INDIEKINO BERLIN Magazin 02, April 2014

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INDIEKRITIKEN Originaltitel: Gözetleme Kulesi D Türkei/Deutschland 2013 D 96 min D R: Pelin Esmer D B: Pelin Esmer D K: Eken Ozgur D S: Ayhan Ergürsel D D: Olgun Simsek, Nilay Erdonmez, Laçin Ceylan, Menderes Samancilar, Riza Akin D V: AF-Media

WATCHTOWER

SOUNDBREAKER

Vom Ende der Lyrik

Klanggewitter mit Akkordeon

„Ich schrieb als Schüler tolle Gedichte“, erzählt der Busfahrer (Kadir Cermik) der Protagonistin Seher (Nilay Erdonmez), die ihn auf den langen Überlandfahrten durch die idyllische Landschaft der nördlichen Türkei begleitet. „Als Schüler schreibt man Gedichte“, erwidert die junge Frau nachdenklich, und er ergänzt wissend: „Und dann ... das Leben“. WATCHTOWER erzählt vom Leben zweier Menschen auf der Flucht. Die Studentin Seher hat sich von ihrer Familie abgeschirmt, und nimmt ohne ersichtlichen Grund einen Job als Bus-Stewardess in der Provinz an. Als wolle sie immer unterwegs sein, aber niemals ankommen. Nihat (Olgun Simsek) wiederum zieht sich in eine Art freiwillige Isolationshaft zurück. Im titelgebenden Wachturm, inmitten der bergigen Landschaft, wird er zum Hüter des Waldes, den er regelmäßig nach Anzeichen für ein drohendes Feuer absucht. Seine Verbindung zur Außenwelt bleibt nahezu auf einen Satz beschränkt, den er täglich mehrmals in das Funkgerät sprechen muss: „Situation normal“. Doch an seinem Verhalten ist nichts normal. Ein dunkles Geheimnis belastet seine Seele, für das er sich selbst bestrafen zu wollen scheint. Was will er mit der monotonen Überwachung dieses kleinen Fleckchens Erde beweisen? Die Regisseurin Pelin Esmer erzählt in ihrem Melodram von zwei Menschen, die in einer Blase gefangen scheinen, sichtbar zwar, aber unantastbar; die ihre Arbeit nutzen, um sich vor ihren persönlichen Befindlichkeiten zu verstecken. Deswegen ist es wohl auch kein Wunder, dass Seher und Nihat beim Aufeinandertreffen eine Verbundenheit spüren, und kurze Zeit später ihre Rollen wieder einmal in Frage stellen müssen, dann aber als Reflektion des jeweils anderen. In WATCHTOWER erzählt Pelin Esmer vom Verlust der Unschuld, dem Schmerz der Erinnerung und vom Ende der Lyrik. Vom Leben. D Jens Mayer

Start am 17.4.2014 ¢ fsk-Kino am Oranienplatz

D 30

D APRIL 2014

OMU

Finnland 2012 D 86 min D R: Kimmo Koskela D B: Kimmo Koskela D K: Kimmo Koskela D S: Kimmo Koskela, Jani Ahlstedt, Arne Eklund D M: Kimmo Pohjonen D V: W-film

Nihat works in an isolated watchtower and looks day in and day out for forest fires. University student Seher takes a job as a bus attendant in the countryside. Both seek isolation and carry a secret.

„Es sollte keine Normen geben, am allerwenigsten für das Akkordeon.“ Dieses Motto nimmt sich Kimmo Pohjonen, Finnlands berühmtester Akkordeonspieler, zu Herzen. Gleich zu Beginn von Kimmo Koskelas Dokumentation läuft der selbsternannte SOUNDBREAKER Pohjonen über einen zugefrorenen See und taucht samt Akkordeon in die Tiefen, um dort ein wahnwitziges Klanggewitter zum Besten zu geben. Bereits dieses erste Darbietung spiegelt die ganze Bandbreite seines ungewöhnlichen Spiels dieses ungewöhnlichen Instruments, das Pohjonen zufolge im Finnischen ein Synonym für „Arschloch“ ist, wieder: von meditativ über psychedelisch bis hin zu ekstatisch. Seine Musik kennt keine Grenzen und Koskela fängt Pohjonens ausschweifende Klangwelt passend in surrealen Traumbildern ein. Der Weg zum Akkordeon-Virtuosen war kein leichter. Die ersten 20 Jahre seiner Lehrzeit hat sich Pohjonen für sein Instrument geschämt: „Ich fand, es war ein Instrument für Idioten, die es spielen, um den Eltern zu gefallen.“ Doch Pohjonen macht es sich zum Ziel das vorurteilsbelastete Instrument von den Zwängen der Tradition zu befreien. Koskelas zeigt die Hassliebe zwischen Pohjonen und Akkordeon. Mal wiegt Pohjonen sein Instrument liebevoll wie ein Neugeborenes. Im nächsten Moment zertrümmert er es mit einem Vorschlaghammer ganz im Stile von The Who-Gitarrist Pete Townshend. Und immer wieder testet er die Grenzen seines Instruments. Während seines Auftritts in der englischen Provinz wird er von einer Vielzahl landwirtschaftlicher Maschinen der ansässigen Bauern musikalisch begleitet. Ein anderes Projekt wiederum gipfelt in einem Ringkampf, wobei die rhytmisch aufprallenden Körper der Athleten Pohjonens Akkordeonspiel untermalen. Es ist dieses unwirkliche Szenario, das die Beziehung zwischen Pojohnen und Akkordeon am besten verbildlicht: ein ewiger Ringkampf. D David Herger

Start am 17.4.2014 ¢ filmkunst66 ¢ Eiszeit Kino OMU

OMU

“There shouldn’t be any rules, least of all for the accordion.” In this documentary, Finland’s most famous accordion player Kimmo Pohjonen takes this motto to heart and plays his instrument under water or in a boxing ring.


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