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Gefühlsdiät Wir befanden uns auf Umwegen, als wir das Bier aus vermilchten Gläsern tranken und Marita ihren nackten großen Zeh auf die dunkelblaue Balkontischkante stützte. Sie wusste, ich wäre ausgerastet, wenn sie ihren ganzen Fuß auf die Plastikplatte bequemt hätte. Deswegen ließ sie es bleiben und streckte mir ihre Zähne entgegen. »Du bist und bleibst die Spießerin, die ich kennengelernt habe.« Krümel von billigen Aldi-Milchbrötchen klebten in ihren Zahnzwischenräumen, sie hätte ihre Zähne wirklich besser putzen sollen. »Mag sein«, entgegnete ich, irgendwo zwischen QuarterlifeCrisis und Burn-Out. Dieser Balkonabend gehörte zu unseren Salad Days. Es waren diese Salad Days, an denen wir auf Kochen verzichteten und lieber rauchten, es waren diese Salad Days, an denen Zigarettenrauch leere Sprechblasen über unseren Köpfen bildete, und an denen das Echo nur unterschwellig ausgesprochener Punkte und Ausrufezeichen lang nachhallte. Es waren unsere Salad Days, an denen wir auf Gesprächsdiät waren und unsere Verständnis-Pölsterchen reduzierten und uns immer mehr voneinander distanzierten. Ja, wir hungerten nach Raum zum Atmen. Und ja, sicherlich hätte uns ein Seelenstriptease gutgetan, eine kurze Gefühlsshow. Das wäre zwar unheimlich dramatisch gewesen, aber wir beide hätten wenigstens kurz ein Stück ehrlicher Gefühle entblößt, unseren Stolz und unsere falschen Vorstellungen demaskiert. Doch darin waren wir beide nicht besonders gut. Ich zuckte zusammen, als Marita sanft ihre Hand auf meine Schulter legte, ich war bei Weitem nicht so zierlich wie Marita, vielleicht spürte ich ihr leichtes Anstupsen deswegen erst spät. Mit geröteten Augen sah sie mich direkt an. Marita ging es nicht gut, das wusste ich, und mir ging es auch nicht gut, nur, das wollte ich nicht wahrhaben. »Ich gehe morgen in die Klinik.« Die Bewegung ihrer schmalen Lippen faszinierte mich, für einen Moment war ihr sonst so angespannter, knochiger Kiefer gelöst. Mein Blick wanderte zu ihrem spitzen Kinn, überquerte ihr herausstehendes Schlüsselbein, wanderte zu ihrer Glatze, die sie sich einmal im betrunkenen Zustand rasiert hatte. Das kühle Licht der Gartenlaternen aus den Blumenkästen spiegelte sich in ihren glatten Kreolen wider. Sekunden vergingen, meine halboffenen Augen, mein angestrengter Blick war auf Marita fixiert und dennoch blickte ich durch sie hindurch.