isso. #38 September 2018

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am Anfang.

„Alle groSSe politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.“ Ferdinand Lassalle Präsident des 1863 gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) und Gründervater der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD)

E G 1 0 4 # Ein Kommentar von Michael Voregger

Seit eine vom ZDF präsentierte Studie Gelsenkirchen die schlechteste Lebensqualität von ganz Deutschland bescheinigte (siehe isso. #36 Juni 2018), hat unsere Stadt zu den vielen schon bekannten Negativ-Labels noch ein weiteres dazu bekommen: 401 – der letzte Platz von allen untersuchten Städten und Kreisen. Das Ergebnis schockierte, erzeugte Diskussionen und veranlasste den Gelsenkirchener Olivier Kruschinski dazu, in Facebook eine trotzige Gegenkampagne zu starten: Der Hashtag #401GE dreht den Spieß um und spielt mal mehr, mal weniger satirisch mit dem katastrophalen Image der Stadt. Viele Gelsenkirchener*innen beteiligten sich und posteten eigene Beiträge. T-Shirts mit dem neuen Slogan wurden gedruckt und unter das Volk gebracht. Eines zog sich im Juli gar SPD-Politiker Sebastian Watermeier anlässlich eines Termins mit NRW-Heimatministerin Ina Scharrenbach an. Negatives Marketing kann gutes Marketing sein, aber in diesem Fall verkehrt sich die gute Idee in das genaue Gegenteil. Wenn die Genossen der SPD mit #401-Shirts in der Öffentlichkeit posieren, läuft hier was ziemlich falsch. Die schlechten Nachrichten erreichen Gelsenkirchen in immer kürzeren Abständen: höchste Arbeitslosenquote bundesweit, die meisten AfD-Wähler im Westen, ein Drittel der Kinder lebt in Armut, die ärmste Stadt Deutschlands und so weiter.

Da versteht jeder, dass viele Menschen sich das Elend schön reden und dem Boten der schlechten Nachrichten die Schuld geben. Dabei müsste die lokale Politik eine Mitschuld eingestehen, doch das würde die Existenzgrundlage der Funktionäre vor Ort gefährden, im Land und im fernen Berlin – das will niemand auf seine Kappe nehmen. Mit entsprechenden Diäten ausgestattet, lässt sich der Wohnsitz in Gelsenkirchen ertragen. Von den Abgeordneten Markus Töns und Sebastian Watermeier vermisse ich nicht nur interessante Gedanken, die sie zu politischen Themen äußern. Vielleicht ist das zu viel erwartet, aber sie müssen die Probleme vor Ort benennen und Unterstützung von außen organisieren. Das ständige Abrufen von Fördergeldern ist dabei nicht die Lösung, denn so entsteht keine Dynamik, keine Entwicklung und kein Prozess, der sich selber trägt. Die Stadtgesellschaft kippt derzeit, und der „Point of no return“ ist in Sichtweite. Ein Hinweis auf die aktuelle Wahlkreisprognose für das Ruhrgebiet macht die desolate Lage deutlich. Bei den Erststimmen kommt die SPD in den Wahlkreisen Gelsenkirchen, Duisburg II und Essen II nur noch auf knapp über 30 Prozent. Von der Schwäche der SPD profitieren die Rechten von der AfD. In Gelsenkirchen kommt die AfD mit 25 Prozent auf den zweiten Platz, und die CDU landet mit 20 Prozent auf Platz 3. Da helfen keine lustigen T-Shirts und witzigen Sprüche weiter. Es wird Zeit für eine öffentliche und politische Debatte. Die Genossen bieten bisher altbekanntes Schönfärben und politische Kleingeisterei. Ein Blick in die Klassiker kann helfen.

www.fb.com/hashtag/401GE

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