INDIEKINO BERLIN Magazin #17, August 2015

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DER SOMMER MIT MAMÃ Klassen-Apartheit und Architektur

Prolog: Ein kleiner Junge mit Schwimmweste spielt am Pool, eine Frau leistet ihm Gesellschaft, steigt aber nicht mit ins Wasser. Während Fabinho planscht, ruft sie jemanden an. In wenigen Sätzen wird klar, dass sie ein Kind hat, das offensichtlich nicht bei ihr lebt und das sie nur selten zu Gesicht bekommt. Zugleich fragt der Kleine, wann denn seine Mutter heimkäme. Die Frau hat darauf keine Antwort. Die herzliche Umarmung, mit der sie ihn tröstet, ist in ihrer Heftigkeit zugleich ein Versuch, das eigene Vermissen zu überbrücken. Val ist als Haus- und Kindermädchen bei einer wohlhabenden Familie in São Paulo nicht nur angestellt, sie wohnt auch gleich mit im Haus, wie es viele Dienstbotinnen in Brasilien tun. Das hat den Effekt, dass sie für Fabinho zu einer zweiten Mutter wird (der englische Titel des Films lautet folgerichtig THE SECOND MOTHER), während sie sich von ihrer eigenen Tochter Jessica durch die jahrelange Trennung fast völlig entfremdet. Genau diese Tochter, inzwischen eine junge Frau, meldet sich plötzlich zum Besuch an, weil sie an der Universität eine Aufnahmeprüfung hat. So kommt es 12, 13 Jahre nach dem eingangs skizzenhaft geschilderten „Sommer ohne Mama“ nun zum „Sommer mit Mamã“. Jessicas selbstbewusste und unbefangene Art wirbelt schnell die eingefahrenen Rollenmuster im Haushalt durcheinander, da sie sich nicht wie eine Untergebene, sondern wie ein Gast oder ein weiteres Kind der Familie benimmt. Das kann Dona Bárbara, die Hausherrin, nicht gut ertragen, auch wenn sie versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Ähnlich gestresst von diesem Verhalten ist allerdings auch Val, die konservativ den Status Quo gegen ihr gerade erst wiedergewonnenes Kind verteidigt. Dabei läuft Regina Casé (EU TU ELES/ICH DU SIE – Darlenes Männer, Un certain regard Cannes 2000) als Dienstmädchen Val zu darstellerischen D 12

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Höchstformen auf. Bis in die Fingerspitzen beherrscht sie ihre Ausdrucksmittel so souverän, dass Nuancen ihrer Stimmung an kleinsten Gesten ablesbar werden. Es bereitet großes Vergnügen, ihr dabei zuzusehen, wie sie energetisch arbeitet, wie sie Regelverletzungen schimpfend wie ein Rohrspatz bewertet, wie sie bedingungslos zu ihrem Ziehsohn hält, mal ihre Dienstherren ausspioniert und ihr Fräulein Tochter nachäfft, bald jedoch von einer Ohnmacht in die nächste fällt. DER SOMMER MIT MAMÃ erzählt behutsam, aber deutlich, wie sich in Brasilien immer noch alte koloniale Muster quer durch die Gesellschaft ziehen. Regisseurin Anna Muylaert arbeitet bei der Durchleuchtung der Verhältnisse mit sanften Kontrastmitteln. Eines davon ist die Figur der Jessica, ein weiteres die Wahl der Hauptdarstellerin, ein drittes die Architektur: Die Räume der Villa, in der sich DER SOMMER MIT MAMÃ zu großen Teilen abspielt, sind extrem beengend gefilmt. Obwohl Val als Haushälterin beim Putzen sicher bis in letzte Winkel vordringt, bekommen wir als Zuschauer kaum ein Zimmer in seiner Gänze präsentiert. Dinge geschehen hinter angelehnten Türen. Die Personen werden durch architektonische Rahmungen stillgestellt. Das Gefühl von Bewegungsfreiheit, von Bewegung und Freiheit wird uns erst geschenkt, wenn wir in einer Totalen auf die Sichtbetonrampen der Fakultät für Architektur und Urbanismus schauen, wie sie von Jessica, Fabinho und seinem Vater erschritten werden. Im Interview äußert Anna Muylaert, dass diese Einstellung im Universitätsgebäude von Batista Vilanova Artigas ihr liebstes Bild im Film sei. Es symbolisiere die Bewusstheit und klare Schönheit von Bildung. Während in Brasilien das Thema Architektur diskursiv fest in der Hand von Linken und Kommunisten sei, die mit ihren Bauten versuchen, andere Formen des Zusammenlebens vorzudenken – Muylaert nennt


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