HKB-Zeitung 4/2021: Perlenkette

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Student*in im Fokus

Absolvent*in im Fokus

Nora Brägger

Ariane Koch

DEZEMBER 2021

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HKB-ZEITUNG

Foto: Alex Anderfuhren

Für einmal steht an dieser Stelle kein Porträt, sondern ein originärer Text: «mengmol u mengisch» ist entstanden aus alltäglichen Fragmenten und Beobachtungen. Es ist ein Versuch, einen möglichen Alltag rhythmisch zu skizzieren. Autorin Nora Brägger (*1996) lebt bald in Bern, studierte an der HKB Literarisches Schreiben, momentan Visuelle Kommunikation, und ist oft unterwegs im SBB-Restaurant. mengisch goni usem hus u mue nomol umchere, wili mi im glas vode hustüre gseh u öppis stört mi oder i fühle mi ganz plötzlich so schrecklich unwohl, dasi weiss, so channi ned de ganz tag mit mir verbringe. mengisch goni usem hus mit mini air force, wo immer weniger wis sind u irgendwenn wirds sputze mit de zahpaste au nüt me bewirke. es isch herbscht u i laufe scho ume wie im grösste winter, fett ipackt u findes dennoch verdammt chalt. i ha de abgang vom summer ned mitbecho u bi ide gedanke immer no irgendwo zwüsched meeresblau u himmelblauer witi, irgendwo vor mir im dunst sizilie u de ätna, wo glüeht. mengisch vergessi dasi etz wieder voll im alltag igspannt bi u dasi eifach mitmach u versuech, dra zblibe, to-do-zettel schribe, todo-erinnerige im iphone-kalender aktiviere, to-dos andauernd verschiebe, tag für tag e neue fokus sueche u schlussendli glich e stress bechum, wil zit vergoht u immer wieder endi demit, dasi nüt würkli mach, nüt woni söt u mengisch au nüt woni wöt, u dasi mengisch nöd emol me genau weiss, wasi denn die ganz zit gmacht ha u dasi doch eigentli so viel het wölle. mengisch machtsmer angst, dasi so gad gar kei vorstellig vo mir ha, weder im jetzt no i noher zuekunft. i gseh immer nur anderi mensche, wie sie lebet u chinde bechömmed u schaffed u kunst mached u einfamiliehüser chaufed u i komune lebed u gmües abaued u älter werdet u immerno guet usgsehnd u vespa fahred u boccia spielet. mengisch stelli mir vor, dasi uf reise wär, froge mi, wohere dasi gern wör u als wer dasi mi wör usge. i meine irgendwo, wo mi nirmert kennt, do chönnti jo egal wer si. i ha immer wieder e einsams hus inere grüene wise irgendwo ade küste vo irland vor auge u swetter isch ruch u rau u grau u windig u regnerisch u das isch eigentli so gad gar ned mis ding, aber i bi döt i dem alte cottage ellei u schribe u es isch guet. mengisch mueni voruse go holz hacke i mim gelbe regemantel, u mengisch mueni is dorf mitem rucksack go ichaufe u mengisch nimmt mi es auto mit hei. mengisch wäri am briefe schribe a mensche, woni gern ha, u mengisch gspüri es vermisse u e leeri ide brust als warms poche u de laufi dur de windrege de klippe entlang u vor mir isch smeer wo ruschet u schümet wie wild. mengisch denki, dasi genau sonen einsame wolf werde, wie min papa u de versuechi, mi dodra zerinnere, wer das gseit hegi, dass sie oder er einsiedler:inne spannend fändi. mengisch wöri eifach gern als füchsli im wald lebe, het döt mini höhli u wör dur sunterholz streife u noch erfolgricher jagd zruck in bau chrüche u mi zemerolle. mengisch wili alles u nüt u fühle alles u nüt u das isch verwirrend. mengisch findi slebe so scheisse u mengisch so scheiss schön. mengisch wäri gern öpper anders, wör gern alles anderst mache, aber de denki au, wenni

Foto: Alex Anderfuhren

wüsst, dass alles neu u anders isch u de fändis mega scheisse, de wärs jo au mega scheisse, will de chönntis sicher nüm zruck wünsche, wil me het doch nume de einti krassi wunsch zguet u de hexhex u blingbling. mengisch wili eifach es gmüetlichs tee trinke u obeabecho vo dem puls, wo mit 200 km/h dur mini brust rast, u de wili wieder genau das, de flash, das devodrifte. mengisch wili für immer summer u de sprung i see u die chüeli nässi, womer das gwusel im chopf resetet. mengisch denki wow, die mensche um mi hani so gern u sie sind mini family u mengisch wili eifach heigo zude eltere, obwohl ihres dehei scho lang nüm mis isch, u so schwierig ichs mit ihne mengisch finde, aber mengmol willi gern eifach vo ihne umarmt werde u sie wöred über mini hor striche u sege: alles wird guet u i wörs ihne glaube. mengisch drucki deltere weg, wenn sie alütet u mengisch stelli uf lutsprecher u putze derzue sbad. mengisch schribt mama en whatsapp-roman, was sie gad alles so macht u wies ihre goht, u bsuech döt, u wanderig döt u selfie döt u i treie schir düre mit dem ewige game us mis lebe zbewohne, mi körper zbewohne, regelmässig zesse, u zwor gmües u salot u ned nume pizza u schoggi, ichaufe, putze, plane, uni, schaffe, an bahnhof laufe anstatt de bus zneh, so viel wie möglich schwarz fahre, mi ned verwütsche lo, allgmein so viel wie möglich chlaue, wil slebe isch tür u i wil mir geili sache gönne u ned nume so m-budget-scheisse, obwohl m-budget-cookies sind die beste u i kenne au öpper, wo uf dspaghetti schwört u i will halt au so fairtrade u bio u vegi u vegan. mengisch dropt psychologin mit ihrne instagram-hashtag-quotes mir id ohre: «selbstliebi isch schön» u de ghöri direkt mini dütschlehrerin usem gymi: «schön ist ein langweiliges und unspezifisches adjektiv» u denn denki an kontroverse buechtitel: «immer ist alles schön» u de denki an summer u dwärmi u mini hoffnig, dass denn würkli mol alles für en moment cha schön si, eifach nume schön. u i weiss genau, dass da e egoistische wunsch isch u i lose nochrichte u stromere dur dstadt u denke, wie abgfuckt mir mensche doch mitenand umgönd u de werdi wieder depri vo 0 uf 100 u mache jo glich nüt ussert resigniert mitschwimme. mengisch erdrücked mi die möglichkeite, die ständigi suechi noch inhalt, de druck dasmer doch söttet happy si u nöd undergönd i üsem privilegierte gejammer. mengisch wili dfrog: «wie gohts?» eifach nöd beantworte u i super afine moment chönnti eifach brüele u mengisch segi eifach: «guet u dir? – gad chli stressig u bi dir? – geht so u bi dir?» gopfritstutz, das chas doch ned si. kreised mir ide immer gliche kreise? beweged mir üs vo wochenend zu wochenend? vo höch zu tüf zu höch? schwimmed im alltag u träumed vom meer, während anderi im mittelmeer ertrinked? mengisch hani chopfweh vom viele studiere, wasi denn etz genau söll, wo ig mini verantwortig cha wohrne, woni eifach cha ig si, wo ig cha zfriede si. mini gedanke verschiebed sich, alles isch mit allem conected u i verlüre mi i dem ewige strom, i dere fluet vo reklame, gspröchsfetze im zug, masketragpflicht, depop, e-mails, to-dos, nochrichte bling-bling, echo der zeit, tiktok, insta, klimagipfel u i denke: i wör etz eifach gern hurtli noch italie, aber denn ertönt die monotoni zugdurchsag: «nächster halt: bümpliz nord.»

Für ihren Erstlingsroman Die Aufdrängung hat Ariane Koch den aspekte-Literaturpreis 2021 erhalten. In ihrem Debüt geht es um Gastfreundschaft und unseren Umgang mit dem Fremden. Aktuell schreibt sie über Spalten und Spaltung und die Forschung darüber. «Dort, wo der Gast hergekommen ist, ist er jetzt nicht mehr. Dort, wo er war, ist jetzt nur noch ein Nichtgast.» Dieser etwas rätselhafte Satz stammt aus dem Roman Die Aufdrängung der 1988 in Basel geborenen Autorin Ariane Koch. Für ihren Erstling hat Koch den mit 10 000 Euro dotierten aspekte-Literaturpreis 2021 für das beste deutschsprachige Debüt erhalten. Auch seitens der Presse erhielt ihr Buch viel Lob. Gar mit Kafkas Das Schloss wurde der Roman verglichen. Das Setting ist tatsächlich ein wenig kafkaesk, sprich sonderbar. Eine Frau fristet ihr Dasein in einem grossen Haus neben einem Berg. Als ein Gast auftaucht, wird er für sie zur Projektionsfläche: Er dient ihr abwechselnd als Sündenbock, Eindringling und Leibeigener. Als «eine verkappte Liebesgeschichte» beschreibt Koch ihr Buch. Es stelle sich die Frage, wer sich hier wem aufdränge. Und natürlich kann man die beiden auch als Metapher verstehen, für eine Gesellschaft und ihren Umgang mit dem Fremden. Verlag im Rücken Mit der Icherzählerin möchte die Autorin nicht verwechselt werden. «Sie ist ziemlich böse.» Doch mit Sicherheit trage jeder gewisse Anteile von dieser Figur in sich. Aktuell wohnt Koch, die an der Hochschule der Künste in Bern 2019 mit dem Master of Contemporary Arts Practice mit der Vertiefung Literarisches Schreiben abgeschlossen hat, in Basel und Berlin. Wenn sie nicht gerade auf Lesetour ist, schreibt sie an ihrem zweiten Buch. Ab und zu ziehe sie sich dafür in die Ferienwohnung ihrer Eltern im Berner Oberland zurück. «Was für ein Autorenklischee», lacht sie. Das zweite Buch gilt oft als schwierig, besonders wenn man mit dem ersten Erfolg hatte. Wie geht sie damit um? «Klar verspüre ich Druck, aber ich bin mir auch bewusst, dass meine Ausgangslage jetzt viel einfacher ist als bei meinem ersten Roman.» Sie wisse den Suhrkamp Verlag hinter sich, müsse keinen Eingang in den Literaturbetrieb mehr finden und verfüge bereits über eine Leserschaft. Ihr Mentor war der Autor Heinz Helle, der selbst im Suhrkamp publiziert und Koch von Anfang an unterstützte. «Es ist ein Match», so Koch über die Beziehung zu ihrem Förderer. Der Arbeitstitel für ihren neuen Roman lautet Die grosse Spaltenforscherin. Tatsächlich geht es um eine Frau, die Spalten untersucht. Seit Corona sprechen alle von einer Spaltung in der Gesellschaft. Doch Koch glaubt, das Thema liege schon länger in der Luft. Sie denke zum Beispiel an den Brexit oder andere Bewegungen, die sich abspalten wollten. Tatsächliche Spalten gebe es auch in der Bergwelt, in die sie sich zum Schreiben zurückgezogen habe. «Gut möglich, dass mich das inspirierte.» Neue Wortschöpfungen oder das Anderskonnotieren von Begriffen ist typisch für Kochs Stil. Dabei lässt sie sich auch von Fremdsprachen inspirieren und schreibt etwa über «Menschen ohne fixes Domizil», abgeleitet von «sans domicile fixe», dem Begriff für Obdachlose im Französischen.

Auf die Frage, was typisch für ihre Schriftsteller*innen-Generation sei, denkt sie kurz nach. «Die klassische Handlung wird zunehmend hinterfragt», glaubt sie. Sie denke dabei etwa an Dorothee Elmiger, jene Schweizer Schriftstellerin, die ihr letztes Buch ganz bewusst nicht als Roman bezeichnet hat. «Das Format des Romans wird zunehmend gesprengt.» Eigene Identität und Individualität stünden häufig im Fokus, wobei dies politisches Engagement nicht ausschliesse. Ihre Ausbildung im Rahmen des HKB Master of Contemporary Arts Practice CAP hat Koch sehr geschätzt. «Es gab ein grosses Angebot, aus dem man sich sehr individuell bedienen konnte.» Sie hatte bereits ihr Buchprojekt am Laufen und fand an der HKB ein Gefäss, um sich darauf zu konzentrieren, wie sie ausführt. Auch die Interdisziplinarität kam Koch, die auch bildende Kunst studiert hat, entgegen. Sie selbst ist Teil des Theaterkollektivs «GKW» und hat damit diverse Stücke und Performances realisiert. Während des ersten Lockdowns brachte das Kollektiv eine Hörstücksammlung heraus, die Drei neue Bunker heisst. «Fragen bezüglich Schutz und Abschottung haben uns fasziniert», so Koch. Das kollektive Schreiben verlange nach gegenseitigem Vertrauen. Mit der Berner Künstlerin Sarina Scheidegger bildet sie ein Duo, das Texte beispielsweise für die Performance Rosa & Louise gemeinsam verfasst. «Wir schieben uns die Texte hin und her.» Dabei gäbe es ungeschriebene Gesetze. «Man löscht nichts und versucht, mit Respekt auf das Geschriebene des Gegenübers zu reagieren.» Schreiben seit Kindheit Als «feministisches Manifest in dialogischer Form» bezeichnen die beiden die Performance, die sie von verschiedenen Schauspieler*innen, an den unterschiedlichsten Orten aufführen liessen. In Ägypten wurde das Stück sogar auf Arabisch gespielt. «Der feministische Diskurs verändert sich ständig», so Koch. Seit das Stück 2013 erstmals aufgeführt wurde, sei viel passiert. Feminismus sei mittlerweile Teil der Popkultur. «Daran ist nichts falsch. Doch wie schlachtet der Kapitalismus nun die Bewegung aus?» Solche und andere Fragen treiben Koch und ihre Mitstreiterin um. Geschrieben habe sie schon als Kind. «Ich schreibe, seit ich schreiben kann.» Mit zwölf Jahren verfasste sie den Roman Ostertränen. Bis heute gibt es nur ein Exemplar davon. «Ich habe das Buch ausgedruckt und gebunden.» Ein Liebesdrama habe sie geschrieben. Auch eine Kurzgeschichte, die sie als Siebenjährige schrieb, ist ihr in Erinnerung geblieben. «Ich nahm die Perspektive einer Pistole ein.» Das Absurde ziehe sich durch ihr ganzes Werk. «Denn, im Absurden steckt auch Humor. Und das ist mir wichtig.»

Text: Helen Lagger


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