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Über die Töchterschule zur Bundesgerichtspräsidentin

Aufgewachsen ist sie als Kind einer Käserfamilie auf dem Land in Muolen in der Nähe von St.Gallen. Vor 40 Jahren hat sie an der HSG doktoriert und seit Mitte 2021 steht sie nach 98 Männern als erste Frau an der Spitze des Bundesgerichts: Martha Niquille-Eberle. In ihrer einmaligen Laufbahn war sie in vielen Funktionen die erste Frau. Dies, obwohl sie von sich selber sagt: «Ich bin keine bewusste Frauenrechtlerin und habe einfach versucht, meinen Weg zu gehen, den ich für mich und wir gemeinsam für unsere Familie als den richtigen angesehen haben.»

Autor: Roger Tinner; Bild: Dominique Schütz

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Ihr Curriculum vitae auf der Website des Bundesgerichts ist so trocken formuliert wie ein Steckbrief: Geboren am 27. August 1954. Bürgerin von Wittenbach SG, Häggenschwil SG und Charmey FR. Studien in St.Gallen. 1982 Doktorat. 1984 St.Gallisches Anwaltspatent. 1979 – 1981 Assistentin für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität St.Gallen. 1984 – 1988 Rechtsanwältin in St.Gallen. 1987– 1993 Lehrbeauftragte (Obligationenrecht) an der Universität St.Gallen und nebenamtliche Richterin am Kantonsgericht St.Gallen. Seit 1993 Richterin am Kantonsgericht St.Gallen (II. und III. Zivilkammer, Handelsgericht). 2005 – 2007 Präsidentin des Kantonsgerichts. Wahl zur Bundesrichterin am 1. Oktober 2008. Vizepräsidentin des Bundesgerichts (2017 – 2020). Präsidentin des Bundesgerichts ab 2021. Die Mitte.

Siebeneinhalb Zeilen für ein ganzes (Berufs-)Leben, das seinesgleichen sucht, wie sich im Gespräch mit «alma» zeigt. Martha Niquille-Eberle, die als Wochenaufenthalterin in Lausanne ihrem Wohnort St.Gallen treu geblieben ist, zeigt sich auf der Terrasse des «Café News» so bescheiden wie zielstrebig. Eine Stunde an diesem Samstagmorgen muss reichen, um mehr über ihre Person, ihre Karriere und ihren Bezug zum Schwerpunkt-Thema des Hefts, «Entscheiden», zu erfahren. Die Ehrensenatorin der HSG fliegt zwar unter dem Radar der breiten Öffentlichkeit, hat aber mit ihrer Erfahrung und Kompetenz viel zu sagen.

Haushaltsjahr vor Gymnasium

Es hört sich heute wunderlich an, wenn Martha Niquille von ihrer Kindheit und schulischen Grundausbildung erzählt, die sie trotz sanktgallischem Wohnort im Kanton Thurgau absolviert hat: «Die Mädchen hatten in der Sekundarschule damals Hauswirtschafts- statt Geometrie-Unterricht, und ohne Geometrie konnte man nicht ins Lehrerseminar oder die Kanti gehen.» So kam der erste Berufswunsch «Lehrerin» nicht in Frage, stattdessen ging es für ein Haushaltsjahr in die Westschweiz. Zurück in St.Gallen absolvierte sie an der damaligen «Töchterschule Talhof» eine kaufmännische Ausbildung. Hier erkannte einer der Lehrer ihr Potenzial für eine höhere Ausbildung, sie erhielt die damals eigentlich nicht vorgesehene Möglichkeit, in einer individuellen Prüfung den Einstieg ins Wirtschaftsgymnasium zu schaffen – was ihr dank grosser Motivation auch gelang.

Dass sie anschliessend an die nahe gelegene HSG ging, hatte unter anderem damit zu tun, dass die Uni überschaubar war und eine breite interdispziplinäre Ausbildung bot: «Im staatswissenschaftlichen Studium war mir noch nicht klar, dass ich am Ende Anwältin und Richterin sein würde. Und später war ich als Juristin immer wieder froh, dass ich in den wirtschaftswissenschaftlichen Fächern auch einmal gelernt hatte, wie eine Bilanz zu lesen ist.» Ihr Interesse während des Studiums lag im öffentlichen Recht, so dass sie später Assistentin des HSG-Staatsrechtlers Yvo Hangartner wurde (als erste Frau übrigens) und bei ihm auch doktorierte – mit Auszeichnung.

Für Vereinbarkeit gesorgt

Gemeinsam mit ihrem Mann, den sie an der HSG kennengelernt hatte, gründete sie eine Familie und bekam zwei Söhne. Die in dieser Zeit ausgeübte nebenamtliche Richtertätigkeit und die Lehraufträge an der HSG waren damit gut vereinbar, doch dann kam die Anfrage für eine Kandidatur als vollamtliche Kantonsrichterin, als der jüngere Sohn noch im Vor-Kindergarten-Alter war. Gemäss damaligem Gerichtsgesetz war dieses Amt allerdings eine 100-Prozent- Stelle. Sie kandidierte trotzdem, jedoch nur unter der Bedingung, dass sie das Amt in einem 80-Prozent-Pensum ausüben könne. Die Wahl gelang, das Gerichtsgesetz wurde später entsprechend geändert. Und Martha konnte die Aufgabe dank Aufteilung der Kinderbetreuung mit ihrem Mann, mit Abend- und Samstagarbeit bewältigen. Rückblickend sagt sie jedoch auch: «Es war schon ein Lupf.»

Und damit zum Interview:

Du bist nach fast 100 Männern die erste Frau, die das Bundesgericht präsidiert. Was bedeutet das für dich und was für die Frauen? Fühlst du dich als Pionierin?

Ich bin keine bewusste Frauenrechtlerin. Ich habe einfach versucht, meinen Weg zu gehen, den ich für mich und wir gemeinsam für unsere Familie als den richtigen gesehen haben. Weil heute etwa zwei Fünftel der Bundesrichter:innen Frauen sind, ist es jetzt auch wahrscheinlicher als früher, dass auch mal eine Frau Bundesgerichtspräsidentin wird. Frausein allein reicht aber natürlich nicht, die Kolleg:innen müssen dich auch nominieren, und du musst auch wollen.

Über ein Haushaltsjahr und die Töchterschule zur Bundesgerichtspräsidentin in Lausanne – wie ist dieser Weg in der Rückschau zustande gekommen? Wo hast du oder wo haben andere die entscheidenden Weichen gestellt?

Meine grösste Herausforderung war rückblickend sicherlich die Aufnahmeprüfung an die Kanti. Ich habe auch andere Anstrengungen oder auch Doppelbelastungen nie gescheut, so dass mein Weg wohl am Ende doch kein Zufall war. Aber ich habe auch immer wieder viel Unterstützung erfahren dürfen, sei es durch meinen damaligen Lehrer an der Töchterschule, meinen Doktorvater und viele mehr. Mir haben aber auch die beruflichen Wechsel – von der Anwältin zur Richterin, vom Kantonsgericht ans Bundesgericht –gefallen. Etwas Neues anzupacken – das fand ich spannend.

Was sind die positiven Seiten an deiner heutigen Funktion, was die eher schwierigen?

Als Präsidentin stellen sich für mich andere Herausforderungen wie als Richterin. Positiv sehe ich, dass ich mehr Kontakt nach aussen habe. Nun kann ich die Interessen des Gerichts zum Beispiel auch dem Parlament und Kommissionen gegenüber vertreten. Gleichzeitig vermisse ich aber die eigentliche Richtertätigkeit, denn ich kann weniger Referate – also den Lead – in Gerichtsfällen übernehmen. Zudem ist die laufende Reorganisation des Bundesgerichts eine grosse Aufgabe.

Und nun zum Thema «Entscheidungen». Forschungen zufolge fällt jeder Mensch jeden Tag mehrere hundert Entscheidungen – bewusste und unbewusste. Hast du einen speziellen Bezug zu diesem Thema?

Ein Gericht muss am Ende immer einen Entscheid fällen. Dabei geht es aus meiner Sicht weniger um Entscheidungsfreude, als um eine gesetzliche Pflicht. Beim Bundesgericht ist diese mit dem Wissen darum verbunden, dass man bei ganz wichtigen Fragen etwas zu sagen hat. Bei uns geht es oftmals um praxisbildende, grundsätzliche Entscheidungen. Das ist eine grosse Verantwortung und eine grosse Last – aber es befriedigt auch. Es ist herausfordernd und spannend, hier mitzuwirken. Am Bundesgericht werden die Urteile in der Regel in einer Besetzung von drei oder fünf Gerichtsmitgliedern gefällt. Die einzelne Richterin, der einzelne Richter entscheidet also nicht für sich alleine über den Ausgang eines Falles. Im Richterkollegium ist statt einem Willen, ein anvisiertes Ergebnis zu bestimmen eher die Fähigkeit gefordert, im kollegialen Diskurs zu einem Entscheid zu gelangen.

Von Richterinnen und Richtern erwarten alle Beteiligten auf jeden Fall eines: einen Entscheid. Gewöhnt man/frau sich als Richter:in an diese grundsätzliche Erwartung?

Wenn man als Einzelrichter:in etwa an einem Kreisgericht wirkt und den Menschen direkt gegenüber sitzt, ist das natürlich etwas Anderes, als wenn man in der dritten Instanz tätig ist. Wir haben primär schriftlichen Austausch mit den Rechtsuchenden und erleben ihre Emotionen, Erwartungen und Hoffnungen nicht unmittelbar. Es gibt aber selbstverständlich auch bei uns immer wieder Fälle, die einem persönlich nahe gehen, auch wenn man nur die Akten sieht. Mit den Erwartungen der Rechtsuchenden muss man umgehen können. Jede Partei, die den Weg über die Instanzen ans Bundesgericht gegangen ist, hofft auf einen für sie positiven Ausgang des Verfahrens. Es liegt in der Sache, dass wir diese Erwartung nicht bei beiden Streitparteien erfüllen können. Zu beachten ist auch, dass sich das Bundesgericht – seltene Ausnahmen vorbehalten – ausschliesslich mit Rechtsfragen befassen darf. Viele Rechtsuchende gelangen mit der falschen Erwartung ans Bundesgericht, dass dieses den Fall von Grund auf neu aufrollt, also auch Sachverhaltsfragen neu beurteilt. Das enspricht jedoch nicht der gesetzlichen Aufgabe des Bundesgerichts.

Hat sich dein täglicher Umgang mit (Gerichts-) Entscheiden bei Entscheidungen im Alltag als Vorteil erwiesen oder entscheidest du privat eher wie wir Nicht-Richter:innen oft auch spontan?

Ich bin schon jemand, der die Dinge genau anschaut und sich Grundlagen für eine Entscheidung beschafft. Aber es kommt natürlich auf die Tragweite an. Während es bei Gerichtsentscheiden wichtig ist, sich genügend Zeit zu nehmen, darf im Alltag zum Beispiel ein Schuhkauf doch spontan erfolgen. Das ist auch bei mir nicht anders.

Was zeichnet aus deiner Sicht einen guten Entscheid aus?

Ein guter (Gerichts-)Entscheid ist logisch aufgebaut, nachvollziehbar, verständlich und natürlich aus juristischer Warte lege artis. Bei der Entscheidfindung sollen möglichst alle Aspekte berücksichtigt werden, ebenso wie die gesetzlichen Grundlagen und die Lehrmeinungen – auch die kritischen. Die Argumente der Parteien sind sorgfältig zu prüfen und abzuwägen. Im besten Fall ist der Entscheid auch für die unterlegene Partei nachvollziehbar. Wichtig ist auch die Sprache. Natürlich verwenden die Juristen eine spezielle Sprache. Trotz vorgegebener Termini aus dem Gesetz und der Rechtswissenschaft müssen wir aber stets darum besorgt sein, dass man uns versteht.

Eine «gute» Entscheidung eines Gerichts heisst für das Publikum oder die Öffentlichkeit wohl vor allem, dass sie «gerecht» ist – wobei diese Einschätzung dann oft von der Perspektive abhängig ist. Was gehört für dich zur Gerechtigkeit?

Das ist die schwierigste Frage von allen: Geht es um soziale oder politische Gerechtigkeit? Die meisten Rechtsuchenden empfinden ihre Sicht der Dinge als die gerechte. Ein Gerichtsentscheid bewegt sich ja immer in dem Rahmen, den das Gesetz vorgibt. Grundlegende Entscheide, was gesellschaftlich «richtig» ist – welchen Interessen mehr und welchen weniger Rechnung getragen wird – trifft der Gesetzgeber. Aber natürlich bleiben Spielräume und selbstverständlich sind wir uns auch am Bundesgericht nicht immer einig. Jedes Gerichsmitglied bringt seinen eigenen Wertungshintergrund mit. Gerade der offene und konstruktive Diskurs trägt aber massgeblich dazu bei, dass am Ende ein gerechter Entscheid resultiert. Wesentlich hierfür ist auch, dass die Entscheide der Gerichte auf rechtsstaatlichen Verfahren beruhen und das über zwei oder allenfalls drei Instanzen. Die Richter und die Richterinnen üben ihr Amt transparent, unabhängig und nach bestem Wissen und Gewissen aus.

Eine grundsätzliche Entscheidung, die viele Frauen bis heute sehr beschäftigt, ist jene zwischen beruflicher Laufbahn und Familie. Wie siehst du das mit der Vereinbarkeit?

Als ich doktoriert habe und Anwältin war, wusste ich auch noch nicht, ob das mit der Familie vereinbar sein würde. Die Frage ist bis heute schwierig, aber immerhin ist es für Männer etwas einfacher geworden, sich in der Familienarbeit ebenfalls mehr einzubringen und das hilft. Mein Mann hätte wohl damals sein Pensum nicht reduzieren können, heute machen das viele junge Väter.

Zum Schluss ganz spontan: Was war der beste Entscheid in deinem Leben?

Dass wir uns gemeinsam entschieden haben, trotz unserer beruflichen Belastung Kinder zu haben.