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Ran an die Arbeit! Philip Niesing

Ran an die Arbeit!

Philip Niesing

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Mit der Rubrik „Übergabe!“ will der junge Krankenpfl eger Philip Niesing einen erfrischenden Blick auf den pfl egerischen Alltag werfen. Mit dem Ausscheiden des verdienten Kollegen Bruno Hemkendreis und seiner Kolumne „Brunos Universum“ wollen wir einen jungen und hoffentlich unverstellten Blick auf den pfl egerischen Alltag werfen.

Im letzten Jahr feierte mein Klinikum sein 100-jähriges Bestehen. Ein Grund zum Feiern, aber auch ein Grund zum Nachdenken, über sich und die Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen. Denn wie jeder weiß, die deutsche Psychiatriegeschichte hat besonders dunkle Kapitel. 100 Jahre sind eine lange Zeit, in der sich die Psychiatrie im Allgemeinen und besonders das Bild von Menschen mit psychischen Erkrankungen grundlegend verändert hat.

Nun, heutzutage stellt sich die psychiatrische Pfl ege erfreulicherweise anders dar als zu den Anfangszeiten in Gütersloh. Und dass dabei gelegentlich Kreativität und ein Abweichen von einer schablonenartigen leitliniengerechten Herangehensweise gefragt ist, zeigt ein Beispiel aus der Praxis. Manchmal passen unkonventionelle Ideen besser zu einem unkonventionellen Leben.

Stefan H. (Name geändert) hat im Leben wahrlich kein Glück gehabt. Schon als Kind ist er mit Gewalt und ohne Nestwärme aufgewachsen. Sein Leben entwickelte sich zu einem Kreislauf aus Ablehnung und Haltlosigkeit. Der zunehmende Alkoholmissbrauch führte zu stationären Aufenthalten in psychiatrischen Krankenhäusern. Wurde zunächst nur der maßlose Alkoholkonsum therapiert, entwickelten sich später auch Wesensveränderungen, die Stefan H. immer wieder in der Gesellschaft anecken ließen. Frühere Beschäftigungsverhältnisse wurden durch Armut, Wohnungslosigkeit und Kriminalität abgelöst.

Stefan H. hat sich über die Jahre mit diesem Leben arrangiert. Er ist ein Überlebenskünstler geworden, der immer solange zurechtkam, bis er in der Öff entlichkeit oder in seiner Unterkunft „verhaltensauff ällig“ wurde. Ich habe Stefan H. als Menschen kennengelernt, der eine harte Schale, aber auch einen weichen Kern besitzt. Aus professioneller Sicht hat sich der Kontakt aber immer als sehr schwierig erwiesen, sodass ich mir oft die Frage gestellt habe: Was soll ich mit diesem Mann anfangen und wie lange machen meine Nerven und die meiner Kollegen und Kolleginnen das mit?

Durchgehendes lautes Reden, Unruhe, Rastlosigkeit, Distanzlosigkeit, Klauen und Aggressivität waren anhaltende Symptome. In seinem Patientenzimmer hatte er die Tapete von den Wänden gerissen. Völlig wertfrei habe ich einmal gedacht: Wie wäre es einem solchen Menschen in der Psychiatrie vor 50 oder 100 Jahren ergangen? Mit welcher heutigen pfl egerischen Expertise könnte ich einem solchen Menschen begegnen?

Natürlich ist die medikamentöse Therapie wichtig, aber damit wird man diesem Menschen, seiner Individualität und Symptomatik nur zum Teil gerecht. Wie könnte man einer weiteren Eskalation oder gar Zwangsmaßnahmen entkommen? Mit meinem (Pfl ege)Latein war ich gefühlt am Ende. Im Team stand ich damit nicht alleine dar. Aber dann machten wir eine interessante Beobachtung. Dem zuerst als Vandalismus gedeuteten Abreißen der Tapete in seinem Zimmer schien eine gewisse Systematik zu unterliegen.

Nach einer Besprechung im multiprofessionellen Team wollten wir es mit einer Art Validation probieren. Wir haben Stefan H. dann eben nicht einfach verwahrt, sondern in seiner Realität abgeholt und ihm etwas angeboten, was ihn mit Leben und Sinn erfüllt: einer sinnvollen Aufgabe. Da bekannt war, dass er früher als Maurer gearbeitet hatte, boten wir ihm an, dass Zimmer doch komplett für eine Sanierung vorzubereiten. Ihm wurden dafür Materialien zur Verfügung gestellt. In den nächsten Tagen zeigte sich eine deutliche Verbesserung der Symptomatik. Stefan H. blühte auf. Lob und Bestätigung schienen ihn zusätzlich zu motivieren. Mahlzeiten wurden regelmäßig eingenommen. Der Tag-Nacht-Rhythmus hatte sich normalisiert. Er war adhärent bei der Medikamenteneinnahme. Um den Fluss nicht zu unterbrechen, konnte er sogar noch einen Gemeinschaftsraum, der zum Rauchen genutzt wird und zur Renovierung anstand, in Eigenregie für die weiteren Arbeiten durch den Maler vorbreiten. Nach dem Ende dieser speziellen, unkonventionellen Krisenintervention konnte Stefan H. wieder in sein ambulantes Netz entlassen werden. Auch das ist Psychiatrie heute.

In diesem Sin ne, bis zum nächsten Mal Euer Philip

Philip Niesing

Gesundheits-und Krankenpfl eger, LWL-Klinikum Gütersloh

philip.niesing@gmx.de

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