Reflexionen – Metallbearbeitung hört hier auf Heavy Metal

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D I E A U T O S TA D T I M S P I E G E L V O N K U N S T U N D K U LT U R

ALAN BANGS

Eindrücke und Visionen gewinnen sie auf Spaziergängen durch eines der erfolgreichsten Kommunikationsprojekte unserer Zeit. Ihre Beiträge bieten ungewöhnliche Perspektiven auf die wichtigsten T h e m e n f e l d e r, i n d e n e n s i c h d i e A u t o s t a d t e n g a g i e r t : M o b i l i t ä t , N a c h h a l t i g k e i t , B i l d u n g , a b e r a u c h K u n s t , Ta n z , M u s i k u n d Gastronomie. Ergänzt werden die vielfältigen textlichen und visuellen Formate durch die Highlights der Autostadt-Spielzeit 2013. Autoren dieser Ausgabe sind unter anderen Alan Bangs, Christian Boros, D o u g l a s C o u p l a n d , S a s c h a L o b o , Wo l f r a m S i e b e c k u n d L i We i .

R E F L E X I O N E N — D I E A U T O S TA D T I M S P I E G E L V O N K U N S T U N D K U LT U R

Zehn internationale Autoren und Künstler werfen e i n e n n e u e n B l i c k a u f d i e A u t o s t a d t i n Wo l f s b u r g . I h r e s u b j e k t i v e n

CHRISTIAN BOROS

DOUGLAS COUPLAND

REFLEXIONEN SASCHA LOBO

WOLFRAM SIEBECK

LI WEI 128 Seiten, 89 Abbildungen


M E TA L L B E A R B E I T U N G HÖRT HIER A U F H E AV Y M E TA L Bildung ist viel mehr als Schule. 350 000 Menschen nutzten im letzten Jahr die Lernangebote der Autostadt. Als außerschulischer Lernort gewinnt sie immer größere Bedeutung. Allein 40 000 Schüler kamen mit ihrer Klasse – z u m B e i s p i e l To b i a s u n d d i e a n d e r e n J u g e n d l i c h e n d e r O b e r s c h u l e P a p e n t e i c h .

— Vo n M i c h a e l H o p p u n d M e r l e - S o p h i e R ö h l / F o t o s : B e n n e O c h s —


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Pedis as aborporem quatur aspe aut autatium quam excearum quiate noRatem ea quae minima inus erovidus.Nequide liquiam ipsae simagnCupta nobitium voluptas endelen iendeliam voluptat.Dae voluptio. Volore volent re pro ent.

Kinder und Jugendliche müssen heute viel mehr lernen, die Schule kommt gar nicht mehr nach. Perspektivisch droht der deutschen Wirtschaft ein Fachkräftemangel, auch aus demographischen Gründen, der ihre Konkurrenzfähigkeit bedroht. Es muss was geschehen in Deutschland, darin sind sich alle einig. Doch jetzt schreiben wir erst mal den 20. November 2013, ein trüber Morgen über Niedersachsen, der nicht viel preisgibt. Zwei Dutzend Schüler der Oberschule (OBS) Papenteich aus Groß Schwülper, einer Gemeinde im niedersächsischen Landkreis Gifhorn, machen sich schon frühmorgens mit dem Bus auf den Weg nach Wolfsburg. Gespannt nehmen sie in einer blitzblanken Werkstatt im Automobilmuseum ZeitHaus der Autostadt ihre Plätze ein. Die meisten sind Jungen, zwischen 14 und 17 Jahre alt. Einige wollen Mechatroniker oder Metallbauer werden, einige haben schon Praktika bei der Volkswagen AG gemacht. „Ich möchte auf jeden Fall Werkzeugmechaniker werden“, Tobias – 15 Jahre, gegelte Haare, die Jeans modisch auf halbmast – lässt keinen Zweifel offen: „Dafür pendel ich auch täglich 30 Kilometer hin und zurück!“ Tobias ist sich seiner Sache sicher. Doch mit seiner bereits gefundenen Orientierung ist er unter seinen Mitschülern wohl in der Minderheit. Die Oberschule in Papenteich ist eine Partnerschule der Autostadt in Wolfsburg, das bedeutet, ihre Schüler nehmen – wie heute Tobias’ Klasse – an Workshops in der Autostadt teil, und die hier gemachten Erfahrungen werden im Unterricht in der Schule fortgeführt und vertieft. Die Projekte werden von Schulen aus ganz Deutschland vorgeschlagen, zwölf davon setzt die Autostadt im Jahr um. Den Papenteichern hatte die Autostadt 2013 zusätzlich das Konstruktionsprojekt „Cuno Bistram“ vorgeschlagen. Konstrukteur Bistram hatte in den 40er und 50er Jahren des letzten Jahrhunderts in Hamburg kleine Rennwagen entwickelt, mit denen Besucher Runden auf einer Rennbahn im Tierpark Hagenbeck drehen konnten. Die Schüler im Projekt sollen nun den Erfindergeist Bistrams aufnehmen und auf die Gegenwart übertragen. Heute auf dem Programm der Papenteicher in der Autostadt: der Workshop „Heavy Metal“, in dem es um Metallverarbeitung geht. Erleben, erfahren, erinnern. Diesem Dreiklang folgen die Bildungsangebote der Autostadt. Sinnliches Erleben, handfestes Gestalten und gemeinsames Reflektieren – das sind die Grund-

züge des Konzepts der „Inszenierten Bildung“, der pädagogischen Fachabteilung der Autostadt. „In Niedersachsen wurde fast flächendeckend der Ganztagsunterricht eingeführt, das bedeutet auch, Schule hat einen erweiterten Aufgabenbereich. Doch dafür fehlen die Lehrer, das Geld, die Ausstattung“, erklärt der Leiter der „Inszenierten Bildung“ Michael Pries. „Wenn Schule den Schüler heute ganztags betreuen soll, dann braucht sie Hilfe von außerhalb.“ Die Autostadt als „außerschulischer Lernort“ befindet sich damit in Gesellschaft von Bildungseinrichtungen wie dem Science Center Universum in Bremen, dem Abenteuermuseum Odysseum in Köln oder der Biosphäre in Potsdam. Seit 2003 ist die Abteilung „Inszenierte Bildung“ der Autostadt Kooperationspartner des Niedersächsischen Kultusministeriums. Innerhalb des gemeinsam entwickelten Curriculums Mobilität bietet sie einen fächerübergreifenden Ansatz, der das Verständnis für eine sicherheits-, sozial-, umwelt- und gesundheitsbewusste Mobilität fördern soll. Große Worte. Mal ganz praktisch zum Thema Mobilität zu arbeiten, das wäre Tobias und den anderen jetzt auch sehr recht. Doch Tino Müller, Thorsten Goosmann und Olaf Glatz, drei Mitarbeiter der „Inszenierten Bildung“, laden zunächst uns Reporter ein, Fragen zu stellen. „Nach der Schule, wollt ihr dann etwas mit Mobilität machen?“ – „Ja, Auto fahren“, antwortet Tobias leise, lächelt verschmitzt und kann sich der Lacher der anderen sicher sein. Stimmt, das wollen alle. Die meisten der Schüler wohnen im ländlichen Raum. Der Führerschein und ein eigenes Fahrzeug sind für sie Synonyme für Freiheit und Unabhängigkeit.

IN ZWEI JAHREN EINEN RENNWAGEN BAUEN Im Rahmen des Projekts „Cuno Bistram“ sollen Tobias und seine Mitschüler innerhalb von zwei Schuljahren unter Anleitung ihrer Lehrer einen kleinen Rennwagen bauen. Hier geht es auch immer wieder um das Thema: Wie wird sich die Mobilität in Zukunft entwickeln? Dabei sollen sie Anregungen gewinnen, ihr Wissen vorantreiben, die Phantasie beflügeln. Wie sieht die Karosserie in zehn, zwanzig Jahren aus? Welche Materialien werden verwendet? Was sind die Antriebs-

Tobias (linke Seite, unten) und seine Mitschüler (weitere Fotos) besuchen mit ihrer Klasse alle zwei Wochen einen technischen Workshop in der Autostadt. Damit fühlt sich der 15-Jährige in seinem Berufswunsch bestärkt

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Diese Seite: Schüler bearbeiten Metall Linke Seite: Als Anschauungsobjekt steht in der Werkstatt ein historischer Volkswagen Käfer

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technologien von morgen? Wie wird man dem Umweltaspekt gerecht? Wie kommen Fahrspaß und Verbrauch am besten zusammen? Was sind die spannenden Entwicklungen in Sachen Style und Design? Um diesen Fragen konkret nachzugehen, fahren die Jugendlichen alle zwei Wochen nach Wolfsburg und nehmen an Workshops teil. „Wir bringen die Realität in die Schule“, erläutert Michael Pries, „und legen Wert darauf, dass die Schüler das Erlernte auch praktisch anwenden können.“ Komplexe Themen wie Nachhaltigkeit sollen anschaulich erklärt werden. Zum Beispiel durch Experimente oder Modelle. In der Vermittlung dieser Themen kommt hinzu, dass unter Schülern heute andere Ansprüche an das Lernen bestehen. Kinder wünschen sich heute anschauliche Methoden wie den Einsatz von Videos oder Lernformen, an denen sie aktiv beteiligt sind, wie Rallyes. Dieser Forderung nach Vielfalt kommen die didaktischen Angebote der Autostadt entgegen. „Die Autostadt ist ein ebenso außergewöhnlicher wie herausragender außerschulischer Lernort“, lobt die niedersächsische Kultusministerin Frauke Heiligenstadt.

M I TA R B E I T UND BEGEISTERUNG Außergewöhnlich – das würden Tobias & Co. im Moment sicher unterstreichen: Denn ihr „Heavy Metal“-Programm besteht in der Herstellung einer Duftlampe aus Metall. Oben soll eine Schale angebracht werden, in der ätherisches Öl mit Wasser vermischt wird; unten entsteht eine Halterung für ein Teelicht, durch dessen Flamme das Öl verdampft. „Aber eigentlich geht es doch um Mobilität!“, merkt einer der Schüler an. „Kommt bestimmt noch“, antwortet der Sitznachbar. Genau, denn erst einmal geht es darum, Werkzeuge kennenzulernen und Bearbeitungsschritte auszuprobieren – und das geht ideal mit der Duftlampe. „Ihr werdet heute schweißen, schneiden, dengeln und biegen“, erklärt Werkstattmitarbeiter Tino Müller. „Das Ergebnis kann dann so aussehen.“ Er hebt eine fertige Duftlampe hoch. „Ihr könnt aber auch eure eigenen Formen kreieren.“ Auf dem Mittellandkanal, gut sichtbar durch die bodentiefen Fenster der Werkstatt, zieht gemächlich ein Frachtkahn vorüber, dem einige Jungen mit ihren Blicken folgen. Die Schüler bekommen passende Arbeitshosen, Sicherheitsschuhe und -brillen sowie Handschuhe. Fertig angezogen, arbeiten sie zu viert an jeweils einem großen Tisch. In den nächsten Stunden formen sie Metall, schneiden mit einer Blechschere Einzelteile aus, biegen Stücke an der Abkantbank und schweißen die Teile schließlich zusammen. Wer möchte, kann sein Werkstück zum Schluss noch sandstrahlen. „Das ist geil“, freut sich

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Sören, einer der Schüler, als er aus der Sandstrahlkabine kommt. Er stupst seinen Tischnachbarn an: „Mach das doch auch mal.“ So sieht Mitarbeit und Begeisterung aus: das produktive Erlebnis an der Abkantbank, in der Sandstrahlkabine, am Schweißgerät. Diese Tätigkeiten sind durchaus anstrengend, die Schüler stehen dabei. Für Ungeübte ist das Schlagen von Metall, im Fachjargon Treiben genannt, bereits nach fünf Minuten mühsam. Die meisten Schüler halten das jedoch locker zwanzig Minuten und länger durch. Sie geben ihr Bestes und bleiben hochkonzentriert. Und ihre drei Workshopleiter registrieren das mit lobenden Worten.

DAS BRINGT LEBEN IN DIE SCHULE Heinz Dieter Ulrich, der Direktor der OBS Papenteich, ist heute mitgekommen in die Autostadt. Wie ein Trainer beobachtet er seine Schützlinge, während sie das Metall bearbeiten. „Die Kooperation bringt das Leben in unsere Schule“, freut sich der begeisterte Pädagoge, der als großer Netzwerker bekannt ist. Neben dem Bau des Rennwagens laufen an seiner Schule aktuell drei weitere Projekte mit Wolfsburg: die Restaurierung eines Porsche-Traktors, die Erstellung einer Broschüre über lokale Spezialitäten in der Region Papenteich und ein Schülerwettbewerb, bei dem ein Miniatur-Formel-1Rennwagen entwickelt und in einem Rennen getestet wird. „Nächstes Jahr nehmen wir sogar an der Landesmeisterschaft Niedersachsen von ‚Formel 1 in der Schule’ teil“, sagt Ulrich stolz. So sammeln die Jugendlichen der OBS Papenteich in der Autostadt praktische Erfahrungen und kommen mit neuen Ideen, Fähigkeiten und vielleicht auch Zielen in den Unterricht zurück. Und sie können sich in Situationen erproben, die im Schulalltag nur schwer zu simulieren sind. Um ihr Projekt zur Esskultur rund um Papenteich der Öffentlichkeit zu präsentieren, stellten die Schüler zum Beispiel eigenständig eine Pressekonferenz auf die Beine. Sie übten sich in professioneller Organisation und freiem Sprechen – wichtige Kompetenzen für ihre berufliche Zukunft. „20 Minuten haben sie selber referiert und das wirklich richtig gut gemacht.“ Schulleiter Heinz Dieter Ulrich gerät ins Schwärmen. „Einfach toll! Die Schüler sind am Ende der Pressekonferenz vor lauter Stolz rausgeschwebt. Und wir Pädagogen auch.“

RICHTIGER UMGANG MIT WERKZEUGEN Bevor es für Tobias und die anderen Teilnehmer des Öllampen-Workshops in die Mittagspause geht, müssen die Arbeitsplätze sauber gemacht und alle Werkzeuge sorgfältig ver-

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staut werden. Neben den Werkbänken stehen kniehohe Schränke. Darin hat jedes Teil – von der Zange bis zur Feile – seinen festen Platz. „Wir achten auf den richtigen Umgang mit den Werkzeugen“, erklärt Julia Thorwarth von der Autostadt. Die junge Frau mit dem freundlichen Lächeln koordiniert die Workshops mit der Schule. Ordnung, Zuverlässigkeit, Höflichkeit und Pünktlichkeit werden so gleich mitgeschult. „Diese sogenannten Schlüsselqualifikationen sind Türöffner in der Arbeitswelt“, weiß Julia Thorwarth. Und das wissen auch die Jugendlichen. In der Mittagspause haben die Schüler Zeit, über ihre Vorstellungen von Mobilität zu diskutieren. Sie sitzen vor dem ZeitHaus, in dem sich die Werkstatt befindet. Wie sieht nun das Auto der Zukunft aus? Fahren wir morgen alle Elektroautos? „Ich weiß nicht“, sagt Christian skeptisch. „Irgendwie sind Elektroautos keine richtigen Autos für mich“, springt ihm Sören mit leicht gerümpfter Nase bei. „Klar, Elektroautos sind besser für die Umwelt. Aber für mich muss ein Auto Motorensound haben, richtig Krach machen, wenn man Gas gibt.“ Ein anderer Junge wendet ein: „In 20, 30 Jahren sind wir wahrscheinlich doch alle mit dem Elektroauto unterwegs. Die sollten aber schon gut aussehen.“ Fahren muss weiter Freude machen, da sind sich die Schüler einig. Auf dem Weg zurück in die Werkstatt streifen sie durch das Automobilmuseum im ZeitHaus. Hier stehen neben Volkswagen verschiedener Epochen auch so mancher Porsche und Lamborghini, einige legendäre Bugatti und Bentley. Die Augen

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von Tobias, Christian, Sören und all den anderen glänzen beim Anblick der Kultobjekte. Wie wohl ihr selbstgebauter Wagen in zwei Jahren aussieht?

BEGEISTERUNG FÜR TECHNIK FRÜH WECKEN Perspektivwechsel: Zwei Wochen später sind wir bei den Schülern „zu Hause“ in der Oberschule. Die OBS Papenteich ist eine der modernsten Bildungseinrichtungen in Niedersachsen, ausgestattet mit einem Techniklabor und einem Berufsinformationszentrum. Neben dem Real- und Hauptschulzweig startet ab dem Schuljahr 2014/15 auch ein gymnasiales Angebot. Der Schwerpunkt der Ganztagsschule liegt im technischen Bereich. Für ihr Engagement in den Schulfächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – kurz: MINT-Fächer – ernannte die Stiftung der niedersächsischen Metall- und Elektroindustrie in Kooperation mit dem Kultusministerium des Landes die OBS im Jahr 2013 zur „MINT-Schule Niedersachsen“. Ein Grund für diese Auszeichnung waren auch die vielfältigen Kooperationen mit der Autostadt. Die Projekte sind überwiegend im berufspraktischen Schwerpunkt Technik angesiedelt, den Schüler im Haupt- und Realschulzweig nach der achten Klasse neben Wirtschaft, Gesundheit und Soziales oder Sprache wählen können. Ab der fünften Klasse gibt es an der OBS erste technische Angebote. „Je eher wir in diese praktischen technischen In-

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halte einführen, desto nachhaltiger erreichen wir die Schüler“, ist Schulleiter Ulrich überzeugt. Die Lust am Experimentieren beginnt noch früher – bereits im Kindergartenalter. Technische Frühbildung ermöglicht es, Können und Phantasie der Kinder anzuregen. So richten sich einige Angebote in der Autostadt auch schon an Mädchen und Jungen im Kindergarten- und Vorschulalter. Die schulischen Bildungsangebote orientieren sich ebenfalls an den Entwicklungsphasen. Es gelte, „Situationen herzustellen, in denen sich die Schüler wiederfinden“, so Michael Pries. Bei Jüngeren wählt die Autostadt einen spielerischen Zugang und lässt sie beispielsweise Fahrzeugmodelle aus Plastilin kneten. Die Kurse für ältere Schüler sind dann eher praxisorientiert: „Sie bekommen dann einen Rasenmähermotor vorgesetzt: Nun nehmt den mal auseinander“, erklärt Michael Pries. Die Faszination eines echten Motors wirkt Wunder bei den Schülern – sie fühlen sich ernstgenommen, und die Pubertätsnöte sind für den Moment vergessen.

E I N K N AT T E R B O O T AUS KUPFER Auch wenn die Schüler an diesem Tag nicht in der Autostadt sind – mit Rentner Horst Piksa ist ein ehemaliger VW-Mitarbeiter vor Ort an der OBS. Der sogenannte Senior-Experte unterstützt den Technik-Unterricht ehrenamtlich. Im Kurs Metallgestaltung soll ein Knatterboot aus Kupfer gebaut werden. Piksa mahnt zur Sorgfalt: „Kupfer ist Dreher-Gold. Jeder bekommt nur ein Teil.“ Er weiß, wovon er spricht. 1960 fing er als Lehrling bei Volkswagen an. Im Lauf seines Berufslebens hat der Maschinenbautechniker fast sechstausend Lehrlinge ausgebildet. „Ein Glücksfall, dass er bei uns weitermacht“, freut sich Schulleiter Ulrich. Piksas Erfahrung und sein Know-how sind begehrt, und er setzt sich über seine Lehrtätigkeit hinaus für die Schüler ein. Die alte Drehmaschine, auf der Horst Piksa gelernt hat, steht nun funktionstüchtig in der Schule in Groß Schwülper. An ihr schneiden jetzt zwei Schüler die Metallteile zu. Ihre Ärmel haben sie hochgeschoben, Uhren und Schal liegen hinter ihnen auf dem Tisch. Sie arbeiten vorschriftsmäßig, kein Kleidungsstück kann sich in der laufenden Maschine verfangen. Sicherheit ist Piksas oberstes Gebot: „Passt auf eure Hände auf! Wenn die zwischen die Zahnräder geraten!“ Ein paar Räume weiter üben Schüler im Kurs „Formel 1 in der Schule“ den Umgang mit FiloCAD, einem computergesteuerten Designprogramm. In der Klasse sitzt eine der wenigen Schülerinnen, die das Profil Technik gewählt hat. Annina entwirft am Computer das Logo ihres Sportvereins. Die Logik der Linienführung ähnelt dem Kinderspiel „Das ist das Haus vom

Nikolaus“: eine Linie, vom Anfang bis zum Ende – sie darf nicht unterbrochen werden. Gar nicht so einfach. Konzentriert blickt die 16-Jährige auf den Bildschirm, streicht sich ab und an die Haarsträhne aus der Stirn. Will sie später auch in einem technischen Beruf arbeiten? „Na ja, zuerst wollte ich schon Kfz-Mechanikerin werden, nach einem Praktikum im Krankenhaus möchte ich aber doch lieber eine Ausbildung zur Krankenschwester machen. Mir ist es einfach wichtig, dass ich Menschen helfen kann.“

FA C H K R Ä F T E M A N G E L I N M I N T- F Ä C H E R N Genau hier liegt das Problem. Noch zu wenige Mädchen wählen das Profil Technik und entscheiden sich später, in diesem Bereich zu arbeiten. „Die Jungen fühlen sich einfach eher angesprochen“, weiß Schulleiter Ulrich aus Erfahrung. Dabei traut er den Mädchen im Grunde mehr zu: „Sie arbeiten sorgfältiger. Den Jungen muss man beibringen, Qualität zu entwickeln.“ Trotzdem stagniert die Zahl der MINT-Studentinnen laut dem „Kompetenzzentrum Frauen in Wissenschaft und Forschung“ in den letzten Jahren. Und auch männlicher Nachwuchs wird in den MINT-Berufen gesucht. Allgemein rücken zu wenige junge Spezialisten nach. Ursache dafür ist neben der zu geringen Neigung junger Menschen auch der demographische Wandel. Auch die Zuwanderung von ausländischen Fachkräften scheint keine Lösung zu sein, da zu wenige den Weg nach Deutschland finden. Im Jahr 2015 werden, laut dem von der EU finanzierten „Europäischen Zentrum für die Förderung der Berufsbildung“, zwischen Helsinki und Athen 384 000 bis 700 000 Fachkräfte fehlen. Diesem Mangel entgegenzuwirken – auch das ist ein Anliegen der Autostadt. Mit der Nachwuchsförderung im Bereich der MINT-Fächer muss man früh beginnen. Doch oft vermissen Kinder und Jugendliche an der Schule den praktischen Bezug zwischen dem Lernstoff und ihrem Alltag – die Begeisterung für die mathematisch-technischen und naturwissenschaftlichen Fächer bleibt deswegen eher gering. Anwendungsorientierter Unterricht gilt als Schlüssel zum Erfolg – und den kann die Autostadt unterstützen. „Bei uns können die Schüler Interessen und Neigungen ausprobieren“, so Michael Pries. Erleben, erfahren, erinnern – das ist für Pries auch eine direkte Handlungsanweisung. Ganz praktisch stellen die Jugendlichen einen Gegenstand aus Metall in Handarbeit her, sie nehmen ihn mit nach Hause, überlegen, was sie gemacht haben, und erklären das später Eltern und Freunden. Praktisches Handeln und anschließendes Reflektieren ergibt, wie Michael Pries sagt, „sinnhaftes Lernen“.

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