IPPNW Forum 124/2010 – Die Zeitschrift der IPPNW

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eines „sozialen Problems“ erkennt, stellt sie schon damals die heute diskutierte Hypothese auf, ob nicht eine der Hauptabsichten der Nazis die „Endlösung der sozialen Frage“ gewesen sein könnte.

Rom nieder, wo sie das menschlich und politisch tolerante Klima schätzte: „Eine Euthanasie hätte es in Italien nie gegeben“. Sie wurde eine berühmte Gruppenanalytikerin.

Sie beginnt die schwierige Mitleids-Diskussion, die erst heute breiter entfaltet wird und weist darauf hin, dass in Deutschland auf Grund der Bismarckschen Sozialgesetzgebung der Staat eine viel autoritärere Verfügungsgewalt gegenüber kranken Menschen als in anderen Ländern hat – ihnen Schutz gewähren, aber eben auch versagen kann. Auch fällt ihr schon damals der uns manchmal zur Verzweiflung treibende Zusammenhang auf, dass gerade an der Therapie besonders interessierte Psychiater wie Carl Schneider, Werner Heyde und Paul Nitsche die Chef-Organisatoren der Ermordung ihrer Patienten waren.

1990 spürte der für die Aufarbeitung der NS-Psychiatrie berühmte Sozialpsychiater Klaus Dörner die längst tot geglaubte Alice von Platen wieder auf. Zwei Jahre später brachte er ihr legendäres Buch, das nur wenigen Eingeweihten bekannt war, in einem Reprint im Psychiatrieverlag neu heraus. Klaus Dörner hat es die Nürnberger IPPNW zu verdanken, dass wir sie 1996 zur Präsidentin unseres IPPNWKongresses „Medizin und Gewissen. 50 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozess“ machen konnten. Wir waren von der damals 86-jährigen tief beeindruckt: von ihrem wachen, charmanten Geist, von ihrer Vitalität, von ihrem minutiösen Gedächtnis und ihrem politischen Genius. Sie berichtete uns präzise und höchst detailliert vom Ärzteprozess, von der Entstehung ihres Buches und von ihren Gedanken um den Euthanasiekomplex. Seit diesem Nürnberger Kongress erlebte Alice Ricciardi-von Platen mit ihrer Lebens- und Wirkungsgeschichte in ganz Europa eine Renaissance. Ihr Buch erscheint bereits in der 7. Auflage, jetzt im Mabuse-Verlag. Eine italienische und eine spanische Ausgabe liegen vor. Zwischen ihr und unserer Gruppe hatte sich in den letzten zwölf Jahren ihres Lebens eine wunderbare Freundschaft entwickelt.

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ie die neuere Forschung belegt, ist es das bleibende Verdienst von Alice Platen, dass sie die Patientenmorde im Rahmen der Euthanasie als das zentrale Verbrechen der deutschen Medizin ans Tageslicht gebracht hat. Inzwischen hat man erkannt, dass das Euthanasieprogramm weniger ein Naziprogramm und wesentlich mehr ein Programm der Mediziner, der Psychiater und insbesondere der psychiatrischen Ordinarien-Elite war. Die Gesamtzahl der Opfer der verschiedenen Euthanasieaktionen, einschließlich der Opfer in polnischen, sowjetischen und französischen Anstalten, musste in den letzten Jahren stetig nach oben korrigiert werden. Heute geht man davon aus, dass 300 000 Patienten ermordet wurden – eine schier unfassbare Zahl. Überdies weiß man heute, dass mit der NS-Euthanasie eine perfekte Liquidierungsmaschinerie zur Verfügung stand, die ein Katalysator war für den Holocaust in den Vernichtungslagern. Das Schicksal des Buches von Alice Platen war rasch besiegelt. Die 3 000 Exemplare wurden ignoriert, sabotiert und eingestampft. Dennoch blieb dieses Buch über zwei Jahrzehnte hinweg die einzige und unübertroffene Gesamtdarstellung im deutschen Sprachraum. Die Autorin selbst geriet sofort in Vergessenheit. Sie machte in London eine psychoanalytische und gruppenpsychotherapeutische Ausbildung, heiratete den Neapolitaner Augusto Ricciardi und ließ sich 1967 endgültig in

Literatur Alice Platen-Hallermund: Die Tötung Geisteskranker in Deutschland. Reprint der Erstausgabe von 1948. Mabuse Verlag 7.  Auflage 2008

Zum 100. Geburtstag der 2008 im Alter von 97 Jahren verstorbenen Alice Ricciardi-von Platen gedachte die Nürnberger IPPNW-Regionalgruppe am 28. April 2010 in einer feierlichen Soirée ihres verstorbenen Ehrenmitglieds. Im Nürnberger Grand Hotel, Gründungsort der internationalen psychoanalytischen Vereinigung aber auch Unterkunft der Richter und Ankläger der Nürnberger Prozesse, führte Horst Seithe durch das Programm, Helmut Sörgel skizzierte das Leben von Alice Platen und Klaus Dörner berichtete über seine Zusammenarbeit mit ihr, über ihr Buch und über die epochale Bedeutung des Nürnberger Ärzteprozesses. 13

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ine äußerst bedeutsame Besonderheit des Nürnberger Ärzteprozesses betonte Dörner dabei: Die amerikanischen Richter und Ankläger stellten damals entsetzt fest, dass es auf der ganzen Welt kein einziges ärztliches Dokument gibt, das den Ärzten Grenzen aufzeigt. Die Richter erkannten, dass es die Schuld der weltweiten Ärztegemeinschaft war, dass den Allmachtsphantasien der modernen Medizin keine Grenzen gesetzt worden waren. Im Nachhinein formulierten sie stellvertretend Normen, auf deren Basis sie Ärzte anklagten und verurteilten – wohlwissend, dass sie juristisch etwas Verbotenes taten. An der Spitze dieser Normen, dieses „Nürnberger Kodex“, steht die berühmte Formel des „Informed Consent“, der informierten Einwilligung, die frei übersetzt heißt: „Niemand darf medizinisch behandelt werden, sei es diagnostisch, therapeutisch oder in der Forschung, wenn nicht nachgewiesen und schriftlich dokumentiert ist, dass der Betreffende vollständig aufgeklärt worden ist, diese Aufklärung verstanden hat, und dem wissentlich zustimmt“. Damit wurde ein fundamentales, universal geltendes Menschenrecht in der Medizin in alttestamentarischer Radikalität formuliert. An dieser Norm haben sich in der Zwischenzeit viele gerieben. Aber alle müssen sich an dieser von den Richtern vorgegebenen Messlatte messen lassen. Am 21. November 2010 wurde das Museum „Memorium Nürnberger Prozesse“ im Saal 600 des Nürnberger Justizgebäudes eröffnet. Wir sind froh, dass dort der Nürnberger Kodex und die Wirkungsgeschichte von Alice Ricciardi-von Platen einen Platz bekommen und somit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Dr. Helmut Sörgel ist Nervenarzt und Psychotherapeut und in der Regio Nürnberg aktiv.


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