wilhelm stiassny 1842-1910

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4.2 Architektonischer Aufbau von Synagogen im 19. Jahrhundert

war die Bauperiode fast 40 Jahre später, und die sozialpolitische Situation im Judentum war bereits etwas anders. Der erste Ausbruch von Freude über Gleichberechtigung war längst schon vorbei, und der Antisemitismus wurde immer stärker. Stiassny traf hier die Stilwahl der Neo-Renaissance. Bei dieser Größe und der Höhe der Türme musste Stiassny vielleicht die Synagoge nicht mehr mit maurischen Ornamenten dekorieren – oder wollte bzw. sollte er nicht. Die genauen Hintergründe bleiben jedoch ungewiss. Vier Ecktürme Das nicht ausgeführte Synagogenprojekt von Sarajevo (1895) sowie die Synagoge in IvanoFrankivsk (1894–1899) hatten vier Ecktürme und können somit auch auf die Kasseler Synagoge mit ihren vier Turmstümpfen zurückgeführt werden. Die Westfassaden von Sarajevo (Abb. 142) und Jablonec nad Nisou (Abb. 72) sehen einander sehr ähnlich und unterscheiden sich nur in Details. Bei den Seitenfassaden hingegen wird sofort deutlich, dass es sich im ersteren Fall (Abb. 142) um einen in beiden Ausdehnungen symmetrischen Baukörper handelt, der dementsprechend vier Eckrisaliten mit Kuppelaufsätzen hat, zweiterer (Abb. 73) jedoch nur eine Symmetrieachse aufweist. Dementsprechend kann man den Typus mit vier Ecktürmen gewissermaßen als Sonderfall der Doppelturmfassade bezeichnen. Im Allgemeinen befinden sich bei der Synagoge dieses Typus die Treppen zur Frauenempore in den zwei Türmen oder Turmstümpfen an der Westfassade, während die Zimmer für Rabbiner und Kantor die Eckbauten im Osten einnehmen. Synagogen mit vier Ecktürmen findet man beispielsweise auch in Ulm (1870–1873; Abb. 256) von Adolf Wolff (1832–1885) oder Vidin (1894) in Bulgarien. Einzelne Kuppel in der Fassadenmitte Anders als die freistehenden Synagogen von Malacky, Jablonec nad Nisou, Sarajevo und Ivano-Frankivsk war die orthodoxe Synagoge in der Leopoldsgasse in Wien zwischen höheren Häusern verbaut. Wahrscheinlich war diese sehr lange und schmale Grundrisssituation die Motivation für eine in die Mitte der Fassade gerückte Kuppel statt zwei bzw. vier seitlichen wie bei den freistehenden Synagogen. In den Seitenrisaliten befanden sich eigentlich Vestibüle für Frauen und in der Galerie je ein Zimmer. Die Stiegenhäuser für Frauen wurden tiefer in den Bau gelegt, wahrscheinlich um den überlangen Eindruck des eigentlichen Betraumes zu mildern – für eine orthodoxe Synagoge mit der Bimah in der Raummitte war der Baugrund wirklich außerordentlich lang gestreckt. Die Kuppel war hier auch ein repräsentatives Motiv, das dem niedrigen schmalen Haus in der Häuserreihe einen monumentalen Charakter verlieh. Die Kuppel war vom Innenraum aus unsichtbar, jedoch mächtig genug, so dass man sie von der Straße sehen konnte. Künzl schrieb, dass die Wiener Synagoge Stiassnys möglicherweise als Vorbild für die drei Jahre später in Vágbesztercze (dt. Waagbistritz, heute Považská Bystrica in der Slowa-


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