Redaktion_0621 24.05.2021 20:45 Seite 23
Literatur Lesungen
Rascheln in der Wundertüte Von diesen Reisebegleitern kann man sich in Wörter-Wunschwelten entführen lassen
S
o ganz klappt es ja noch nicht mit dem Aufbruch zurück in ferne Länder, an einsame Küsten und unter völlig neue Menschen. Doch das Fernweh lodert natürlich weiter. Und die Bereitschaft, sich bis zum nächsten großen Trip zumindest spannende Geschichten erzählen zu lassen, ist groß. Der bayerisch-schwäbische Schriftsteller mit dem schönen Namen Tiny Stricker hat die Welt gesehen. Schon nach seinem Abitur Ende der Sechziger Jahre überführte er einen Mercedes in den Iran. Der Hippie-Trail zog ihn weiter, später arbeitete er lang im Hafen von Chittagong in Bangladesh. Heraus kamen dabei bewusstseinserweiternde Trip-Romane, zurück in München ging er mit der Psychedelic-Rock-Band Siloah weiter über Grenzen hinaus. Keine schlechten Voraussetzungen also, um sich von Reiseführer Tiny an die Hand nehmen zu lassen. Aktuell stellt er seine gerade erst erschienene München-Roadnovel „U-Bahn-Reiter“ sowie das noch unfertige Manuskript „Hotel Amir Kabir oder Die Wege der Hippies“ vor. Sollte man nicht verpassen. (Münchner Literaturbüro, Milchstr. 4, 18.6.)
Ebenfalls von einem mutigen Aufbrechen, wenn auch von einem letztlich deutlich ernüchternden Kulturen-Zusammenprall, erzählt Leïla Slimani, die mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichnete junge Autorin, die aktuell als eine der wichtigsten Stimmen der französischen Literaturszene gilt. „Das Land der Anderen“ ist ein Roman über eine junge Elsässerin, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in einen marokkanischen Offizier verliebt, ihn heiratet und ihm in seine nordafrikanische Heimat folgt. Doch vor Ort verkümmert sie in einer von Rassismus und patriarchalischen Strukturen geprägten Kolonialgesellschaft zunehmend. Slimani wirft die Frage auf: Hat sich wirklich Grundlegendes geändert? (Literaturhaus, 1.6., je nach Inzidenz vor Ort sowie im Stream) Wie ungemütlich sitzt es sich zwischen den Stühlen? Wie behauptet man sich zwischen Stolz und Scham, zwischen Eigensinn und Anpassung, zwischen dem Gefühl, noch immer fremd zu sein, und dem Wunsch, endlich anzukommen? Das sind Themen, um die natürlich auch die Romane von Lena Gorelik, die schon lange in München
HÖRBUCH
Superman has left the planet — 1975. Monty Pythons Ritter der Kokosnuss. Der MetalSword-Battle König Artus vs. Schwarzer Ritter. Eine der coolsten Filmszenen ever und zugleich ein visionärer Seitenhieb auf die Klimawandel-Diskussion. Der Schwarze Ritter verliert nacheinander alle vier Gliedmaßen, ignoriert aber bis zuletzt seine Niederlage. Siegesgewiss kommentiert er die einzelnen Abgänge: „nur ein Kratzer“ (linker Arm), „nur eine Fleischwunde“ (rechter Arm), „bin unbesiegbar“ (rechtes Bein). Als Artus schließlich sein zweites Bein amputiert, tönt es aus dem nun etwas tiefer gelegten Helm: „Einigen wir uns auf Unentschieden.“ Frage: Welche Erkenntnisse muss man den Politikern eigentlich noch unters Kopfbrett schieben, damit sie endlich vom Erderwärmungsgaspedal gehen? Für alle, die den Klimawandel aus ihrer Synapsenkantine gemobbt haben, weil dort plötzlich nur noch Platz war für das C-Word oder weil sie dank der aus Politikerärschen entwichenen Berserker-Maßnahmen mit Überleben beschäftigt waren, auf Planet B, Doctor Who oder Superman warten, landet Game-over-Gourmet Frank Schätzing quasi ein Makingof dieses Thrillers, dessen Leinwand unser Planet ist. 36
lebt, ursprünglich aber in Sankt Petersburg zur Welt kam, kreisen. „Wer wir sind“ ist der neue, erneut stark autobiografisch gefärbte Roman, den sie nun vorstellt. ( Jüdisches Museum, 24.6.) Mit „Identitti“, dem Roman-Debüt von Mithu Sanyal hat die Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und „taz“-Kolumnistin eines dieser Bücher vorgelegt, das zu den meistdiskutierten im Frühjahr zählt. Es geht in dem durchaus auf Krawall getrimmten Aufregerstoff um
Hadert mit Fremdbestimmung: LEÏLA SLIMANI eine Professorin für „Postcolonial Studies“ an der Uni Düsseldorf, die ihre Biografie an einer zentralen Stelle frisiert hat. Sie präsentiert sich der Welt als „Person of Color“. Wie enthüllt wird, heißt die vermeintliche Professorin Saraswati aber Sarah Vera Thielmann – und ist weiß, Deutsche und Kartoffel. Was soll man davon halten? Es ist eine Zeit, in der vieles „fluide“ sein darf. Aber auch die Herkunft? Sanyal freut sich auf lebhafte Debatten, moderiert werden die vor Ort von der SZ-Journalistin Marie Schmidt. (Literaturhaus,
Frankieboys Faible für großzügig angelegte Materialsammelstellen, die seinen KI-Roman Die Tyrannei des Schmetterlings etwas nilpferdig daherstampfen ließen, packen diesem Hörbuch quasi den Tiger in den Wasserstofftank. Und da Schätzchen selbst kein Erdwissenschaftler ist, setzt er wenig voraus, buddelt dafür umso tiefer. Klar, der Mann schreibt Thriller, also sind da auch die Body-Count-Szenarien, die Homo fucking lemming erwarten, wenn die globale Durchschnittstemperatur um 2, 3 oder 5 Celsen steigt, da sind die perfiden Voldemoritaten der Bad Guys (it’s the fucking oil, stupid), die Gefahren durch Bumerang- und Backfire-Effekte. Aber noch wichtiger: Wie schön es für alle sein könnte, wenn wir uns entscheiden, anders zu leben, anstelle nur das persönliche Gewissen zu balsamieren. Mister Autor liest sein Buch selbst, bringt kölsche Note rein, authentisiert quasi sein mit Flapsigkeiten getuntes Kumpel-Ambiente. Das ist hier nicht das letzte Wort zum Klimawandel. Aber ein nahrhafter Beitrag zum selbstständigen Denken und Handeln. Und das ist schon mal deutlich wertvoller als JO N N Y RIE D E R ein kleines Sojasteak. Frank Schätzing: Was, wenn wenn wir einfach die Welt retten? Handeln in der Klimakrise. Gesprochen vom Autor und Annette Frier. Der Hörverlag 2021, 1 mp3-CD, ca. 9 Std., www.hoerverlag.de
10.6., je nach Inzidenz auch im Saal sowie im Stream) Durch die Stadt, die hinter vielen Türen noch recht verschlossen wirkt und in der sich Kulturfreunde durchaus mit mehr Mut wieder aus der Sofa-Komfortzone bewegen sollten, tobt dieser Tage vor allem mit sehenswerten Ausstellungen das Comicfestival. Ein Höhepunkt im Begleitprogramm ist das Gespräch von Michael Kompa, der die Comic-Schau im Amerikahaus kuratiert, mit dem US-Allrounder Denis Kitchen über Stan Lee, der die legendären Superhelden-Storys maßgeblich mitgeprägt hat. „60 Jahre Marvel Comics“ ist ein Online-Talk, den sich kein (noch) glühender Fan entgehen lassen darf. (Details zum Stream über www.juedisches-museum-muenchen.de, 6.6.) Nicht zum Anfassen, aber endlich wieder „sehr real“ zeigt sich Axel Hacke seiner treuen Fangemeinde. Der beliebte „SZ Magazin“-Kolumnist und Schnurren-Sammler liest aus seinem neuen Buch „Im Bann des Eichelhechts und andere Geschichten aus dem Sprachland“. Die Wundertüte öffnet sich! (Deutsches Museum Innenhof, 24.6.) Ebenfalls wieder zum Vor-Ort-Bestaunen: Jaromir Konecny, Münchens eisernster Winterschwimmer und frisch gebackener Künstliche-Intelligenz-Forscher, eröffnet die Poetry & Parade-Bühne wieder. Frank Klötgen sowie viele Überraschungsgäste dürfen da nicht fehlen. (Seidlvilla, 7.6.) Überhaupt: Wie wichtig werden wieder die Begegnungen werden! Unter das schöne Zitat „... es gibt Hoffnung für uns alle“, entnommen aus der neuen Graphic Novel von Nicolas Mahler und Jaroslav Rudiš, stellt das Literaturhaus von 16. bis 24. Juni erstmalig eine ziemlich hoffnungsfrohe „Sommer Edition“ – mit bestenfalls vielen Open-Air-Veranstaltungen auf der Terrasse vor dem OskarMaria – auf die Beine. Alle Veranstaltungen werden zudem live gestreamt. Den Eröffnungsabend bestreitet Nora Gomringer, Künstlerin, Lyrikerin und Kuratorin des Literaturfests 2020, das bekanntlich leider entfallen musste (16. Juni). Krönender Abschluss wird ein Literatur-Special mit Literatur aus Québec, als Vorblick auf den Gastlandauftritt Kanada im Herbst – und zum 50. Jahrestag der Vertretung Québecs in Deutschland (Literaturhaus, 24. Juni). Zum Abschluss ein schön rundes Thema, das den Pulsschlag hochpeitscht: „Wir im Finale“ heißt die szenische Lesung von und mit Martin Pfisterer, die das leider allgegenwärtige Kommentatorengesülze, die Schlachten-Metaphorik und die unerträgliche Biertischbesserwisserei aufs Korn nimmt. Marc Becker hat eine grandiose Satire über geheime Männerwünsche, Trainerstandpauken und FankurvenGegröle verfasst. Und angesichts von Länderspielen in meist fast leeren Stadien vermisst man den Lärm ja doch schon wieder. (Pasinger Fabrik, 8./17.6.)
rupert sommer