Redaktion_1716_Redaktionsseiten 22.08.2016 14:06 Seite 37
BELÄSTIGUNGEN
von Michael Sailer
IMPRESSUM
Alle elf Minuten integriert sich ein Migrant! (und keiner kriegt es mit) In München steht ein Haufen Zeug herum, über das man viel zu selten nachdenkt. Z. B. erfuhr ich heute von einer beleuchteten Werbetafel: „Alle elf Minuten verliebt sich ein Single über (aufgrund von Gründen nicht genannter Name einer Internet-Datingseite)!“ Das erschien mir recht natürlich. Zu gewissen Zeiten gelingt es auch mir, mich alle elf Minuten zu verlieben. Aber das bringt halt nicht wirklich was, abgesehen von befremdeten Blicken der Opfer solch hormoneller Überschießerei. Aber apropos Opfer: In München steht auch ein Denkmal für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, auf dem zu lesen ist, einige davon habe man „verfolgt wegen ihrer Behinderung“. Ein leider verstorbener Freund, der zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen war und sich deshalb als „Krüppel“ bezeichnete, kam fast täglich auf dem Weg zum Biergarten an dem Denkmal vorbei und fühlte sich betroffen: „Was für ein Schmarrn!“ pflegte er nach der dritten Maß zu schimpfen. „Seit wann hätten die Nazis Krüppel verfolgt? Die haben sie systematisch vernichtet!“ Was, wenn man mal drüber nachdenkt, tatsächlich ein Unterschied ist. Man könnte streiten, ob die damalige Belegschaft der Deutschland AG nicht auch die Millionen Menschen, die aus rassistischen Motiven „verfolgt“ wurden, eher systematisch vernichtet als verfolgt hat, aber hier ist die Sache ziemlich eindeutig: Man mußte Krüppel nicht verfolgen – man wußte, wo sie wohnen und konnte sie einfach abholen. „Verfolgt“ werden Krüppel heute nicht mehr, statt dessen bemühte man sich jahrzehntelang, sie zu „integrieren“. Sie und andere Menschen: Flüchtlinge, Ausländer, vom Unglück in dieser oder jener Weise Getroffene, Frauen, Kinder, Straftäter, sexuell oder sonstwie eigentümlich Fühlende, Denkende, Lebende, Drogenkonsumenten, Arbeitslose, Ostdeutsche,
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Obdachlose, jugendliche Rabauken, Landbewohner, Stadtstreicher – allesamt sollten sie „integriert“ werden. Mittlerweile hat sich die Sprachregelung der neoliberalen „Eigeninitiative!“-Ideologie angepaßt, derzufolge „man“ niemanden „integrieren“ soll, sondern gefälligst der sich selbst. Drum soll jetzt das ganze bunte Volk, das seine eigentümlichen Ausrichtungen pflegt, sich einzeln „integrieren“ (insbesondere der Migrant, schließlich kommt der auch noch von woanders her!). Und niemand denkt darüber nach, in was die sich eigentlich hineinintegrieren sollen. In die „Gesellschaft“, klar. Aber was wäre das für eine Gesellschaft, der all diese Menschen angeblich nicht angehören? Man stellt sich unwillkürlich eine Runde von Männern in mittlerem Alter vor, allesamt tarifgebunden berufstätig, von guter Gesundheit und durchschnittlichem Körperbau, wie sie im Hinterzimmer eines Vorstadtwirtshauses beisammen hocken und austüfteln, wen sie als nächstes zur „Integration“ auffordern und was der- oder diejenige dafür leisten muß. Z. B. könnte man verlangen, daß so einer sich zum Grundgesetz „bekennt“, gegen das die CSU im Parlamentarischen Rat stimmte, das der bayerische Landtag auf Vorschlag der Staatsregierung ablehnte, das allein seit 1993 etwa 30mal geändert wurde und das kaum ein Staatsbürger je gelesen hat (wie wär’s z. B. mit der Frage, wer eigentlich „die Regierung“ ist und wer sie wählt?). Man könnte fordern, daß sich der Integrationswillige „in Deutschland zuhause“ fühlt. Dieses Kriterium betont die Organisation „Wissenschaft im Dialog“, ohne zu fragen, wie „zuhause“ man sich wohl als Angehöriger irgendeiner Minder- oder Mehrheit oder überhaupt als normaler Mensch z. B. in einer ostdeutschen Nazigemeinde oder meinetwegen in Wuppertal fühlen kann.
Oder die deutsche Sprache. Die solle man gefälligst beherrschen, heißt es. So wie der Deutsche, der hat die schließlich gelernt, gelt, auch wenn er als Wissenschaftler nicht weiß, daß es das Wort „zuhause“ im Deutschen gar nicht gibt, auch wenn er als (z. B.) oberbayerischer Integrierter in einer Kölner Bierwirtschaft ziemlich sprachlos inmitten einer johlenden Masse offenbar anderweitig Integrierter herumsteht. Ach ja, es gibt noch andere Kriterien: etwa arbeiten, d. h. zu einem Hungerlohn sich ausbeuten lassen, was der integrierte Deutsche total gerne täte, wenn er es mangels „Platz“ nicht darf, während bei jenen, die es dürfen, das Jammern und Schimpfen naturgemäß überwiegt. Und: Man darf kein Kopftuch tragen, finden 38 Prozent der Integrierten. Adieu, süddeutsche Bäuerinnen! Man könnte einwenden, es sei doch vor gar nicht langer Zeit einem deutschen Kaiser und seinen Beamten gelungen, diese groteske Mischpoke von schillernden, einander im Grundsatz fremden bis feindlichen Minderheiten, Stämmen und Individualidioterien zu einem Gesamtdeutschland zusammenzuintegrieren, das imstande war, zwei richtig fette Kriege anzuzetteln und halb Europa auszurotten. Ja, freilich, aber selbst zu dieser enormen Kulturleistung wäre es nie gekommen, wenn man es der wimmelnden Masse von verbohrten Einzelholzköpfen überlassen hätte, sich selbst in etwas hineinzuintegrieren, was es angeblich vorher schon gab. Vielleicht wäre es am gescheitesten, beleuchtete Werbetafeln aufzustellen mit der Aufschrift: „Alle elf Minuten integriert sich jemand in die deutsche Normalgesellschaft!“ Und dem Zusatz: „Aber das bringt halt nicht wirklich was.“ (Und als Nachgedanke sei mangels Platz einfach mal so gefragt, wieso eigentlich niemand von den Nazis verlangt, sich zu integrieren.)
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