehnsucht des Menschen vorbei? Hebt er ab, nimmt den Menschen in seinem Wesen nicht ernst? Beim Nachdenken kommt mir das Lied „Wir sind nur Gast auf Erden“, in den Sinn, das bei Trauergottesdiensten gesungen wird. „Wir sind nur Gast auf Erden, und wandern ohne Ruh, 42


mit mancherlei Beschwerden der ewigen Heimat zu“. Auch eine Redewendung früherer Generationen kommt mir in den Sinn, „Jemand ist heimgegangen“, nicht gestorben, sondern „heimgegangen“. Ich denke aber auch an die überschnelle Welt da draußen, die immer kleiner wird, an die Menschen, die es gewohnt sind, Pizza zu essen, in Ägypten und Thailand ihren Urlaub zu verbringen, und ich denke an den Philosophen Vilem Flusser, der von der Kunst der Migration spricht, und sagt, als Ebenbild Gottes, ist der Mensch eingeladen, sein Leben als Entwurf zu betrachten, und das Fundament nicht mehr bloß die eigene Familie, das eigene Dorf oder Sippe, sondern jeder, dem ich in die Augen schaue, mit dem ich ein Wort tausche. In dem Sinne: Er gibt mir seins, ich ihm meins. Die Kommunikation als Steinbruch für mein Haus. Der Nächste, in dem ich mich selbst finde. Mein Selbst finde. Heimat also so gar nicht an einen Ort gebunden. Das Gespräch, die Begegnung, der Andere wird vielmehr als Heimat wahrgenommen. Auch für den Christen der ersten Jahrhunderte, war Heimat, weniger ein Ort, als eine Beziehung, es war kein Stein, sonder ein Du, das Du Gottes, mit dem sie vereint zu sein sich sehnten. Deshalb mussten Väter und Mütter dennoch für ein Dach über dem Kopf sorgen, dennoch schauen, dass die Kinder zu essen hatten. Aber ihr Blick was weiter, letztlich auf Gott ausgerichtet. Für mein Empfinden ist die Bezeichnung „Volk auf dem Weg“ nicht nur eine Beschreibung einer Tragödie, sie enthält verborgen auch das Wissen, um den reichen Schatz, den ein Mensch empfängt, der unterwegs ist, Menschen kennenlernt, Sprachen spricht, in Kulturen sich zu bewegen weiß. Von diesem Schlag sind unsere Eltern und Großeltern gewesen. Kraft haben sie aus ihrem Glauben an den Auferstandenen geschöpft, der als Licht auf ihrem Weg brannte. Deshalb können sie trotz allen erlittenen Leids ohne Wut und Hass, - in Frieden leben. Heute gedenken wir Ihrer, der Heimgegangenen. Die Verbindung zu Ihnen lehrt uns mutig zu sein, nicht zu verzagen, lehrt uns trotz aller Widrigkeiten, mit sich und der Welt in Frieden zu leben. Ein Lebenskonzept, das modern ist, dass wir immer wieder „Klimmzüge“ machen müssen, um es einzuholen. Amen. P1 Lasst uns beten: P1 Gott, vor dir klagen wir über alles Unrecht, über Hass und Gewalt, die die Menschen in der Sowjetunion, Russen, Deutsche und Angehörige vieler Völker, erlitten haben. Manchmal möchten wir stumm bleiben und nicht erinnert werden. Aber Erinnerung ist notwendig, damit unser Gewissen geschärft und wir uns mahnen lassen, wenn die Kälte des Herzens nach uns greift. Gemeinsam bitten wir dich: G Heile du mich, Herr, so werde ich heil. Hilf du mir, so ist mir geholfen. P2 Gott, wir erschrecken, wenn wir hören, wie schnell Menschen zu Tätern werden können, wenn sie menschenverachtenden Ideologen aufsitzen, wenn sie nur an ihr Wohlergehen denken und gleichgültig Befehle ausüben. Wir haben Angst, dass die Geschichte sich 43


wiederholt, wir fürchten, dass unverbesserliche und unbelehrbare Menschen rücksichtslos Gewalt anwenden, um ihre Ziele durchzusetzen. Gemeinsam bitten wir dich: G Heile du mich, Herr, so werde ich heil. Hilf du mir, so ist mir geholfen. P1 Gott, wir erleben immer wieder, dass Leid aufgerechnet und klein geredet wird. Wir klagen über jeden frühen Tod, über jedes abgebrochene Leben. Wir wollen die Anfänge von Irrwegen und Ursachen von Schuld erkennen, damit wir einen neuen Weg in eine befreite Zukunft finden. Hilf uns, wach zu bleiben und den Anfängen zu widerstehen und Leben in Gerechtigkeit und Frieden einzuüben. Gemeinsam bitten wir dich: G Heile du mich, Herr, so werde ich heil. Hilf du mir, so ist mir geholfen. P2 Miteinander und füreinander beten wir: Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft Und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

P1 Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Der Herr erhebe sein Angesicht über dich und sei dir gnädig. Amen.

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Als die Andachtspredigt verlesen war, wurden Frau Mathilde Vogel und ich (Alexander Muth) gebeten, am Denkmal die Kerze anzuz端nden.

Bild 24, 25: W辰hrend der Kerzenanz端ndung am Denkmal f端r die verstorbenen und geplagten Russlanddeutschen im Friedhof Marzahn, von links: Pfarrer Dr. Alexander Hoffmann und Pfarrer Edgar L. Born, die die Andacht hielten, Alexander Muth und Mathilde Vogel

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Danach gab es eine Schweigeminute zu Ehren der Opfer des Stalinismus.

Bilder 26, 27: Schweigeminute bei der Kranzniederlegung am Denkmal „Letzte Kraft“ im Parkfriedhof Berlin-Marzahn

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Damit war der Gedenkprozess am Denkmal zu Ende. Die Teilnehmer wurden jetzt mit 2 Bussen zum Berliner Hauptbahnhof gebracht. Somit waren die Jugendbegegnung und die Konferenz abgeschlossen. Das war für alle Teilnehmer ein wichtiges und interessantes Ereignis.

Um 17 Uhr 30 machten wir uns mit Herrn Wohlfahrt auf den Heimweg. Wir kamen sofort, schon in Berlin, in einen Stau, konnten nur im Schritttempo vorwärts kommen. Das ging so, bis wir Brandenburg hinter uns hatten, dann ging es auf der Autobahn in schnellem Tempo voran. Wir machten unterwegs nur eine kleine Pause. Um 22 Uhr 30 kamen wir, Gott sei Dank, bei mir zu Hause an. Ich hatte auch alles in Ordnung zu Hause angetroffen. Unsere Tochter Marina hatte die Mama diese Tage gut versorgt, sie schlief nachts in meinem Zimmer, in der Nähe bei der Mutter.

Ich hatte 4 schöne Tage erlebt, viel erfahren, viel Neues und Interessantes gesehen. Ich sah das alles als meinen schönen Urlaub an.

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