Kleiner Atlas der Lebensformen Karlsruhe / Nancy

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Kleiner Atlas der Lebensformen Karlsruhe /  Nancy


2. Auflage 2016


Jacob Birken Kleiner Atlas der Lebensformen Karlsruhe /  Nancy



Vorwort

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Dieses kleine Buch ist aus einem Projekt zwischen den zwei mittelgroßen Partnerstädten Karlsruhe und Nancy entstanden. Jeweils ein Künstler & ein Autor sind aus der einen in die andere gereist, um einen Eindruck vom Leben (in) der Stadt zu gewinnen und festzuhalten: Eric Didym und Jean-Edouard Hasting fuhren nach Karlsruhe, Markus Kiefer und ich nach Nancy. Ein solcher Eindruck bleibt immer touristisch: Man sucht Orte und Situationen, Klänge, Bilder und Szenen, die für die Stadt typisch erscheinen sollen, doch dieses Typische entsteht natürlich vor dem Hintergrund dessen, was wir aus unserer eigenen Umgebung gewohnt sind. Im Idealfall wäre dieses Typische an einer Stadt das, was uns überrascht, die Ansässigen aber beinahe schon langweilt (aber eben nur beinahe): Natürlich ist in Karlsruhe eine Brücke über den Zoo gespannt, wie sollte man denn sonst schnell aus der Süd- in die Südweststadt kommen? Dementsprechend besteht ein Teil des Reizes an solchen Projekten, dass die ‚Gäste‘ natürlich die Hälfte übersehen und ausgerechnet in den banalsten Ecken etwas gefunden zu haben glauben; aber darüber, wer hier wirklich was übersieht, müsste besser jemand Unparteiisches urteilen. Interessanter ist, nach Gemeinsamkeiten zu suchen – nicht unbedingt dem, was in einer Stadt an die andere erinnert, sondern was an beiden eben städtisch ist. Was aber wiederum eine Stadt ‚als solche‘ ausmacht, ist schwer und wenn überhaupt nur auf sehr triviale Weise festzulegen (Einwohnerzahlen, Verwaltungsrechtliches, usw. usf.), daher können wir letzten Endes nicht anders, als auf Eindrücke zu vertrauen, auf flüchtige Vergleiche, Anekdoten, die eine Erinnerung wachrufen und vielleicht in der Phantasie zu einer gemeinsamen Geschichte zusammengesponnen werden können – wie auf den folgenden Seiten.


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en Platz am richtigen Fleck. Es passiert nicht oft, dass barocke Baumaßnahmen eine Stadt noch im 21. Jahrhundert lebendig machen. Im späten Absolutismus standen noch Fragen nach Repräsentation vorrangig auf der Tagesordnung, und im Stadtbild äußerte sich dies durch die eine oder andere Blickachse, die topographisch von hier nach da reichte, ideologisch aber eher ein Gefälle beschrieb. Von unten nach oben: In der alten Anlage Karlsruhes als ‚Fächer‘ ist am Ende jeder Straße das gleiche Ziel zu sehen – der Turm des Schlosses, an dem die hiesigen Monarchen lebten und von dem aus sie das Land regierten; von oben nach unten, denn vom Schlossturm aus lässt sich der gesamte Fächer übersehen, wie er sich von diesem Mittelpunkt her ausbreitet. Aus welcher Richtung die Beherrschten kommen, immer sehen sie den Herrscher; der Herrscher hingegen

Den Platz am richtigen Fleck blickt auf den ganzen Plan, wie er ihn erdachte und wie er zumindest in seiner Sichtweite die Welt strukturiert. Heute ist der Herrscher auf eine ganze Reihe von Büros verteilt, und die Blickachse des 21. Jahrhunderts orientiert sich an der zumindest ideellen Endlosigkeit der Einkaufsmeile. Der Fächer ist vielleicht städtebaulich ‚interessant‘, bewirkt aber vor allem, dass man zur Innenstadt und aus ihr zurück immer zumindest ein Stück des Weges in die verkehrte Richtung zu laufen scheint. Stanisław Leszczyński, der gescheiterte polnische König, der im 18. Jahrhundert aus allerlei regional- und geopolitischen Gründen schließlich Herzog in Frankreich wurde, hatte mit seiner herrschaftlichen Blickachse in Nancy mehr im Sinn als nur Repräsentation. Der heute nach ihm benannte Place Stanislas verband zwei bis dahin vonei-


Den Platz am richtigen Fleck nander durch eine Mauer und die Stadtgeschichte getrennte Bezirke: die mittelalterliche Altstadt und die neue Stadt des 16. Jahrhunderts. Der alte Plan zeigt beide Stadtteile als aneinander gekoppelte, doch auch gegeneinander aufgestellte wehrhafte Zellen – da ist nicht nur eine Mauer, sondern sogar noch ein Graben dazwischen. Krokodile, vielleicht. Die typischen Erzählmuster aus der speculative fiction drängen sich einem auf. Wäre der „Place Stan“ nie geschehen und wäre diese Trennung bis heute und in die Zukunft hinein aufrecht erhalten worden, hätte sie dann auch eine Grenze inmitten der Gesellschaft, zwischen Gemeinschaften und Individuen gezogen? Herzzerreißende Szenen, wenn sich jemand auf der Suche nach Glück in die andere Hälfte aufgemacht hätte; Liebespaare, die niemals zusammenkommen dürfen, Nachrichten werden über die Stadtmau-

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4 er geworfen, nachts oben ein geheimes Treffen, das ‚Seil‘ aus zusammengeknoteten Bettlaken schnell wieder hochgezogen, die eine Partei noch nass von der abenteuerlichen Durchquerung. Du hast da noch was im Haar, oh, eine Seerose! Für mich? Natürlich die tieferen gesellschaftlichen Konsequenzen: da die Reichen, da die Armen. Hier enge Gassen, immer Regen, in einer Pfütze flackern die Reflexionen einer seit Jahren sterbenden Neonröhre, jemand tritt auf eine Tageszeitung mit Vermisstenanzeigen. Hier hingegen ein Café am anderen; schnieke Businessleute eilen zum Überschall-TGV nach Paris. Nach ein paar ‚Vorfällen‘ zu viel wurde die Bahnstrecke hochgelegt und überquert den anderen Stadtteil nun in unerreichbarer Höhe wie in Karlsruhe die Fußgängerbrücke den Zoo, zwischen den Pfeilern unten rauchen die Halbstarken geschmuggelte Kippen.

Den Platz am richtigen Fleck Mit einem geschickt gesetzten Platz machte Stanisław diese Zukunft unmöglich. 1831 wurde ihm dankbar in der Mitte ein Denkmal gesetzt: „À Stanislas le Bienfaisant, la Lorraine Reconnaissante“. Etwas gemütlich sieht der Herrscher aus; das ist kein Zeigefinger, der Truppen in die Schlacht schickt. Und wenn wir hier die Mauer entfernen, einen schönen Platz stattdessen, was meinen Sie? (Ganz erledigt hat sich die Angelegenheit mit den Blickachsen bis heute nicht. Die ab den 1950ern erbaute und später zum Teil wieder abgerissene Wohnmaschine im auf das Stadtzentrum herabblickenden Viertel Haut de Lièvre ist vom Place Stan aus nicht sichtbar; erst, wenn man auf den Balkon des prächtigen Rathauses tritt, zeichnet sich links am Hang in der Ferne der modernistische Riegel ab. Welche Blicke sollten hier gelenkt, welche abgewehrt werden?)


Geschichte macht dreckig

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eschichte macht dreckig. Seit der Entdeckung, dass eine Stadt dank schöner historischen Bauten auch als Freilichtmuseum gelten kann (genauer gesagt, seitdem wir historische Bauten überhaupt als schön betrachten und nicht, wie noch ins 19. Jahrhundert hinein, beispielsweise die gotische Kirche eher als Steinbruch; noch genauer, seit wir Bauten als historisch und nicht nur als alt verstehen), müssen Verwaltungen und Menschen Lösungen für den drohenden ästhetischen und materiellen Verfall von Bauwerken und ihren Oberflächen finden. Das müssen nicht immer chemische Lösungen sein, denn das Altern von Gebäuden muss ebenso als deren Qualität verstanden werden wie als dasjenige, das sie bedroht. Es wird also nach einer Synthese gesucht, um einerseits die Authentizität des historischen Bauwerks zu bewahren und das historische Bauwerk

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6 andererseits vor Tauben und saurem Regen zu schützen. Was ist aber historische Authentizität, wenn ein Gebäude schließlich in seiner eigenen Zeit nicht errichtet wurde, um für den nostalgischen Blick späterer Generationen ‚alt‘ auszusehen? Genau wissen wir es nicht. Die Wahl bestimmter Materialien kann zwar schon mit der Hoffnung auf eine attraktive Patina getroffen werden; das

Geschichte macht dreckig können wir aber im Rückblick nicht immer nachvollziehen und müssen dem erst recht nicht zustimmen. Sobald ein Gebäude steht, beginnen gewissermaßen die Nachverhandlungen, ob es in genau diesem Zustand stehen bleiben wird, und bei diesen Verhandlungen wollen nicht nur Ämter und die Nachbarschaft mitreden, sondern auch die Tauben und andere Naturgewalten – welche Anliegen


Geschichte macht dreckig dabei diejenigen hatten, die es entwarfen und bauten, geht schnell unter und ist später weniger Anliegen als Spielball ideologischer Konzepte. Wer vor einem halben Jahrtausend ein Fachwerkhaus baute, machte das nicht fürs Denkmalschutzamt des 21. Jahrhunderts. Das alte oder altertümliche Haus hat in der modernen Stadt also eine ganz andere Funktion als die, die es anfangs einnahm (oder ergänzt diese zumindest). Diese Funktion ist ausgesprochen modern, wie ja auch das Freilichtmuseum eine moderne Entwicklung ist; es ergänzt Fortschritt und Industrialisierung, die die Stadt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts prägen, durch das sinnstiftende ‚Andere‘ von Tradition und Handwerk. Für die Internationale Ausstellung 1909 in Nancy wurde ein Bauernhaus aus dem Elsass in die Stadt transportiert. Als Ausstellungsobjekt konnte das Dorf

7 durch die Stadtmenschen mit der gleichen Mischung aus Staunen und Stolz betrachtet werden wie ein ebenso auf dem Gelände errichtetes Pendant aus Senegal. Letzteres unterstrich die euro­ päischen Ansprüche auf (koloniale) Weltbeherrschung, ersteres spielte einem lokaleren Selbstbild zu: Schließlich sollte die Expo 1909 auch zeigen, dass sich der französische Osten nur eine Generation nach dem Verlust Elsaß-Lothringens wirtschaftlich und kulturell mehr als erholt hatte. Das historische Lokalkolorit wurde dann für die Schau noch über die Grenze geschafft; für die Stadtmenschen war das „Maison de Zützendorf“ mit den dazugehörigen pittoresken Landleuten wohl auf ähnliche Weise exotisch wie der koloniale Import aus Afrika. Das elsässische Dorf heißt heute übrigens nach einer Zusammenlegung Obermodern-Zutzendorf und liegt wieder


8 in Frankreich, etwas näher an Karlsruhe als an Nancy. Obwohl es selbst bei unterschiedlicher Betonung jeweils zum Thema passen würde, bezeichnet ‚Obermodern‘ weder eine radikale Aktualität noch eine besondere Gammeligkeit, sondern leitet sich von der Moder ab, die zwischen Baden-Baden und Rastatt in den Rhein mündet.

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is man sich drin spiegeln kann. So wie sich die nostalgische Freude am schön gealterten Bauwerk ideologisch verstehen lässt, kann dessen Reinigung auch eine politische Ansage sein. ‚Hygiene‘ schlägt schnell aus einer praktischen Tätigkeit, die den Menschen gesund halten soll, in eine gesellschaftliche Metapher um: Sauberkeit, Reinheit und Ordnung erleichtern und verlängern das Leben, können aber auch bedeuten, das etwas oder jemand unerwünscht ist und

Bis man sich drin spiegeln kann entfernt werden sollte. Solche Metaphern scheinen den Weg von alltäglichen Erfahrungen zu trüben Phantasmen zu weisen: Der schimmelige Fleck an der Decke geht irgendwann eben auf die Lunge, und wenn die Gesellschaft etwas zu kränkeln scheint, wollen manche Erreger ausfindig machen und weggeputzt sehen. Metaphern sind allerdings von Natur aus mehrdeutig. Reinheit kann ein konservatives Ideal sein, wenn alles Neue oder nicht schnell Einzuordnende als Verunreinigung verstanden wird – genauso sehr kann aber Verunreinigung konservativ sein, wenn sie als Patina des Ehrwürdigen anerkannt wird und ihr Entfernen entsprechend als zerstörerischer Übergriff. So wie sich auf Bauwerken der Schmutz der Straße und die Spuren chemischer Reaktionen ablagern, ist auch ihre Reinigung ein linearer zeitlicher Prozess; sie lässt sich


Bis man sich drin spiegeln kann

9 als ‚Fortschritt‘ bereits auf einer ganz trivialen Erfahrungsebene festmachen, wenn das eine Stück der Fassade bereits strahlt und das andere noch unter den Verbrennungsrückständen der letzten Jahrzehnte fossilisiert bleibt. Der korrekte Zugang könnte sein, den Wettstreit zwischen sauber (steril) und patiniert (dreckig) einfach auszuhebeln und beides weniger als Ziele, sondern als potentielle Zustände zu akzeptieren. Moderne Städte versuchen gerne, eine andere Synthese zwischen diesen Zuständen zu erreichen. Den ordentlich geputzten Fassaden wird eine flüchtige Aura verliehen, indem sie nicht in Patina, sondern in Kunstlicht getaucht werden. Wo sonst Grünspan langsam eine Statue hinabrinnen und noch den Stein darunter mit seinem geisterhaften Ton tünchen würde, können jetzt Leuchtdioden in Echtzeit Fassaden mit einer ganzen


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Bis man sich drin spiegeln kann


Urban Camo Farbpalette fluten. Wahrscheinlich ist das das Problem: Wenn zuvor chemische Prozesse schleichend ihr Werk verrichteten, will heute die digitale Technik ihr ganzes Potential ausgereizt sehen. Leider wirken die barocken Fassaden dann im wilden Mix der RGB-Kanäle weniger ehrwürdig als vielmehr wie grün und blau geschlagen, aber im Sonnenlicht des nächsten Tages ist alles wieder verheilt.

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rban Camo. Wenn wir mit der Patina die Geschichte als Schicht denken, folgt der Fluss der Zeit ohnehin keinem konkreten Lauf, sondern fließt vor allem an etwas hinunter; manches höhlt er aus, an anderen Stellen lagert sich etwas ab. Ob Luigi Colani das im Sinn hatte, als er für einen Brunnen anlässlich der 50-jährigen Städtepartnerschaft gleich den ganzen Globus diesem

11 steten Schwappen aussetzte, bleibt fraglich. Was sich hier aus in etwa der Mitte Europas über den Rest der Weltkugel ergießt, ist zumindest in der Karlsruher Version des Springbrunnens als „Trinkwasser“ gekennzeichnet. Im welthistorischen Zusammenhang gesehen hatte es leider mancherlei fatale Nebenwirkungen. Weniger Interpretationsspielraum bietet zu seinem Glück ein Strauch, der neben Colanis Brunnen im Parc de la Pépinière wächst: die 2005 gezüchtete Rose Stanislas, ebenfalls ein Geschenk unter Städten – dieses Mal aus Zweibrücken, das im Gegensatz zu Karlsruhe mit Nancy weniger befreundet als vielmehr entfernt verwandt ist, nachdem Stanisław Leszczyński dort zwei Jahrzehnte vor dem unfreiwilligen Umzug nach Frankreich ein früheres Exil antreten musste. Den Hintergrund für Globus und Rose stellt ein deplatzierter Torbogen. Heute


12 schält er sich aus dem Buschwerk am Rande des Rosengartens wie die Tore im Märchen, die an ihrem materiellen Ort so offensichtlich nirgendwo hinführen, dass sich hinter ihnen gar nichts anderes mehr eröffnen dürfte als eine andere Welt. Im 18. Jahrhundert noch anderswo aufgestellt, eröffnete sich dahinter ursprünglich ein Anwesen in der Gemeinde Custines, auf das sich nach 1917 der Künstler Louis Guingot aus Nancy zurückgezogen hatte. Guingot hatte als Maler einiges zum Kulturleben der Stadt der vorigen Jahrhundertwende beigetragen, darunter ein großes Fresko im zentralen Pavillon der Internationalen Ausstellung 1909; in die Geschichte ging er vor allem als ein früher Erfinder des militärischen Tarnmusters ein. Sein Anwesen konnte er auf diese Weise leider nicht wegzaubern – im zweiten Weltkrieg wurde es durch Luftangriffe beschädigt.

Urban Camo


Sergent Blandan hat eine neue Aufgabe Dass das Tor nun in Nancy steht, ist also wieder der Musealisierung geschuldet: Custines schenkte es 1950 der Stadt Nancy, wohl in der Annahme, dass es in einem Park am besten aufgehoben sei. Guingot starb angeblich 1944, möglicherweise ist er aber nur besonders gut getarnt und wacht noch heute darüber, wer durch sein Tor am Rande des Rosengartens in eine andere Welt oder doch ins Grüne verschwindet.

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ergent Blandan hat eine neue Aufgabe. Seit 1963 ist er in Nancy; erst stand er hier im Hof einer Kaserne, bevor er 1990 an das Ende einer Straße wanderte, die immerhin seinen Namen trägt. Die Statue des französischen Offiziers hatte da schon einen langen Weg und eine längere Geschichte hinter sich als der Mann, den sie darstellen sollte. Als sie 1887 im algerischen Boufarik

13 aufgestellt wurde, war Blandan fast ein halbes Jahrhundert tot; eine Zeitspanne, die der junge Soldat selbst im Leben bei weitem noch nicht erreicht hatte, als er 1842 mit 23 Jahren nach einem Scharmützel mit arabischen Reitern seinen Wunden erlag. Die beharrliche Geste, mit der der Mann aus Bronze noch heute auf den Boden vor sich deutet, macht in dieser Geschichte das Heldenhafte aus, das wiederum Monument und Straßennamen rechtfertigen soll. Anstatt vor der mehr als zehnfachen Übermacht der Reiter die Flucht zu ergreifen, spornte Blandan seine zwanzig Soldaten zum heroischen Widerstand an: „Courage, mes amis, defendez-vous jusqu‘a la mort!“, wie er noch auf dem Sockel der Statue zitiert wird. Was heroischer Widerstand ist, wird freilich von größeren Erzählungen bestimmt als vom tragischen Tod in der Wüste; nach der Unabhängigkeit


14 Algeriens 1962 verblasste die Zähigkeit des Kolonialoffiziers angesichts der arabischen Kavallerie gegenüber der Zähigkeit der Algerier angesichts einer über hundertjährigen Kolonialherrschaft. So musste Blandan schließlich ins ferne Nancy, um weiter als Held dastehen zu können. Welchen Freunden soll die Statue heute aber noch Mut zureden, wenn das ganze koloniale Projekt Europas nicht nur begraben ist, sondern aus seinem Grab heraus als Spuk bis in unser 21. Jahrhundert hinein geopolitische Verwerfungen zeitigt? Die Geste des zur Statue gewordenen Mannes bleibt; wie sehr sie sich nun als menschlich verallgemeinert aus ihren historischen Verwicklungen lösen lässt – als Geste eben – berührt Kernfragen der Kunstwissenschaft, die diese sich seit ihren ersten Regungen als akademische Disziplin stellt. Ans Ende

Sergent Blandan hat eine neue Aufgabe seiner Straße gerückt, scheint Sergent Blandan heute eine andere trotzige Linie ziehen zu wollen, wenn er sich auf seinem Sockel recht einsam einem Lindwurm aus buntem Glas entgegenstellt, der hier vom Norden auf ihn zukriecht. Das ist das Artem, ein noch nicht ganz fertiggestellter Neubau, der gleich drei Hochschulen Nancys beherbergen soll und an der Straßenseite mit einer gläsernen Halle abschließt. Hoch auf weißen Pfeilern aufgespannt wabern blau und rot gefärbte Glasdreiecke; eine Abstraktion zwischen Blätterdach und Meeresoberfläche, ohne dass sie die sinnlichen Versprechen des einen noch des anderen erfüllen möchte. Nichts an der Architektur deutet an, dass sie an einem ihrer Enden abgeschlossen wäre. Darin wird sie vielleicht doch Wald und Ozean gerecht: Schließlich sind beide nicht durch eine äußere


Sergent Blandan hat eine neue Aufgabe Form bestimmt, sondern eher in ihrer Ausweitung begrenzt. Das als Muster entwickelte Dach fordert, weiterentwickelt zu werden – jeder Abschluss wirkt vorübergehend, endgültig wäre wohl nur der Anschluss an sich selbst, wenn der Glasbau irgendwann den Globus umrundet und an seinem anderen vorübergehenden Ende ankommt. Nun steht nur noch Sergent Blandan im

15 Weg. „You shall not pass“: Die Geste des Soldaten hat jetzt mehr von einem sich dem Dämonen entgegenstellenden Gandalf als dem Kolonialsoldaten des 19. Jahrhunderts. Dass wir diesen Vergleich ziehen können, zeigt wohl, dass das Artem bereits gewonnen hat. Wenn Stadtund Weltbild von der Ideologie einer Postmoderne bestimmt werden, ist das Historische nur noch als Bedeutungs­


Zum Greifen nahe

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spur von Belang; nicht Wald, Meer oder die Backsteinfassade sind interessant, sondern das, was uns an sie erinnert. So auch Tod und Ausbeutung, die am dekorativ gewordenen historischen Denkmal haften bleiben können, gerade weil sie an der gegenwärtigen Fassade der schönen Konsumwelt nichts zu suchen haben.

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um Greifen nahe. Karlsruhe musste bislang keinen überflüssig gewordenen Helden aufnehmen; dafür irrte hier eine Weile ein Fabelwesen durch die Straßen, bis es schließlich in einem Gehege vor dem Prinz-Max-Palais ein schattiges Plätzchen fand. Das ist der Greif vom Leibgrenadierdenkmal, der bis 2010 noch von weit oben auf die Menschen am Europaplatz hinabblickte. Halb Raubvogel, halb Löwe, hatte das badische Wappentier im Kaiser-


Zum Greifen nahe reich noch repräsentative Aufgaben zu übernehmen, aber heute ist Karlsruhe schließlich Technologieregion und nicht Märchenwald, und so verscheuchten die allgegenwärtigen Bauarbeiten die fantastische Kreatur zuerst in ein Depot und dann an die Ecke der Karlstraße. Unwürdig, meinen einige, und in der Tat wirkt der Greif als Gartenornament hinterm Zaun ähnlich seiner Majes-

17 tät beraubt wie seine beiden tierischen Hälften in Käfig oder Voliere. Und das ist, anders als bei Raubkatze und -vogel, gut so: Seine erhabene Position hatte dem Greifen schließlich die lange Liste der Schlachten verschafft, die auf den Seiten des Denkmals verzeichnet waren. Die Toten dieser Schlachten mögen nun in Frieden ruhen, doch auf einen würdevollen Umgang mit dem Gespenst des


Tiere leuchten dich an

18 Militarismus, das die in diesem Denkmal eingeschriebenen Generationen – von 1803 bis 1918 – kannibalisierte, sollten wir nicht allzu viel Wert legen. Die Rolle, die der Greif als Repräsentant des Historischen spielt, hat sich dabei vielleicht nur graduell verschoben: Stand er vormals für eine Geschichte als die kontinuierliche Ablagerung schicksalhafter Siege oder Niederlagen ein, möchte er nun als Museumsstück eine Geschichte vermitteln, die uns aus ihren Fehlern zu lernen heißt. Im Garten des Stadtmuseums können wir ihm weit besser unsere Aufmerksamkeit widmen, anstatt auf dem Europaplatz die Nackenstarre zu riskieren. Auch der im Leben wie in Bronze unwillkommene Sergent Blandan wäre in einem Museum vielleicht am Besten aufgehoben, aber in Anbetracht seiner momentanen misslichen Lage können wir eine gewisse Sympathie

nicht verhehlen; diesen aussichtslosen Kampf sollte er noch zu Ende führen dürfen.

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iere leuchten dich an. Flamingos, die sich wohl wegen ihrer vertikalen Formensprache bei der Gestaltung von Grünflächen nachhaltiger Beliebtheit erfreuen, werden in der lebendigen Variante oftmals an den Flügeln beschnitten. So bleiben sie am Boden, auch im Karlsruher Zoo. Ähnliches könnte dem Greifen drohen, wenn er nicht bereits durch Gewicht und Material niedergehalten werden würde; jedenfalls könnte er, wenn flugtauglich, sonst kaum in einem nach oben offenen Gehege gehalten werden wie die großen Raubtiere im Karlsruher Zoo: Von einem der künstlichen Felsen würde er sich schnell aufschwingen und unterwegs noch einen der possierlichen roten Pandas aus den


Tiere leuchten dich an

19 Bäumen picken, die ansonsten über die Mauer am Stadtgarten die Menschen in ihrer Eile zum Bahnhof beobachten oder vermutlich eher wohlwollend ignorieren. Nun werden im Karlsruher Zoo keine Fabelwesen gehalten; nur einmal im Jahr haben sie dort ihren Auftritt, wenn im August das Lichterfest den Stadtgarten in einen wunderlichen Bildraum verwandelt. Dann findet sich zwischen Pfauen und Flamingos auch ein Drache, selbst wenn die Körper der einen wie der anderen nur aus dem Licht hunderter Glühbirnen bestehen. Im Lichterfest wird der Stadtgarten zu einer Zeichnung: Lampions und Teelichter säumen Wege, Beete und Ufer und abstrahieren das Gelände zu einer dekorativen Karte, während die gewaltigen Figuren der Tiere zu zweidimensionalen Symbolen reduziert aufragen; riesig, wie sie alle sind, spielen die realen Größenverhältnisse ih-


20 rer Vorbilder nun keine Rolle mehr, sei es Schmetterling, Delphin oder Elefant. Wenn sie als Lichtzeichnung so vor der Wirklichkeit der Gartenanlage schweben, scheinen die Figuren die virtuelle Realität der Pokémon vorwegnehmen zu wollen, die die entsprechende App auf dem Smartphone-Display in unsere Umgebung einsetzt. Vielleicht haben wir es hier mit zwei Bewegungen zu tun, die aus gegensätzlichen Richtungen auf das selbe Ziel zusteuern – unsere unmittelbare Wirklichkeit als die Bildwelt wahrnehmen zu können, als die sie uns durch die Medien vermittelt wird. Vielleicht sind Märchenwald und Technologieregion doch der gleiche Ort.

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as lässt sich noch retten. Im kleinen Zoo inmitten des Parc de la Pépinière würden die Lichtgestalten aus dem Karlsruher Stadtgarten reichlich

Das lässt sich noch retten überdimensioniert wirken. Das heißt nicht, dass Nancy nicht mit einem ebenso originären Spektakel die Massen anziehen kann. Seit 50 Jahren findet hier das 24-stündige Rennen von Stan statt; vom Titel her ist es natürlich an die noch älteren 24 Stunden von Le Mans angelehnt. Während die Spannung beider nicht nur aus der Geschwindigkeit entsteht, in denen die hochgerüsteten Kraftfahrzeuge ihre Runden absolvieren, sondern auch daraus, wer nach dem nervenaufreibenden Stunden überhaupt noch im Rennen ist, zeigen sich im Detail doch deutliche Unterschiede: So müssen die Autos bei den 24h de Stan zum Beispiel ohne Motor auskommen. Bei der Ausgestaltung der Karosserien werden den Teams wiederum große Freiheiten gelassen (2016 waren hier unter anderem ein Wikingerschiff, eine ägyptische Pyramide und ein Krokodil


Das lässt sich noch retten unterwegs). Angesichts des Zustands der darunter verborgenen oder eher darin verbauten Fahrzeuge können im Vergleich zu Le Mans auch nicht mehr allzu viele technische Defekte den Anstrengungen der Teams ein vorzeitiges Ende bereiten; dazu müsste ja noch etwas da sein, das kaputt gehen könnte. Das meiste hängt dann wohl an der Ausdauer und Beinmuskulatur der Teams

21 aus Studierenden der regionalen Hochschulen, die schon vor dem Rennen an Plastikbechern voller stärkender oder zumindest schmerzlindernder Getränke und einheitlichen T-Shirts gut erkennbar den Place Stanislas bevölkern. Wären da nicht noch der Festivalcharakter des Ganzen und die kleine Genugtuung, dass dieses aufgemotzeste aller Seifenkistenrennen mitten in einer Stadt statt-


22 findet (nicht länger auf dem Place Stan selbst, sondern auf dem direkt anschließenden Place de la Carriere), würde es sich nahtlos zwischen den anderen kollektiven Exzessen des Studierendendaseins einreihen. Auch hier wird wieder einmal unter den widrigsten Umständen durchgemacht, selbst wenn statt über dem Lehrstoff oder beim Tanzen in irgendjemandes WG-Zimmer hinter einem schrottreifen Auto geschwitzt wird. Im morgendlichen Nieselregen am zweiten Tag von 24h de Stan 2016 bestanden die Teams zwar nur noch aus den Wenigen, die weiter und weiter ihre Wägen um den Platz schoben, aber spätestens bei der Siegesfeier würden sicher auch diejenigen wieder da sein, die kurz nach Mitternacht nur ein „ganz kurzes Nickerchen“ einlegen hatten wollen und seitdem in den Schlaf der Gerechten versunken waren.

Das lässt sich noch retten Dass aus Tonnen von Schrott regelmäßig kathartische Momente entwachsen können, ist den Menschen in Karlsruhe nicht unbekannt. Obwohl die dazugehörigen Termine weder auf bunten Plakaten angekündigt noch mit Livemusik und Bierausschank begleitet werden, gehört das regelmäßige Ausstellen des sogenannten ‚Sperrmülls‘ zu den lokalen Riten des Übergangs. Wenn sich auf Bürgersteigen wiederfindet, was mindestens ein vollständiger, seit Jahren nicht betretener Keller oder Dachboden gewesen sein muss; wenn Menschen sich nachts im Laternenschein oder der trüben Hausbeleuchtung neugierig durch Palisaden aus Altmetall und spitz geborstenen Tischbeinen kämpfen, die noch jedem Vampir mehr Schrecken einflössen würden als der erste Sonnenstrahl am Morgen; wenn am Tag darauf zuerst alles Verwertbare und anschließend alles


Jugendkunstschule Entsorgbare aufgesammelt wurde und sich nun nur noch ein undefinierbarer Rest von irgendwas wie von einer Flut angespült an den Fassaden staut – gerade in dieser Stadt, in der wohl auch die betulichste Kneipe eine zusätzliche Fachkraft anstellen sollte, um nachbarliche Beschwerden wegen gefühlter ‚Ordnungswidrigkeiten‘ bewältigen zu können, nimmt dieser feierlich-scheußliche Moment eine besondere, dunkle Bedeutung an. Für das Bürgertum kann die symbolische Verwüstung der Straßen während dieser Tage eine ähnliche Rolle spielen wie die wilden saisonalen Feiern auf dem Land: Grenzen werden überschritten, Geister vertrieben und mitunter auch ein Opfer gebracht, wenn man zum Beispiel sein Fahrrad unvorsichtigerweise auf der Straße abgestellt hat und es sofort in den professionellen Verwertungskreislauf des Sperrmülls hi-

23 neingezogen wird. Die Verwaltung hat unlängst die zwei jährlichen Termine auf einen reduziert, um dem Chaos etwas Einhalt zu gebieten; wie in anderen, zivilisierten Städten wurde zudem ein individueller Abholservice eingerichtet. Ein vernünftig klingender Plan, doch wenn irgendwann aus dem Dunkel der Kombilösungs-Tunnel die ersten rostigen Rundfunkantennen, ausgedienten Röhrenfernseher und unvollständigen Riesen-Puzzles quellen, soll niemand sagen, wir seien nicht gewarnt worden.

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ugendkunstschule. Zurück zu Gandalf. Mit der École de Nancy um die vorletzte Jahrhundertwende herum hatte sich ein weites Spektrum ästhetischer Botschaften in der Stadt eröffnet. Da ist beispielsweise die Botschaft von Rivendell, Ecke Rue Louis Majorelle und Rue du Vieil Aître, mit ihren Balkonen


24 und dem großen Fenster, deren hölzerne Strukturen wohl an Ort und Stelle in die richtige Form wuchsen und seitdem nur regelmäßig von frischem Geäst befreit werden müssen, wenn die Sterblichen in der Nachbarschaft gerade ihre Aufmerksamkeit auf irgendwelche Trivialitäten richten oder in den sonderbaren todes­ ähnlichen Zustand verfallen, den sie ‚Schlaf‘ nennen. Etwas weiter hinab auf der Rue Sergent Blandan, noch bevor aus ihr das Artem schlüpft, steht nicht zufällig unweit eines der École gewidmeten Museums die Botschaft des Auenlands; das massive Dach, das sich einem Hügel gleich über das kleine Haus wölbt, wird dem Umstand gerecht, dass sich mitten in der Stadt kein schöner Hang finden ließ, um darin eine angemessen institutionelle Höhle einrichten zu können. Gut erkennbar an dem nahtlos ins Gebäude integrierten Förderturm, dessen

Jugendkunstschule


Jugendkunstschule markantes Dach zugleich traditionelle Helmformen aufgreift, steht schließlich am Boulevard Georges Clemenceau die Botschaft der Kinder Durins. Kaum ein europäischer Architekturstil hat sich so sehr als ein alternatives Bauprogramm manifestiert wie der Jugendstil. Man mag von der Ästhetik halten, was man will, aber der fast manische Wille zum Originellen setzt jedes dieser Gebäude voneinander und allem anderen ab; ‚Jugendstil‘ trifft es eben auch dann gut, wenn wir das Ganze etwas pubertär finden. Es ist darin auch ein sehr bewusstes Bauen, mehr als alles, was danach kam: International Style oder Brutalismus kommen eher notwendig daher als bewusst (bewusst notwendig, vielleicht), und in der Postmoderne scheint sich eher das Unterbewusste ausdrücken zu wollen, wenn sich unzählige Ahnungen und Erinnerungen gleich-

25 zeitig den Weg ins Räumliche bahnen (von den schrecklichen Stätten der Totenbeschwörung und Besessenheit wie etwa dem Berliner Stadtschloss wollen wir hier gar nicht reden). Hier und da ging das Verspielt-Schwärmerische des Jugendstils auch mit politischen Projekten einher, alleine schon in der Vision eines Gesamtkunsthandwerks. Einiges davon sollte besser früher als später wieder aktuell werden, aber der Stil selbst ist uns heute wohl gerade durch den distanzlosen Ausdruckswillen fremd. Jugendstilgebäude wirken tatsächlich nie alt, sondern als wären sie immer gerade erst angekommen, als hätten sie sich aus einem anderen Zeit-Raum-Kontinuum hierher verlaufen. Ihrer Botschaft sollten wir dennoch zuhören, selbst wenn sie reichlich verquast und wunderlich formuliert ist.


„Habiter la Ville / Leben in der Stadt“ entstand dank der Unterstützung durch:


Photos & Texte: © Jacob Birken, 2016