Reflexionen – Sascha Lobo

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D I E A U T O S TA D T I M S P I E G E L V O N K U N S T U N D K U LT U R

ALAN BANGS

Eindrücke und Visionen gewinnen sie auf Spaziergängen durch eines der erfolgreichsten Kommunikationsprojekte unserer Zeit. Ihre Beiträge bieten ungewöhnliche Perspektiven auf die wichtigsten T h e m e n f e l d e r, i n d e n e n s i c h d i e A u t o s t a d t e n g a g i e r t : M o b i l i t ä t , N a c h h a l t i g k e i t , B i l d u n g , a b e r a u c h K u n s t , Ta n z , M u s i k u n d Gastronomie. Ergänzt werden die vielfältigen textlichen und visuellen Formate durch die Highlights der Autostadt-Spielzeit 2013. Autoren dieser Ausgabe sind unter anderen Alan Bangs, Christian Boros, D o u g l a s C o u p l a n d , S a s c h a L o b o , Wo l f r a m S i e b e c k u n d L i We i .

R E F L E X I O N E N — D I E A U T O S TA D T I M S P I E G E L V O N K U N S T U N D K U LT U R

Zehn internationale Autoren und Künstler werfen e i n e n n e u e n B l i c k a u f d i e A u t o s t a d t i n Wo l f s b u r g . I h r e s u b j e k t i v e n

CHRISTIAN BOROS

DOUGLAS COUPLAND

REFLEXIONEN SASCHA LOBO

WOLFRAM SIEBECK

LI WEI 128 Seiten, 89 Abbildungen


SASCHA LOBO

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AUTOREISE IN DIE ZUKUNFT

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MOBILITÄT

MOBILITÄT

D a s A u t o b l e i b t , a b e r e s w i r d Te i l d e r s t ä d t i s c h e n I n f r a s t r u k t u r. Dazu muss es so intelligent werden wie ein Smartphone. Die Autostadt ist der ideale Ort, um diese tatsächlich revolutionär neue Mobilität schon heute erlebbar zu machen, meint Sascha Lobo.

— Fotos: Thomas Prior —


MOBILITÄT

Seite 88 und 89: Sascha Lobo in der Inszenierung MobiGlobe, in der es um die Zukunft der Mobilität geht Seite 90: Installation im Volkswagen Pavillon Seite 91: Ein Wagen auf dem SicherheitsParcours der Autostadt

MOBILITÄT

Wenn man in Deutschland „Wirtschaft“ sagt, denkt man „Auto“. Es gibt vermutlich schlimmere Schicksale für eine Volkswirtschaft. Es gibt aber auch einfachere. Denn das Auto befindet sich in der Sorte von Umbruch, die aus ökonomischer Sicht die anspruchsvollste und, das muss man so sagen, gefährlichste ist. Das lässt sich an ganz simplen Details erkennen, zum Beispiel an dem Satz, mit dem man einem fünfjährigen Kind erklärt, wie ein Auto funktioniert. Über hundert Jahre lang lautete er: Ein Auto ist eine Maschine, die man von A nach B fahren kann. In den nächsten Jahren fällt das „man“ weg – denn selbstfahrende Autos stehen vor dem Durchbruch. Dabei spielt es keine große Rolle, ob der konkrete Durchbruch 2015 oder 2025 oder später passiert. Sehr lange also wurde das Auto kontinuierlich verbessert, verfeinert, veredelt. Jetzt wird es verändert, substantiell in seinen Grundfunktionen. Am Beispiel vieler anderer Branchen lässt sich erahnen, dass diese Veränderungen wesentlich größer sind, als man es im Moment noch von innen vermutet. Das mögen Teilzeitvisionäre zwar schon immer behauptet haben, aber dieses Mal scheint es anders. Die Fahrerin oder der Fahrer stellen bisher den absoluten Bezugspunkt des Prinzips Auto dar – wenn sie wegfallen, weil ein vernetzter Computer fährt, ändert sich praktisch alles. Selbst der gängige Überbegriff Individualverkehr träfe nicht mehr ganz, weil überraschend das Individuum fehlt. Passend dazu wurde Anfang 2014 bekannt, dass Google ein Patent auf automatische Taxis angemeldet hat. Sie steuern kostenlos oder stark rabattiert Werbekunden an, Touren woandershin sind kostenpflichtig. Auch während der Fahrt wird man, wenig überraschend, mit Werbung konfrontiert. Die digitale Vernetzung ermöglicht völlig neue Kategorien der Automatisierung, Maschinen können auch Funktionen übernehmen, die zuvor fest in menschlicher Hand schienen. Das ist auch der größte Unterschied zwischen einem Auto des 20. Jahrhunderts und dem kommenden Auto des 21. Jahrhunderts: Es spielt in einer anderen Kategorie. Es ist nicht mehr (nur) die eigene Maschine, in die man einsteigt. Aber wenn das Individuum nicht mehr der Bezugspunkt dieser Mobilitätsmaschine ist, was dann? Die Antwort auf diese Frage ist nicht nur schwierig, sie ist auch groß. Vielleicht ist sie so groß, dass man sie kaum erkennen kann, wenn man sich mittendrin befindet. Gerade die

größten Ideen lassen sich eigentlich nur retrospektiv erkennen. Während sie beginnen, steht man einfach da und bemerkt nicht, dass man Teil einer globalen Weltveränderung ist. Deshalb hilft der Rückgriff auf die Geschichte, um Parallelen zu ziehen und damit über Bande herauszufinden, was heute geschieht. Oder sich dem zumindest anzunähern. Wenn man annimmt, dass die gegenwärtige Veränderung des Autos – diese Kategorieverschiebung, diese Öffnung einer ganz neuen Auto-Sphäre – etwa so groß ist wie die Erfindung des Autos, entdeckt man eine interessante Spur. Anfang des 20. Jahrhunderts fing das Auto an, von der bloßen Technologie zur gesellschaftsverändernden Idee zu werden. Als Ford 1913 die Fließbandproduktion startete, wurde das Auto zum Massenphänomen, das buchstäblich und oft beschrieben das Antlitz der Städte völlig verwandelte. Das ist der entscheidende Punkt: die Beziehung zwischen dem wichtigsten Verkehrsmittel, dem Auto – und dem Ort, an dem es stattfindet, der Stadt. Der damalige Bezugspunkt des Automobils war die Stadt, sie wurde um das Auto herum angelegt. Dann folgte einhundert Jahre lang der Mensch, bevor es jetzt wieder die Stadt wird. Der digitalen Vernetzung wegen. Gewissermaßen bewegt sich das Auto weg vom Fahrenden, hin zur Stadt, und schon deshalb ergibt sich ein völlig neues, zusätzliches Funktionsspektrum für die Autostadt. Sie wird zur Metapher der automobilen Zukunft, was gleichzeitig ein großes Versprechen ist und eine Herausforderung. Denn Versprechen haben die energieaufwendige Eigenschaft, eingelöst werden zu wollen. Oder vielmehr eingelöst werden zu müssen. Schon heute im Alltag lässt sich die Bewegung des Autos vom Fahrer hin zur Stadt mit Hilfe der digitalen Vernetzung leicht erkennen. Der große, anhaltende Trend Car Sharing macht das Auto zu einer Art mobilem Stadtmöbel. Es gehört nicht mehr zum Fahrer, sondern zur urbanen Infrastruktur. Ein erstes, überdeutliches Anzeichen für die Bewegung des Autos hin zur Stadt. Die Autostadt ist heute dafür aufgebaut, die Idee des Autos zu erfahren. Probefahrten kann man überall machen, aber um eine Idee in ihrem ganzen, großen Wesen wahrzunehmen, braucht es natürlich mehr. Ungefähr so, wie die Chinesische Mauer imposant wirkt, wenn man drauf steht. Ihre eigentliche Wesensidee, nämlich ihre weltwunderhafte Größe, lässt sich

Linke Seite: Sascha Lobo in der Ausstellung LEVEL GREEN, die dem Thema Nachhaltigkeit gewidmet ist

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MOBILITÄT

Rechte Seite: Sascha Lobo in einem der beiden Autotürme, den Wahrzeichen der Autostadt. In den 48 Meter hohen Zylindern warten bis zu 800 Neuwagen auf ihre Abholung

aber erst erahnen, wenn man von sehr weit oben daraufschaut und die über 4000 Kilometer Länge realisiert. Wenn sich aber die Idee des Autos so sehr verändert, wird sich auch die Idee der Autostadt verändern müssen. Das ist nichts Schlechtes, im Gegenteil, es ist ja längst klargeworden, dass das Auto sich in Richtung Stadt entwickelt. Das Auto kommt der Stadt also entgegen. Die konkrete Weiterentwicklung der Autostadt hängt von der Weiterentwicklung des Autos selbst ab. Und da lässt sich eine Richtung feststellen, die sich ebenso abenteuerlich anhören mag, wie sie unausweichlich erscheint: Autohersteller müssen Softwareunternehmen werden. Dabei geht es nicht darum, die Hardware abzuschaffen oder irrelevant zu machen – sondern darum, die Hoheit über die Idee Auto zu behalten. Und damit auch über den Wirtschaftszweig Auto. Den heutigen Interfaces fast der gesamten Automobillandschaft merkt man an, dass sie von der Armatur abstammen. Sie erscheinen wie ein abgefilmtes Theaterstück, das ein Kinofilm sein will. Aber eine Generation, die mit dem iPhone aufgewachsen ist, wird schon bald ähnliche Ansprüche an die Bedienbarkeit ihrer Autos stellen. Mit dem Eintritt in die digitale Sphäre (was die Benutzeroberfläche angeht) konkurrieren Autohersteller mit einem Mal mit denjenigen Unternehmen, die die anderen häufig benutzten digitalen Oberflächen gestalten: Smartphones, Tablets, Laptops, in Zukunft digitale Brillen und vernetzte Armbanduhren. Mit einer neuen App oder einem iPad-Halter in der Mittelkonsole ist es da nicht getan. Das Ziel ist vielmehr, auf den Tag vorbereitet zu sein, wenn Autos der Software wegen gekauft werden. Auch das hört sich für die Mehrheit der Bevölkerung allzu nerdig bis verschroben an. Spätestens aber, wenn das eine Auto ein Betriebssystem beinhaltet, das den Wagen von selbst ans Ziel bringt, das andere aber nicht – wird die Software zum kaufentscheidenden Kriterium. Erst recht, weil ein wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Rattenschwanz daran hängt, von anderen, günstigeren Versi-

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cherungstarifen bis zur nahtlosen Integration in die digitale Geräte- und Dienstelandschaft der Nutzer. Aus dieser Perspektive ist auch eine Kooperation mit Google zur Integration des Smartphone-Betriebssystems Android ins Auto zu bewerten. Es mag sich um ein interessantes Experiment handeln, aber es ist auch ein Spiel mit dem, was die Idee des Autos in Zukunft ausmacht. Und Spiele haben die unangenehme Eigenschaft, dass sie verloren werden können. Abgesehen davon, dass das vernetzte Auto mit seinen Aberhunderten Sensoren zum steten Quell intimster Daten wird, wofür ein eigener, kulturell adäquater Umgang gefunden werden muss. Diese Aussicht muss ein Antrieb sein, und mit Antrieben kennt man sich ja aus in der Autostadt. Dort heißt die Herausforderung konkret, auch für das Auto der Zukunft Autostadt sein zu können. Wenn das Auto zu der Maschine wird, deren Produktkern vernetzte Software ist, muss die Autostadt das ins Urbane übersetzen. Das funktioniert selbstredend nicht, indem fünf Dutzend 3D-Flatscreens aufgestellt werden. Es funktioniert vielmehr, indem dort heute schon inszeniert wird, wie sich die Idee Auto in Zukunft anfühlen wird. Und indem jeder Besuch in der Autostadt nicht nur das Auto erlebbar macht in all seinen Facetten. Sondern die Besucher auch spüren lässt, wohin die Reise geht. Die Autoreise.

REFLEXIONEN

Sascha Lobo ist Autor, Medienexper te und Preisträger des Grimme Online Award. Auf Spiegel Online erscheint seine Kolumne „Mensch-Maschine“. Lobo schrieb mehrere Sachbücher, die sich alle mit den Themen Arbeit, Netz und Gesellschaft befassen. 2012 veröffentlichte er mit Kathrin Passig das Buch „Internet – Segen oder Fluch”. Zurzeit will er mit seinem Verlag Sobooks das Buch neu er finden. Sascha Lobo wurde 1975 in Berlin geboren.


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