IN MÜNCHEN - Ausgabe 7/2021

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Redaktion_0721 24.06.2021 15:22 Seite 38

Belästigungen von Michael Sailer

Wo ist die Welt, wenn man sie braucht? — Was sich in dem wenigen alten Grün, das der hyperreale Hygienemensch (HHM) am Münchner Rand noch nicht der Verbetonwüstung zugeführt hat, so tut, ist ein Skandal. Rotkehlchen flattern in gewagter Akrobatik von einem Baum zum nächsten, zwitschern frei erfundene Liedchen (ohne Urheberrecht), Spinnen flitzen zwischen Grashalmen herum, Mücken vollführen Massenraves, Schnecken flutschen auf Bäume hinauf, wissen nicht, was sie da sollen, und bleiben kleben, bis ihnen was neues einfällt (z. B. wieder hinunterflutschen). Nußbäume sprießen wahllos aus dem Moos, weil das demente Eichkatzerl vergessen hat, wo seine Depots sind; der Mohn pfeift auf das Betäubungsmittelgesetz; Hummeln brummeln orientierungslos herum, weil sie beim Brummeln so viel Staub aufwirbeln, daß selbst ein Facettenauge nichts mehr sieht. Die Amsel schimpft jeden, der sich näher als 50 Meter an ihr Nest heranwagt, das aber so perfekt placiert ist, daß jeder dreimal am Tag dran vorbeimuß. Die Krähe findet alles scheiße und plärrt „Bah! Bah! Bah!“; die Wanzen fallen auf irgendwas drauf, was sie dann anstänkern, der Frosch sitzt auf einem Blatt und wundert sich, wieso er plötzlich untergeht, wenn der Molch das Blatt unterm Hintern wegzieht. Die Tauben fliehen vor den Täube-

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richen, die nur ein einziges Lied können („Song 2“ von Blur: „Hu-hu!“), der Aprikosenbaum streckt sich so gierig der Sonne entgegen, daß er spätestens 2024 umkippen wird, der Hopfen strebt so eifrig nach oben, daß er zu spät merkt, daß er sich die eigenen Wurzeln ausreißt. Die Schwebfliegen schweben einfach so herum, der Wein ringt mit dem Blauregen, der Eichelhäher verdirbt sich mit unreifen Kirschen den Magen und fragt sich drei Tage später, wo die reifen Kirschen bleiben. Der Specht zerspreißelt den Ast, in dem er nächstes Jahr ein Nest bauen wollen wird („Huch? Wo ist der hin!“), die Wespen bauen derweil ein Nest im Klohäusl und bemerken den Denkfehler erst morgen, wenn die Klotür zu ist, irgendwo bellen Hunde, gackern Hühner, quaken Enten, kreischen Gänse, starten Bleßhühner Zwickangriffe auf friedliche Karpfen und weniger friedliche Karpfen Zwickangriffe auf Luftmatratzen. Ein Uhu argumentiert „Uhu!“, ein Kuckuck „Kuckuck!“, die Krähen antworten „Bah! Bah! Bah!“, die Blindschleichen schweigen beschämt, die Glühwürmchen bestrahlen das intime Familienleben der Mäuse, alle möglichen Bäume schleudern Wolken von Blütenstaub herum, der Knoblauch ergeht sich in wilden Verrenkungen, der Fenchel bildet das Lagerfeuer in grün nach, und am Ende kommen noch

Fuchs und Igel vorbei und sammeln die Knochen ein, die die Krähen in der Gegend herumgeschmissen haben. In der Morgendämmerung schweben Bussard und Habicht über den Folgen der Krawalle und lassen sich von den Schwalben auslachen, weil sie so komisch aussehen. Das alles ist ein Skandal, in höchstem Maße unproduktiv, ineffizient und idiotisch. Es ergibt keinen Profit, es rettet nicht das Klima, schafft keinen bezahlbaren Wohnraum. Und der HHM bemerkt davon nichts. Wenn der das „Areal“ auf seinem Bildschirm betrachtet, sieht er nur ein grünes Rechteck. Das speichert er als „Plan“, klotzt es mit kleineren grauen Rechtecken voll, bis nur noch ein bisserl Grün übrig ist, und stellt fest: Ist ja noch Grün da! Klima ahoi! Allerdings hat das übrige „Grün“ mit dem alten Grün nicht das geringste zu tun. Da lebt nichts außer Ameisen und dörrigem Baumarktgestrüpp. Das bald unter Pizzaschachteln, Kaffeebechern, Chipstüten, FFP2-Masken, Plastiktüten und Getränkebüchsen begraben ist. Dann pflastert man es zu und stellt ein Spielgerät hin, um das ein paar Maskenkinder herumstehen, denen die Lehrerin eingeschärft hat, daß man so was nicht berühren darf, weil sonst die Oma stirbt. Warum das so geht, läßt sich leicht erklären – in dem alten Grün ist alles verbunden und lebt ineinander: der Frosch im Wasser, das Wasser in der Fliege, die Fliege im Vogel, der Vogel im Baum, der Baum im Boden, der Boden im Regenwurm, der Regenwurm in der Amsel usw. Was da nicht lebt, ist der HHM (eigentlich kein Mensch, sondern nur Insasse einer seriellen Existenz). Der lebt auch in was: Facebook, Google, Youtube, T-Online, Whatsapp, Telegram, Mediathek, Signal, Amazon, Netflix, Sky, ZDF, Twitter, Instagram. Nachteil dieser Welten: Es gibt sie nicht. Sie sind nur Simulationen, erzeugt von „Serverfarmen“, die irgendwo herumstehen und so viel Strom verbrauchen, daß sie demnächst zusammenbrechen. Das hat wieder einen Nachteil: daß es das alte Grün, die sinnlose Welt, die so unfaßbar wahnsinnig schön ist, dann nicht mehr geben wird. Und dann steht der Mensch ziemlich allein da in seiner Betonwüste.

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