5 minute read

«Lehre, Forschung und Praxis sind im Verbund gleichwertig»

Einer der klassischen Orte, wo sich HSG-Alumnae und -Alumni und Studierende begegnen, ist die Lehre. Ob als Lehrbeauftragte oder als referierende Gäste in einem Seminar oder in einer Vorlesung: HSG-Absolvent:innen lassen an ihrer Erfahrung in der Praxis teilhaben. Wie das aus pädagogisch-didaktischer Sicht einzuschätzen ist, erläutert Professor Roman Capaul im Gespräch mit «alma».

Interview: Roger Tinner; Bild: Sandro Breu

Roman Capaul, als langjähriger Verantwortlicher für das Assessmentjahr und Wirtschaftspädagoge beschäftigst du dich grundsätzlich mit der Frage, wie Lehren und Lernen am besten funktioniert. Was sind deine Haupterkenntnisse für die Stufe Universität?

Was die HSG ausmacht, ist der Verbund von Lehre, Praxis und Forschung. In diesem Dreieck entsteht sehr viel Fruchtbares: In der Praxis zeigen sich Problemstellungen, die man in der Forschung analysiert und auf die man Antworten sucht. Aus beiden Bereichen strömen Impulse, welche die Lehre bereichern. Diese drei Elemente erachte ich als gleichwertig, und sie sind aufeinander angewiesen. Lerntheoretisch betrachtet, werden den Studierenden Theorien und Modelle bewusster, wenn sie deren Relevanz und den Bezug zum Praxisfeld sehen. Bei Recht und Betriebswirtschaftslehre legen wir in der wirtschaftspädagogischen Ausbildung grossen Wert auf problemorientierte Unterrichtseinstiege, welche die Jugendlichen betreffen oder in Wirtschaft und Gesellschaft zu beobachten sind. Denn Lernen beginnt mit Fragen, auf die wir aus der Theorie heraus Antworten zu finden versuchen. Dieser didaktische Ansatz hat für alle Stufen Gültigkeit.

Und wie wird das konkret umgesetzt?

Ideal ist es, wenn man Praxis und Lernen nicht nur kognitiv verbinden kann, sondern das Lernen auch mit emotionalen Erfahrungen verbunden ist: Zum Beispiel in einem realen Projekt, in dem man Erfolge feiern und Sinn stiften kann. Wir setzen daher Methoden wie Projekte, Planspiele, Rollenspiele, Fallstudien (Integrationsfallstudien) ein, weil sie auch affektives Lernen ermöglichen. Das Lernen geht dann tiefer und ist wirksamer. Das bestätigen auch die Studierenden, die sich in Vereinen, als Tutor:innen in der Startwoche oder beim St.Gallen Symposium engagieren: Diese realen Projekte sind für sie extrem lehrreich und bringen unvergessliche Lernerlebnisse. Nebst Sach- werden auch Sozial- und Selbstkompetenzen gefördert. Zudem realisieren sie dabei: «Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie» (Kurt Lewin).

Welche Ziele sollen dabei erreicht werden?

Theorie allein ist träges Wissen. Durch den Transfer von Wissen in Praxissituationen erreichen wir eine Art höhere Stufe des Lernens, also Verstehen und Beurteilungsfähigkeit. Ziel der Universität ist es, unsere Absolvent:innen zu einer vertieften Gesellschaftsreife zu führen, damit sie später Verantwortung übernehmen und arbeitsmarktfähig sind. Dafür braucht es entlang des Studiums eine Hinführung zur Praxis. Dass viele Studierende heute neben dem Studium in Teilzeitjobs arbeiten – an der HSG, in Instituten oder in Unternehmen – ist ebenfalls nützlich.

Wo hat sich das Lehr- und Lernverständnis an der HSG in den letzten Jahren gewandelt und wo ist es stabil geblieben?

Der Kern unseres Lehrverständnisses hat sich nicht verändert: Die didaktische Grundidee und das genannte fruchtbare Dreieck sind stabil geblieben. Dynamisch gewandelt haben sich jedoch die Ausprägungen. Wissensentwicklung und Forschungsmethoden sind differenzierter geworden. In dieses Dreieck fliessen laufend neue Fragestellungen und Herausforderungen, und zwar mit hoher Geschwindigkeit. Denken wir nur an die KI.

Wie wird denn die Praxis konkret in die Ausbildung an der HSG geholt? Fängt das schon im Assessmentjahr an oder geht es dort eher um Theorie?

Der Einbezug der Praxis fängt schon bei den Lernzielen der Lehrveranstaltungen an, und das bereits im Assessmentjahr: Sie sind im Hinblick auf die Bewältigung von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen gewählt. Die Inhalte in den Disziplinen orientieren sich an aktuellen Problemstellungen: z.B. Geldpolitik, Auswirkungen von Zöllen auf Lieferketten, Revision von Gesetzen,

Auswirkungen von KI auf Geschäftsmodelle. Im Lehrkörper haben wir viele Praktiker:innen – so ist zum Beispiel Ständeratspräsident Andrea Caroni seit vielen Jahren Übungsleiter für öffentliches Recht im Assessmentjahr, um nur ein besonders prominentes Beispiel zu nennen.

Wie sind deine persönlichen Erfahrungen mit Auftritten oder auch Lehraufträgen, die Leute aus der Praxis – meist ohne pädagogische Ausbildung – wahrnehmen?

Es gibt verschiedene Formen wie zum Beispiel das Input-Referat mit Diskussion, was ich aber eher ergänzend sehe. Was die HSG-Lehre wirklich stark trägt, sind jene Praktiker:innen, die ein Semester lang unterrichten. Im Assessment-Jahr etwa sind rund 250 Leute in der Lehre beteiligt, davon sind zahlreiche aus der Praxis. Diese Lehrbeauftragten werden wie alle Übungsleitungen gebrieft und bekommen die Lehrmaterialien. Zahlreiche Praktiker:innen unterrichten mit Leidenschaft und engagieren sich zum Teil seit Jahrzehnten. Wenn sich jemand didaktisch unsicher fühlt, bieten wir einen informellen Austausch an, auch eine Peerto-Peer-Begleitung ist möglich. Der Unterricht wird im Rahmen des Qualitätssystem überprüft, «abgehobene Praxis» oder «Überflieger» sind in den Bewertungen sichtbar. Die Studierenden sind so geschützt und können von einer guten Lehre profitieren.

Mit Blick in die Zukunft: Ist die Integration von Praxis-Erfahrung in die Lehre auch zukünftig so wichtig wie heute, wird sie wichtiger oder gibt es andere Entwicklungen in der Betriebswirtschaftslehre, also in der Vermittlung des Wissens in der Unternehmensführung?

Aus einer institutionellen Sicht bleibt das Dreieck von Forschung, Lehre und Praxis gleich wichtig. Die Künstliche Intelligenz wird in diesem Dreieck noch ungeahnte Dynamiken auslösen. Eine grosse Herausforderung sehe ich eher darin, dass man – wohl anders als früher – auf der individuellen Ebene nicht mehr sowohl in der Forschung, Lehre und Praxis gleichzeitig herausragende Leistungen liefern kann. Auf der individuellen Ebene werden wahrscheinlich Fokussierungen erforderlich.

Roman Capaul ist langjähriger Verantwortlicher für die HSG-Startwoche und das Assessmentjahr.
This article is from: