IPPNW forum 134/2013 – Die Zeitschrift der IPPNW

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zehntausend Krebserkrankungsfällen aufgrund der Atomkatastrophe von Fukushima gerechnet werden muss. Das Spektrum liegt zwischen 20.000 und 120.000 Krebsfällen.

Aufgrund der Radioaktiven belastung von Lebensmitteln sind in Japan rund 20.000 40.000 zusätzliche Krebsfälle zu erwarten

Parlamentsbericht bestätigt IPPNW-Analyse Eine realitätsnahe Aufklärung über die Atomkatastrophe ist generell nicht ganz einfach. Vor einem Jahr veröffentlichte die IPPNW eine ausführliche Unfallanalyse, in der gezeigt wurde, dass der Tsunami nicht der alles überragende Faktor bei der Auslösung des Atomunfalls war. Insbesondere in Block 1 von Fukushima kam es vermutlich aufgrund des Erdbebens zu einem Leck und somit zu einem Kühlmittelverluststörfall. Einige Monate danach bestätigte der offizielle Bericht einer Untersuchungskommission des japanischen Parlaments unsere Sichtweise. Der Parlamentsbericht basiert unter anderem auf Befragungen von Beschäftigten des Atomkraftwerks. Er betont die Wahrscheinlichkeit eines erdbebenbedingten Kühlmittelverlusts in Block 1 sowie andere von der IPPNW diskutierte Probleme, wie etwa die nicht hinlänglich diversitäre, also technisch verschiedenartige Auslegung der Sicherheitssysteme des Atomkraftwerks. Übereinstimmend wird auch die Bedeutung der schweren Nachbeben hervorgehoben.

Kein Interesse an Aufklärung Trotz dieses Parlamentsberichts halten die offiziellen Stellen wie auch die Massenmedien an der Version der Atomindustrie fest, erst der Tsunami hätte den Unfall ausgelöst. In Deutschland weigern sich das Umweltministerium, das Bundesamt für Strahlenschutz, die halbstaatliche Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) und sogar die Parteien, ihre Darstellungen über den Atomunfall zumindest

zu modifizieren und dem aktuellen Stand der Erkenntnisse anzupassen. Ebenso gibt es bei ARD und ZDF keinen Bericht über Fukushima, der nicht mit Bildern von den Wassermassen des Tsunami die Interessen der Atomkonzerne bedienen würde.

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abei wäre es eigentlich die Aufgabe der staatlichen Stellen, diversen Ungereimtheiten genauer nachzugehen. So tauchte beispielsweise im zweiten Bericht der japanischen Regierung an die Internationale Atomenergieorganisation vom September 2011 der Hinweis auf, dass Pumpen und Hilfsanlagen durch einen umgestürzten Kran beschädigt wurden. Warum geht man diesen Dingen im Rahmen des internationalen Informationsaustauschs nicht nach und klärt auf, ob dieser mutmaßlich durch das Erdbeben umgestürzte Kran möglicherweise Nebenkühlwasserpumpen zerstört hat – und eben nicht der Tsunami? In vergleichbarer Weise wird auch die wohl gut begründete These des US-amerikanischen Nuklearingenieurs Arnie Gundersen, wonach es sich bei der Explosion in Block 3 höchstwahrscheinlich nicht um eine Wasserstoff- oder Dampf-, sondern um eine Nuklearexplosion handelte, von offiziellen Stellen beharrlich ignoriert.

Untätige deutsche Energieminister Der Umgang mit solchen Fragen betrifft sehr unmittelbar auch Fragen des Unfallrisikos der in Deutschland noch betriebenen Atomkraftwerke. In Japan hat man gese9

hen, dass die sogenannten Notfallmaßnahmen nicht erfolgreich durchgeführt werden konnten. Und dennoch kümmern sich die Umweltminister in Deutschland nicht darum, dass bei den noch laufenden „neueren“ Druckwasserreaktoren die nachgerüsteten Notfallmaßnahmen bei Leck-Unfällen erwartungsgemäß nicht funktionieren werden.

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ir haben alle deutschen Atombehörden ausdrücklich auf diese Feststellung der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) hingewiesen. Den baden-württembergischen Umweltminister Franz Untersteller haben wir darüber hinaus auch im persönlichen Gespräch gedrängt, sich um dieses Problem zu kümmern. Inzwischen haben wir in Deutschland drei grüne Energieminister, aber auch diese verlangen ebenso wenig wie die für die Atomaufsichten zuständigen Minister anderer Parteien, dass die schwere Sicherheitslücke geschlossen, bzw. die Druckwasserreaktoren umgehend wegen erheblicher Gefährdung der Bevölkerung stillgelegt werden.

Henrik Paulitz ist Referent der IPPNW für Atomenergie und Energie­ wende.


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