INDIEKINO MAG #20, Juli/August 2022

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INDIEFEATURE

Eine Filmdose ist beim Transport aufgegangen, eine Filmrolle ist im Wüstensand gelandet und hat sich ineinander verknotet. Eine Katastrophe. Denn ohne die Rolle, die die aktuelle Wochenschau enthält, gerät auch die Vorführung des Propagandafilms „Heroische Töchter und Söhne“ (1964), auf die ein ganzes Dorf sich freut, in Gefahr. Zhang Yimous EINE SEKUNDE, der in den 1970er Jahren gegen Ende der Kulturrevolution spielt, zeigt über weite Strecken, wie das Kollektiv unter Anleitung des reisenden Vorführers „Mr. Movie“ (Fan Wei) aus dem staubigen Knäuel wieder einen vorführbaren Film macht. Zunächst wird der Filmstreifen entheddert, dann geräumig auf Leinen aufgehängt, mit destilliertem Wasser gereinigt und zum Trocknen sanft gefächert, bevor er schließlich, schön vorsichtig, wieder aufgewickelt wird. Nicht nur die Dorfbewohner*innen warten dabei sehnsüchtig auf die Wiederherstellung der Filmrolle, sondern auch ein namenloser Flüchtling (Zhang Yi) und die junge Waise Liu (Liu Haocun), zwei Marginalisierte, aus denen im Verlauf des Films ein ungleiches Paar werden soll, das an die tragikomischen Duos der Stummfilmzeit erinnert. Er ist aus dem Arbeitslager geflohen, weil ihm jemand erzählt hat, dass im Film seine Tochter zu sehen sein soll. Sie ist hinter dem Filmmaterial her, um aus dem begehrten Bastelmaterial einen Lampenschirm zu machen, als Ersatz für eine Lampe, die ihr kleiner Bruder versehentlich zerstört hat. Die beiden hauen sich im Wettstreit um die ersehnte Filmrolle zunächst abwechselnd gegenseitig in die Pfanne, überwinden dann aber ihr tiefsitzendes Misstrauen und werden zu Verbündeten.

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EINE SEKUNDE ist durchzogen von einer warmherzig leuchtenden Liebe für das analoge Kino – damit ist die kollektive Erfahrung der Vorführung ebenso wie die physische Beschaffenheit des Films gemeint. Auch die geradlinig erzählte Geschichte vom Tramp und der Waise und dem Kino erinnert von weiter weg zunächst an das klassische Erzählkino der dreißiger und vierziger Jahre. Umso länger man allerdings auf den Film schaut, umso komplexer, ambivalenter und interessanter werden die Charaktere und Bedeutungsebenen. Insbesondere Mr. Movie ist eine schillernde Gestalt, die zwischen linientreu, karrierebewusst und mitfühlend oszilliert. Und das Kollektiv im Kino träumt, wenn man genauer hinsieht, gemeinsam Propaganda. EINE SEKUNDE sollte zunächst auf der Berlinale 2019 gezeigt werden und wurde in letzter Minute „wegen technischer Schwierigkeiten“ zurückgezogen. Zhang Yimou musste eine Minute herausschneiden. Was immer sie enthalten hat: Der Film, der so schlicht daherkommt, scheint perfekt. D Hendrike Bake ¢ Start am 14.7.2022


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