Jewish Museum Berlin: JMB Journal Nr. 9

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N E U ES AU S D E R DAU E RAU SST E L LU N G

Vor Gericht: Auschwitz / Majdanek Den neuen Schwerpunkt des Bereichs „Gegenwart“ in der Dauerausstellung bilden die beiden größten und meistrezipierten NS-Prozesse der Bundesrepublik: der Frankfurter AuschwitzProzess (1963–1965) und der Düsseldorfer Majdanek-Prozess (1975–1981). Die Gerichtsverfahren markieren Wendepunkte im öffentlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit in Deutschland. Im Auschwitz-Prozess standen – 18 Jahre nach Kriegsende – zum ersten Mal ehemalige Angehörige des Lagerpersonals eines Konzentrationslagers wegen Mord vor einem deutschen Gericht. Während der 20 Monate, die die Hauptverhandlung dauerte, berichteten deutsche und internationale Medien mehr als je zuvor über den systematisch geplanten und bereitwillig ausgeführten Massenmord an den europäischen Juden. Das aggressive Auftreten der Angeklagten, die keine Reue zeigten, machte deutlich, dass sich die Verantwortung für die NS-Verbrechen nicht nur – wie bislang allgemein postuliert – auf die nationalsozialistische Führungsspitze abschieben ließ. Die Zeugenaussagen der 211 ehemaligen Häftlinge gelangten an eine breite Öffentlichkeit. Allein die vier großen deutschen Tageszeitungen Die Welt, Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Rundschau publizierten in den 20 Monaten, in denen der Prozess lief, fast 1.000 Beiträge. Auch das noch junge Medium Fernsehen berichtete aus dem Gerichtssaal. Eine Auswahl historischer Fernsehbeiträge aus der Bundes-

republik, den Niederlanden und Kanada zeigen auf beeindruckende Weise, welche Diskussion um Verantwortung und Vergessen der Auschwitz-Prozess auslöste. Ausschnitte aus Interviews mit dem Staatsanwalt Joachim Kügler sowie der Dolmetscherin Wera Kapkajew oder mit dem angeklagten Lagerarzt Franz Lucas reflektieren das Gerichtsverfahren ebenso wie Statements internationaler Prozessbeobachter, darunter Hannah Arendt und der FAZ-Journalist Bernd Naumann. Der Majdanek-Prozess förderte über ein Jahrzehnt später das Unvermögen der deutschen Justiz zu Tage, die NS-Verbrechen in angemessener Weise zu ahnden. Diesem von den Zeitgenossen immer wieder als „monströs“ beschriebenen Gerichtsverfahren nähert sich die Ausstellung über die 44-teilige Gemäldeserie von Minka Hauschild, die verschiedene Prozessbeteiligte darstellt. Inspiriert hatte die Malerin der Dokumentarfilm „Der Prozess“ von Eberhard Fechner, in dem Interviews mit Angeklagten, Zeugen, Juristen, Journalisten und anderen Prozessbeteiligten zu einer beeindruckenden Interviewcollage montiert sind. Die Rollen der Menschen auf den Porträts werden an interaktiven Tablet-Computern in der Ausstellung aufgedeckt. Die einzelnen Geschichten beleuchten den Majdanek-Prozess schlaglichtartig. So ist zum Beispiel die Erfahrung, die die polnische Zeugin Henryka Ostrowska machen musste, bezeichnend für das Vorgehen der Verteidiger im Majdanek-Prozess: Sie sagte in Düsseldorf gegen die ehemalige KZ-Aufseherin Hildegard Lächert aus. Als sie im Zeugenstand beschrieb, dass sie die Behälter mit Zyklon B zur Gaskammer bringen musste, beantragte Lächerts Verteidiger die Verhaftung der Zeugin. Er wertete ihre Aussage als Geständnis, sich der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht zu haben. Das Gericht lehnte den Antrag zwar ab. Der Verteidiger hatte dennoch sein Ziel erreicht, denn Henryka Ostrowska war nicht mehr bereit, als Zeugin auszusagen. Sie bezeichnete das Gericht als Theater, in dem sie keinen Platz habe und reiste nach Warschau zurück.

Das Ergebnis der fünfeinhalb Jahre, die der Prozess dauerte, waren Freisprüche und milde Urteile. Nur bei der Angeklagten Hermine Braunsteiner-Ryan erkannte das Gericht einen Täterwillen und verurteilte sie wegen Mordes. Die ehemalige stellvertretende Oberaufseherin des Frauenlagers in Majdanek hatte in den 1950er Jahren einen Amerikaner kennen gelernt und war in die USA ausgewandert. Simon Wiesenthal spürte sie schließlich in New York auf und erwirkte in einem jahrelangen Kampf ihre Auslieferung an die Bundesrepublik Deutschland. Im Majdanek-Prozess bezeugten mehrere ehemalige Häftlinge, dass sie im Rahmen der sogenannten „Kinderaktionen“ Kleinkinder und Säuglinge brutal auf Lastwagen gezerrt bzw. geworfen hatte, die diese Kinder zu ihrer Ermordung in die Gaskammern brachten. Hermine Braunsteiner bekam als einzige Angeklagte lebenslänglich. Die Proteste in der Bevölkerung – nicht nur in der Bundesrepublik, sondern international – gegen die unzulänglichen Urteile waren lautstark. Die milden Strafen wurden als Hohn auf die Opfer empfunden. Das Bedürfnis wuchs, neue, nichtjuristische Wege einzuschlagen, um Verantwortung für die NS-Verbrechen zu übernehmen. Das neue Ausstellungskapitel zeigt die wegweisende Rolle, die die Justiz in Deutschland für die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust spielte. Es zeigt aber auch das Scheitern der strafrechtlichen Verfolgung mit ihren unzulänglichen und sogar beschämenden Ergebnissen. Wichtiger als die abschließenden Urteile war jedoch die Resonanz auf die Prozesse in Gesellschaft und Medien, die bis heute nachklingt. Monika Flores Martínez

Minka Hauschild schuf die 44 Porträts von Beteiligten am Majdanek Prozess, die jetzt in der Dauerausstellung zu sehen sind. Minka Hauschild portrayed 44 people involved in the Majdanek-Trial. Her paintings can now be seen in the museum’s permanent exhibition.

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