LAMBDA-Nachrichten 3.2014

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mühelos schrieb und veröffentlichte dieser Autor eine phantastische Geschichte nach der anderen und heimste zahlreiche Literaturpreise im SF-Universum ein. Doch niemand bekam ihn zu Gesicht, von ihm existierten nur ein Postfach und ein Bankkonto.

Doch dieses Pseudonym genügte Alice nicht mehr, und sie „erfand“ Racoona Sheldon. Nach dem Tod ihrer Mutter 1976 flog ihre Tarnung auf. Schwere Krankheiten und starke Depressionen sowie die zunehmende Hinfälligkeit ihres Ehemannes verdüsterten immer mehr Alices Leben;

ten Feinheiten des literarischen Stils. Sicher erwies sich die Wahl des Pseudonyms für Alice zunächst als Freiraum, als literarischer Raum für sich selbst, in dem sie vieles von dem formulierte, was eine akademisch gebildete und wohlerzogene „feine Dame“ einfach nicht auf PaFOTO: FRANKLIN BERKOWITZ

heiratete sie ihren Vorgesetzten Colonel Huntington Sheldon. Beide betrieben später eine letztlich nicht sehr erfolgreiche Kükenzucht, und der Ehemann kehrte wieder zur CIA zurück. Nach einer kurzen Phase bei dieser Organisation studierte Alice Psychologie bis zur Promotion. Ihr Bestreben, wissenschaftlich zu arbeiten, führte sie in eine auch persönliche Sackgasse, sie nahm Medikamente, u. a. gegen ihre Depressionen, und wurde schließlich lebenslang abhängig. Auch ihre wissenschaftlichen Arbeiten und ihre universitäre Lehrtätigkeit überfrachtete sie mit zu hohen perfektionistischen Ansprüchen, und sie passte auch überhaupt nicht in den damaligen wissenschaftlichen Mainstream der Psychologie von Behaviorismus und Rattenexperimenten.

„Ich wäre gern etwas Eigenes“ Und da war dann die Science Fiction, in deren literarischen Kosmos Alice schon seit ihrer Kindheit eingetaucht war und in deren Genre sie sich sicher fühlte. Um nicht ihren Ruf als ernsthafte Wissenschafterin aufs Spiel zu setzen, kreierte sie ihr Pseudonym James Tiptree Jr., unter dem sie ihre ersten Storys bei diversen SF-Magazinen einreichte. Ein männliches Pseudonym war nicht ungewöhnlich bei Frauen, die sich in einem männlich dominierten Genre durchzusetzen versuchten, aber für Alice nahm dieses eine starke und unvorhergesehene Bedeutung ein: Es ermöglichte ihr nicht nur das Vermeiden von Diskriminierungserfahrungen als Frau, sondern vor allem auch das Spielen und Erproben ihr bisher nicht zugänglicher soziosexueller Rollen. Scheinbar

Alice B. Sheldon alias James Tiptree Jr. bei der Retouchierung eines Fotos Mitte der 1940er Jahre Bald wurden Gerüchte laut, dass es sich bei Tiptree möglicherweise um eine Frau handeln könnte, was von SF-Koryphäen, wie etwa Robert Silverberg mit Verweis auf den „maskulinen Schreibstil“ entschieden zurückgewiesen wurde. Tiptree blieb zwar unsichtbar, schrieb aber eine Unzahl von Briefen an schreibende KollegInnen aus dem Genre, so u. a. an Philipp K. Dick, Joanna Russ und Ursula K. Le Guin (letztere vermuteten, dass Tiptree schwul sein könnte). Und in diesen Briefen flirtete Tiptree hemmungslos mit seinen Briefpartnerinnen und lebte seine einfühlsame Seite aus.

und nach einem vorab geschlossenen Selbstmordpakt erschoss die Schriftstellerin zuerst ihren Mann und danach sich selbst. Die Überraschung über Tiptrees „Enttarnung“ ist für heutige LeserInnen kaum mehr nachvollziehbar. Das SF-Genre hat sich ja in den letzten Jahrzehnten zunehmend „feminisiert“, Autorinnen sind somit keine Ausnahme mehr. Aber Vorannahmen, ja Vorurteile über sogenannt „männliches“ versus „weibliches“ Schreiben erweisen sich noch immer als hartnäckig – nicht nur in bezug auf die Themenwahl, sondern bis in die subtils-

pier zu bringen hatte, etwa Themen wie Sexualität oder Gewalt/ Tod. Doch das literarische Alter Ego erwies sich auch als zunehmend beengend.

„Hier ruht der zweitgemeinste Primat auf Erden“ Kennzeichnend für Tiptrees wie auch für Sheldons Prosa sind die für die damalige Zeit unüblichen Themen. Etwa die frühe literarische Auseinandersetzung mit genitaler Verstümmelung bei Frauen (FGM) im Roman Die Mauern der Welt hoch, dessen 1980 un-

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