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Humanitäre Folgen des Ukrainekrieges

Ein Überblick – Vortrag im Rahmen der IPPNW Academy

Der Krieg in der Ukraine verursacht sehr großes Leid, Tod und Verwüstung. Mit jedem Tag, den der Krieg länger dauert, kommen mehr Menschen ums Leben, werden körperlich verletzt oder psychisch traumatisiert. Für uns als Mediziner*innen steht das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit im Zentrum unserer Arbeit. Wir sind zutiefst entsetzt über die Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur und die Bombardierungen von Gesundheitseinrichtungen. Im Folgenden geben wir einen Überblick über die humanitären Folgen des Ukrainekrieges (Stand Mai 2023). Wir wenden unseren Blick auf die Opfer des Krieges, die Kriegsverbrechen, die Verletzung von Völkerrecht, auf psychische Traumatisierungen und sexualisierte Gewalt.

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Die Opfer in Zahlen

Es gibt nur begrenzt nachprüfbare Daten zu den Opferzahlen des Krieges. Der US-Generalstabschef Mark Milley schätzte im November 2022 die Anzahl der toten und verletzten Soldaten auf russischer und ukrainischer Seite auf jeweils 100.000. Die UN berichtete am 2. Mai 2023 über 23.375 zivile Opfer in der Ukraine, davon 8.709 Tote und 14.666 Verletzte. Die tatsächlichen Zahlen werden jedoch als wesentlich höher angesehen. Acht Millionen Geflüchtete aus der Ukraine halten sich in anderen europäischen Ländern auf, was etwa 20% der Gesamtbevölkerung entspricht, und 5,4 Millionen Binnenflüchtlinge innerhalb der Ukraine.

Am Internationalen Tag der Minenaufklärung der UN im April 2023 berichtete das ZDF, in den ersten neun Monaten des Krieges seien mindestens 277 Zivilist*innen in der Ukraine durch Landminen ums Leben gekommen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Ukraine bereits vor dem Einmarsch russischer Truppen am 24. Februar 2022 eines der am stärksten verminten Länder der Welt war, sowohl aufgrund des zweiten Weltkriegs als auch durch den seit 2014 geführten innerstaatlichen Krieg in der Ostukraine.

Die Kämpfe im Donbass erinnern an die Schlachten des Ersten Weltkriegs. Sowohl auf ukrainischer als auch auf russischer Seite sind tausende Soldaten getötet oder verletzt worden. Die tatsächlichen Opferzahlen könnten auf beiden Seiten deutlich höher sein als offiziell angegeben. Zudem werden gezielte Falschmeldungen verbreitet, um die Stärke der eigenen Seite zu demonstrieren und die Moral aufrechtzuerhalten.

Kriegsverbrechen

Der Menschenrechtsrat der UNO verabschiedete am 4. März 2022 eine Resolution, um Kriegsereignisse in vier Provinzen der Ukraine zu untersuchen. Die unabhängige internationale Untersuchungskommission verfasste im Oktober 2022 und im März 2023 jeweils einen Bericht. Bereits im ersten der beiden Berichte stellte die Kommission fest, dass seit Ausbruch des Krieges Kriegsverbrechen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht in der Ukraine begangen worden seien, wobei die russischen Truppen für die überwiegende Mehrheit der festgestellten Verstöße verantwortlich seien. In einigen Fällen seien auch Verstöße seitens ukrainischer Streitkräfte festzustellen gewesen. Die Kommission betonte insbesondere den schonungslosen Einsatz von Explosionswaffen in bewohnten Gebieten. Er habe zahlreiche Zivilist*innen getötet oder verletzt und ganze Stadtviertel zerstört.

Human Rights Watch beschreibt in einem Statement vom 12. Januar 2023 das enorme Leid der Zivilbevölkerung durch den russischen Angriffskrieg, der das zivile Leben in weiten Teilen des Landes zum Erliegen gebracht hat. Aus diesem Statement können hier nur ergänzend einige wenige Punkte benannt werden. Die Organisation berichtet über mutmaßliche Kriegsverbrechen auf beiden Seiten. Es gebe etwa 2,8 Millionen Ukrainer*innen in Russland und Belarus, von denen einige gegen ihren Willen festgehalten würden. Schulen seien von russischen und ukrainischen Streitkräften für militärische Zwecke genutzt worden, was dazu geführt habe, dass diese von der jeweils anderen Seite gezielt angegriffen wurden. Der völkerrechtswidrige Einsatz von Streumunition und Antipersonenminen wurde ebenfalls dokumentiert.

Eine Studie des „Conflict Observatory“, einer Organisation, die 2022 vom US-Außenministerium gegründet wurde, kommt zu dem Ergebnis, dass mindestens 6.000 ukrainische Kinder systematisch in Umerziehungs- und Adoptionseinrichtungen auf der besetzten Krim und dem russischen Festland gebracht worden seien. Die Yale School of Public Health hat 43 Einrichtungen identifiziert, in denen ukrainische Kinder festgehalten werden sollen.

Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

Eine Metastudie, die Erhebungen in Gesellschaften, die von Krieg betroffen waren, über den Zeitraum von 1989 bis 2019 auswertete, fand eine durchschnittliche Prävalenz von ca. 26 %. Das entspricht den vorläufigen Ergebnissen der Universität Charkiw/ Charkow. 26 % der Erwachsenen zeigten PTBS-Symptome, und dazu traten Depression, Einsamkeit, Substanzmissbrauch auf.

Die Wahrscheinlichkeit der PTBS wird durch den Einsatz als Soldat*in im Krieg erhöht. Das US Department of Veterans Affairs gibt an, dass die Lebenszeitprävalenz von Veteranen um ein Sechstel höher sei als in der Allgemeinbevölkerung (7 % vs. 6 % der Bevölkerung) bzw. um ein Drittel bis zum 2,5fachen bei Irakund Afghanistan-Veteranen (11-20 %).

Die Soldat*innen im Ukrainekrieg dürften ebenfalls ein sehr hohes Risiko für eine PTBS haben. Wenn 5 % der 1,3 Millionen Soldat*innen in diesem Krieg eine PTBS entwickeln würden, wären das 65.000 zusätzliche Fälle, eine große Herausforderung für die Gesundheitssysteme und die Gesellschaften beider Länder.

Suizide

Laut WHO waren 2019 in der Ukraine und in Russland die Suizidraten hoch: Sie lagen bei etwa 21 bzw. 25/100.000. In der Allgemeinbevölkerung der USA lag die Rate im selben Zeitraum bei etwa 16/100.000. US-Veteran*innen hatten dagegen eine Suizidrate von über 30/100.000 (bei Soldat*innen im aktiven Dienst lag sie bei ca. 26/100.000). Die ehemaligen Soldat*innen hatten damit eine etwa doppelt so hohe Suizidrate wie die Allgemeinbevölkerung. Es muss also eine weitere deutliche Steigerung der Suizidzahlen in der Ukraine und in Russland erwartet werden.

Sexualisierte Kriegsgewalt

Höchstwahrscheinlich bilden die berichteten und bestätigten sexuellen Übergriffe die Realität nur unzureichend ab. Eine schwierige Gratwanderung zwischen Skandalisierung einerseits und Relativierung andererseits ist notwendig.

Der oben erwähnte Bericht des Hohen Kommissars der UN für Menschenrechte vom März 2023 dokumentierte von Februar 2022 bis zum 31. Januar 2023 133 Fälle von Conflict-related sexual violence, über 80 % durch russische Kräfte, davon drei Fälle von Vergewaltigungen von Frauen. Die Gewalt ereignete sich während Inhaftierungen, „Filtrationsprozessen“ und in Wohngebieten. Die übrigen Fälle wurden im von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiet dokumentiert. In über 60 % der Fälle betraf die sexuelle Gewalt Männer, vor allem Kriegsgefangene.

Auch Pramila Patten, die UN-Sonderbeauftragte für sexuelle Gewalt bei Konflikten, hat sich 2022 mehrfach geäußert – unter anderem vor dem UN-Sicherheitsrat. Sie berichtete von 124 Anzeigen wegen sexueller Gewalt, die sich vor allem gegen Mädchen und Frauen gerichtet hätte, 49 der Anschuldigungen beträfen Kinder. Sie erwähnte Gruppenvergewaltigung, Schwangerschaft nach Vergewaltigung, Nötigung zum Zuschauen bei einer sexuellen Gewalttat gegen ein Kind. Sie sprach von einer „license to rape”, Sexsklavinnen, von der Vergewaltigung von Kleinkindern und von Frauen über 80, vom Einsatz von Viagra, von einer eindeutigen Militärstrategie. Es zeigen sich also deutliche Unterschiede zum zitierten UN-Bericht.

Für zusätzliche Verwirrung sorgte der Fall der der ukrainischen Menschenrechtsbeauftragten Ljudmyla Denissova. Sie wurde am 31. Mai 2022 aus ihrem Amt entlassen, u.a. weil sie sich bei ihrer Arbeit zu sehr auf die anschauliche Schilderung von Fällen se - xueller Gewalt konzentriert habe, für die sie keine Beweise vorgelegt habe, wie ein ukrainischer Abgeordneter schrieb. Sie selbst erklärte in einem Interview, sie habe vielleicht übertrieben. Sie habe versucht, die Welt davon zu überzeugen, Waffen zu liefern und Druck auf Russland auszuüben.

Auch wenn es also ganz offensichtlich sehr schwierig ist, die sexualisierte Gewalt im Ukrainekrieg realistisch zu erfassen, muss davon ausgegangen werden, dass sie in großem Maß stattfindet und die Dunkelziffer hoch ist. Die Gewalt basiert auf vorbestehenden (patriarchalen) Strukturen, kann geduldet oder sogar bewusst eingesetzt und die Berichterstattung instrumentalisiert werden. Es steigt laut UN zudem die Gefahr des Menschenhandels. In einem gemeinsamen Statement von OSZE und der UNSonderbeauftragten Patten vom 30. März 2023 wurde auf die steigende Gefahr von Menschenhandel hingewiesen.

All diese humanitären Folgen drängen uns, weiter für für ein baldiges Ende des Krieges einzutreten.

Vortragsvideo der IPPNW Academy: youtu.be/yMxkhZkz2Xw