LAMBDA-Nachrichten 1.2017

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Der „Naschmarkt-Poidl“ und das Ester Am 17. November 1944 suchte Kriminalsekretär Karl Seiringer – laut Protokoll – im Zuge einer Observierung um 16.20 Uhr die Dampfkammer des Esterházybads an der Gumpendorfer Straße auf und traf dort nächst der Eingangstür links stehend auf den Hilfsarbeiter Leopold Feitendorf und den Werkmeister Franz Pluskal, die er durch ca 1 Minute bei wechselseitiger Onanie beobachten konnte. Die beiden und zwei weitere Männer, die ebenfalls in flagranti bei homosexuellen Handlungen erwischt wurden, wurden festgenommen. Dieser Fall gibt interessante Einblicke in die Ermittlungs- und Gerichtspraxis der letzten Kriegsmonate und der unmittelbaren Nachkriegszeit. Karl Seiringer und seine Kollegen von der Kriminalpolizei, die offenbar mit durchaus persönlichem Einsatz homosexuelle Männer verfolgten, kamen regelmäßig in das wegen umfangreicher homosexueller Umtriebe bereits vielfach bekanntgewordene Esterházybad, um dort Männer beim Sex zu beobachten und danach festzunehmen. Es gibt keinen Ort in Wien, wo in der NS-Zeit mehr Männer verhaftet worden wären als hier. Wehrmachtsangehörigen war der Besuch des Bades verboten. Im Polizeiverhör gestand der 58-jährige Feitendorf, dass er mit einigen unbekannten Männern im Esterházy-, aber auch Römer- und Margarethenbad onanierte. Namentlich gab er auch seinen 68-jährigen Vermieter Mathias Schuh als Sexpartner an, der sofort verhaftet wurde. Schuh wies im Verhör aber jede sexuelle Verfehlung entschieden zurück, der bereits acht Mal (davon zweimal wegen Unzucht wider die Natur) vorbestrafte Feitendorf blieb aber bei seiner Behauptung. Im Zuge einer Gegenüberstellung nannte er einen „Naschmarkt-Poidl“ als weiteren Sexpartner von Schuh. So zog der Fall seine Kreise. Zu den ursprünglich Verhafteten waren rasch zwei weitere Verdächtige dazugekommen, denn der Poidl war bald als Leopold Müller ausgeforscht, der als Magazineur am Naschmarkt arbeitete. Der 52-Jährige gestand im Polizeiverhör mit Karl Seiringer, dass er Schuh im Margarethenbad

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kennengelernt hätte. Da er sehr arm sei, habe er ihm Obst und Gemüse vom Markt gebracht. Bei dieser Gelegenheit ging er mich zur gleichgeschlechtlichen Betätigung an. Wie bereits erwähnt, ist er nicht mein Fall. Ich wollte ihn aber nicht zurückweisen und so haben wir uns gegenseitig „einen“ ’runtergerissen. Karl Müller, alias „Naschmarkt-Poidl“, ein einfacher Marktarbeiter, war den Verhörmethoden Karl Seiringers nicht gewachsen: Ich bin von Jugend an homosexuell, und habe mich geschlechtlich seither nur mit Männern betätigt. … Ich habe die Männer gelegentlich in Gaststätten auf der Straße und am Naschmarkt, wo ich seit meiner Jugend beschäftigt bin, kennengelernt. Seiringer war in der Kripo Abteilung II B 2, die für die Verfolgung Homosexueller zuständig war, und schaffte es, aus Verdächtigen mit Drohungen und Nötigungen Geständnisse herauszupressen. Folgenschwerer waren für Müller aber folgende Aussagen: Mit diesen Männern ist es stets nur ein bis 2 mal zu geschlechtlichen Handlungen gekommen. Seit ca 15 Jahren gehe ich in das „Margarethenbad“, innerhalb dieser 15 Jahre habe ich mich im genannten Bade durchschnittlich mit ca 25 bis 30 Männern, das sind insgesamt 350 Männer geschlechtlich betätigt. Dieser Ausschnitt aus dem Verhörprotokoll zeigt deutlich, dass diese sehr differenziert gelesen werden müssen. Ist eine Aussage wie, dass er sich mit Schuh „einen“ ’runtergerissen habe, sehr deutlich eine Formulierung des Verdächtigen, handelt es sich bei der zuletzt zitierten Passage um eine Zusammenfassung und Hochrechnung des verhörenden Beamten, der ein Verhör von unbekannter Dauer vorausgegangen ist. In einer späteren Vernehmung durch den Untersuchungsrichter, bei der ihm auch ein Anwalt zur Seite steht, was in den Verfahren gegen homosexueller Handlungen verdächtigter Männer in der NS-Zeit eher die Ausnahme ist, wird Müller dann auch bestreiten, dass er gleichgeschlechtliche Kontakte mit 350 Männern gestanden habe: Ich betone nochmals mit

größter Entschiedenheit, daß ich keineswegs mit so viel Männern zu tun hatte (350) wie es der Polizeibeamte aufgeschrieben hat. … Der Beamte hat mir alles vorgesagt und ich habe es ihm nachgesagt bezw. „ja“ gesagt. Wie zahlreiche andere Beispiele belegen, war Karl Seiringer in seinen Verhören darauf erpicht, den Verdächtigten möglichst viele Sexualpartner „nachzuweisen“ – in einem anderen Fall errechnete er 1.500 Partner, was der Angeklagte in seinem Prozess ebenfalls heftig bestritt. Mit der 1941 durchgeführten „Änderung des Reichsstrafgesetzbuches“ (§ 1) konnten „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ und „Sittlichkeitsverbrecher“ vor ein Sondergericht gestellt werden, das als Höchststrafe die Todesstrafe vorsah. Weil Feitendorfer bereits acht Vorstrafen und das dritte Verfahren nach § 129 I b, der seit 1852 Homosexualität strafrechtlich verfolgte, und Müller mit geschätzten 350 Männern Sex hatte, wurden beide Verfahren von der Staatsanwaltschaft an das Sondergericht Wien abgegeben, das diese aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen aber wieder an das Landesgericht zurückverwies. Für beide ein Glück, denn das Wiener Sondergericht sprach nachweislich mindestens drei Todesurteile wegen des Verbrechens der Unzucht wider die Natur aus. Aus den Strafakten lassen sich aber auch oft lebensgeschichtliche Zusammenhänge über die Verdächtigten rekonstruieren. Der „Naschmarkt-Poidl“ war das elfte von zwölf Kindern eines Fleischhauers, der aber schon starb, als Leopold sechs Jahre alt war. Er sei damals Kutscher gewesen und habe bei verschiedenen Leuten als Bettgeher gewohnt. Nach vier Jahren als Soldat im Ersten Weltkrieg begann er am Naschmarkt als Magazineur zu arbeiten und war in diesem Umfeld offenbar auch bekannt, wie die rasche Auflösung seines Spitznamens durch die Kripo zeigt. Auch sein Arbeitgeber dürfte mit ihm zufrieden gewesen sein, denn er kümmerte sich darum, dass Müller beim Verfahren ein Anwalt zur Seite stand.


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