LAMBDA-Nachrichten 4.2012

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Q u e (e )r s c h u s s Kurt Krickler

Endlich hat die Diskussion über die religiös motivierte Beschneidung von Knaben auch Deutschland und Österreich erreicht. Sie war hier längst überfällig. Und natürlich ist diese Debatte auch für LSBT-Personen mehr als relevant. Einerseits ganz allgemein, weil es dabei im Grunde um die weitere konsequente Zurückdrängung des Einflusses der Religionen auf Staat und Gesellschaft geht, wovon LSBT-Personen letztlich nur profitieren können, und ganz konkret andererseits, weil etwa einem beschnittenen Mann, der sich zu einer Frau umoperieren lassen will, dann entscheidende Quadratzentimeter erogener und mit vielen Nervenzellen und -enden ausgestatteter Haut fehlen, um eine Vagina auszukleiden. Eine religiös motivierte Zwangsbeschneidung von Knaben ist und bleibt eine Körperverletzung und Genitalverstümmelung. Daran gibt es nichts zu deuteln und zu beschönigen!

Sadistische Religionsausübung FOTO: Luca Faccio

kurt@lambdanachrichten.at

Solidaritätsaktion für Pussy Riot in der russisch-orthodoxen Kathedrale in Wien-Landstraße am 15. August 2012 schon wieder mitzuregieren, und sich wie eine Krake im Staat breitmacht (für mich ist das übrigens eines der größten Versagen des Kommunismus). Und welche Auswirkungen dies letztlich hat, sieht man an der Verfolgung von Pussy Riot in Russland und den inquisitorischen Anwandlungen der russisch-orthodoxen Kirche in Österreich oder Island (siehe S. 24).

Beängstigende Allianzen Dass die Vertreter der christlichen Kirchen dem Judentum und Islam in dieser Frage sofort zu Hilfe geeilt sind, obwohl sie gar nicht betroffen sind, zeigt deutlich, dass alle Religionsgemeinschaften immer stärker Morgenluft wittern und jede Chance nutzen, die Errungenschaften der Aufklärung rückgängig zu machen. Wie schnell das gehen kann, sieht man ja nur allzu deutlich in Russland, wo selbst nach 70 Jahren Kommunismus die russisch-orthodoxe Kirche nur zwei Jahrzehnte gebraucht hat, um jetzt

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Jedenfalls ist es richtiggehend beängstigend, wie hier ansonsten verfeindete und einander im wahrsten Sinne des Wortes bis aufs Blut bekämpfende Religionen plötzlich in ökumenischer Eintracht gemeinsam auf die Barrikaden steigen, um die Zwangsbeschneidung gegen die Einforderung grundlegender Menschenund Kinderrechte zu verteidigen! Die „kulturelle“ und „religiöse“ Relativierung von Menschenrech-

ten ist ja mittlerweile ein ziemlich besorgniserregendes Phänomen, das sich immer stärker auch auf internationaler Ebene bemerkbar macht. Bestimmte Staaten – und zwar objektiv betrachtet vor allem muslimisch geprägte (Halb-)Diktaturen in Asien und Afrika – versuchen schon seit längerem in unheiliger Allianz mit dem Vatikan, etwa innerhalb der Vereinten Nationen das Konzept der universellen Menschenrechte zu unterminieren, indem diese als „westlicher“ Unfug denunziert werden. Diese Länder propagieren immer massiver den Vorrang kultureller und religiöser Gruppenrechte vor individuellen Menschenrechten. Diesen Entwicklungen muss wachsam und entschieden entgegengetreten werden. Und nicht nur, wenn MigrantInnen dieses Gedankengut in westliche Demokratien tragen wollen, sondern eben gerade auch im internationalen Zusammenhang. Eine nachgiebige Haltung wäre hier zudem ein mie-

ser Verrat an jenen, die in diesen Diktaturen unter der religiösen Bevormundung und Unterdrückung leiden und die ihre Hoffnung in die Durchsetzung fundamentaler Menschenrechte setzen. Jede Relativierung dieser Rechte ist daher ein Schlag ins Gesicht dieser Menschen. Die Religionsfreiheit muss auch Freiheit von Religion bedeuten. Und wenn es gegen grundlegende Menschen- und Kinderrechte geht, erst recht. Spätestens da hat Religionsfreiheit absolut ihre Grenzen. Da darf man keinen Millimeter nachgeben – selbst wenn die Religionsvertreter in ihren hegemonialen Anwandlungen noch so sehr die Islamophobie- oder Antisemitismus-Keule schwingen! Bitte, wieder einpacken, sonst werden „islamophob“ und „antisemitisch“ noch Ehrenattribute für konsequente und bedingungslose MenschenrechtsverteidigerInnen! In Europa ist es in jahrhundertelangem Kampf gelungen, den Einfluss des christlichen Glaubens und seiner VertreterInnen auf Politik und Gesellschaft entscheidend zurückzudrängen. Etwa auch beim – mit der Beschneidung durchaus vergleichbaren – elterlichen Züchtigungsrecht. Auch das wurde schließlich abgeschafft, wiewohl dessen BefürworterInnen dieselben Argumente wie in der aktuellen Beschneidungsdebatte vorgebracht haben: ihre Elternrechte (!) und sogar religiöse Begründungen.


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