Jetzt Gemeinschaft! Es kann nur alle geben.

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werden zu lassen. Und ja, die Idee ist witzig, denn befinden wir uns nicht selbst dauernd in einer Gerüchteküche, die ab und zu absurde wilde Blüten hervorbringt? Dass die Zungenreliquie von St. Antonio aus Padua mit Bildern vom Gletscherschwund verknüpft werden kann, führt zur berechtigten Frage, wer als Wikipedia-Autor Artikel verfassen darf, wer für die Allgemeinheit was wie veröffentlicht oder von wem es gelöscht wird. Ein Dokumentationsteam begleitet die verschiedenen Gruppen von Anfang an. Das löst Kontroversen aus: Kaum schwebt eine Idee über den Köpfen, muss sie auch schon medial aufbereitet sein. Trotzdem helfen gerade Zwischenresultate, das Feld einzugrenzen. Frische Statements, zaghafte Annäherungen, kraftvolle Vergegenwärtigungen der intensiven Gruppenarbeit, die allen das abverlangt, was einer allein nie zu leisten im Stande ist, werden sofort dokumentiert. Der Film erfasst die Inhalte, das Experiment ist gelungen. Ein humanes Wertespiel als Quartett sucht Mitspieler, Gerücht oder Gemeinschaftsbau, alle Formen der Umsetzung sind noch möglich. Dem Gründungsmythos sind keine Grenzen gesetzt. Der lustvolle Selbstversuch wird gewagt. Ein Hörspiel von der Fiktion der Fiktion über die Fiktion eröffnet tatsächlich die Möglichkeit, dass Hermann Hesse auf Yoko Ono treffen könnte. Wie hätte wohl dieser feingliedrige Brillenträger auf die, wie Wikipedia schreibt, meistgehasste Frau der Welt geblickt? Love, love, love! Yoko Ono, dessen bin ich mir sicher, würde sich darüber freuen. Aber weshalb fragen wir sie nicht selbst? Andrea Iten

Yoko Ono und John Lennon bzw. Herman Hesse, Bed-in for peace, 1969

Eine Wertegruppe will gegründet sein. Gesang, Hymnen, Rituale, Stadt und Land sind Inhalte von lebhaft kontroversen Gesprächen. Schicksalsgemeinschaften lösen sich auf, Trittbrettfahrer springen ab, «Krocher» und Oppositionelle, Mythen und Bringschuld bilden einen bunten Reigen. Einzelne Wünsche, Interessen und Meinungen lassen sich zur elastischen Masse kneten. Neubildungen formen Gemeinschaften des ultimativen Kicks: Etwas Anderes, Besseres, unerwartet Neues muss her! Im Dialog entpuppen sich fiktive Dilettanten als gewiefte Taktiker, die mit Isolation und rigidem Regelwerk genauso umgehen können wie mit sichtbaren und unsichtbaren Grenzbereichen. Gemeinschaft wird ständig mit der eigenen Rolle abgeglichen, ist Konzept und Arbeitsform in einem. So oszillieren Theorie, Praxis, persönliche Erfahrung und Fiktionalisierung zwischen genauen Zahlen und kaum fassbaren Werten. Auf harte Fakten fallen bunte Konfettistreifen. Ein Drehbuch wird geschrieben. Zwischen Wien und Basel bilden sich vier Gruppen ganz nach dem Motto heimlicher und unheimlicher Allianzen. Sie camouflieren Subkulturen, gründen einen fiktiven Mob, tüfteln an cleveren Geschäftsmodellen und Spielen, planen gar den Bau einer Wippe (nach Durkheim) im Selbstversuch. Der Aufstieg und Fall einer Gemeinschaft ist beschlossen, Hermann Hesse erfindet sich als fiktives Rollenmodell, Yoko Ono zeichnet Mangas. Gemeinschaft soll verhandelbar bleiben, Gruppen mutieren, neue Mitglieder passen sich ein, selbst Einzelpersonen und Splittergruppen sind mit von der Partie. Der kommune Alltag wird nicht ausgeblendet. Einzelne Studentinnen und Studenten schreiten zur Tat. Per Kamera und Mikrofon bringt sich auch die Wiener Bevölkerung in die Gemeinschaftsdiskussion ein. Dass sich die Menschen auf der Strasse nicht irritieren lassen, ist Zeichen der medialen Allgegenwart, die selbst vor der breiten Öffentlichkeit nicht Halt macht. Kamerascheu war gestern. Dass es trotzdem Chuzpe braucht, wildfremde Menschen auf ihrem Sonntagsspaziergang im Park anzusprechen, sei an dieser Stelle vermerkt. Die Neugier überwiegt, provokante Aktionen können helfen, schräge Geschichten zu streuen, um sie zum gemeinschaftlichen Selbstläufer


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