Stahlbau Issue 08 2012

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Berichte DOI: 10.1002/stab.201201603

Kinematic Space Structure Eine Entwurfsübung von Studierenden der Architekturfakultät an der Technischen Universität Wien zu einer wandelbaren Hofüberdachung Michael Seidel Polina Petrova Seit Bauwerke errichtet werden, kommen auch wandelbare Dachtragwerke zum Einsatz, die durch Veränderung ihrer Strukturform eine Anpassung an wechselnde Witterungsverhältnisse sowie an unterschiedliche Nutzungswünsche ermöglichen. Solche Überdachungen, bei denen die kontrollierte Bewegung von Tragwerken oder Tragwerksteilen im Vordergrund steht, sind trotz ihrer polyvalenten Anwendungsmöglichkeiten eher prototypischen Sonderkonstruktionen zuzuordnen. Sie charakterisieren das Ergebnis vergleichsweise seltener Entwurfsaufgaben, die vor allem hinsichtlich der Tragwerkskonzeption hohe Ansprüche an den Planer zur Lösung der konstruktiven Entwurfsaufgabe stellen. Insbesondere für ArchitektInnen wirft der Entwurf einer veränderbaren Überdachung spezifische Fragestellungen nach dem geeigneten Verhältnis von der Strukturform zur gewünschten architektonischen Form auf. So sind die Reversibilität und Veränderung der Geometrie der tragenden Bauteile, die Krafteinleitung und Lastab- und -weiterleitung sowie die Steifigkeit und Formstabilität eng verknüpft mit den Anforderungen an die Nutzbarkeit, an die verwendeten Werkstoffe für Struktur und Haut und an die räumliche Wirkung. Entwurfsaufgaben mit solcherart komplexen Einflussgrößen verlangen nach einem disziplinenübergreifenden Entwurfsprozess, bei welchem sich der eigenständige Design- und Entwurfsbegriff in der Architektur möglichst frühzeitig an das Wissen der Fachingenieure annähert, um einen wechselseitigen Dialog zwischen Architekt und Fachplanern zu ermöglichen. Die Abteilung Hochbau 2 (Leitung Prof. Gerhard Steixner) vom Institut für Architektur und Entwerfen an der TU Wien bietet den Studierenden seit Jahren konstruktive Entwurfsthemen an, die auch mit Unterstützung von in der Praxis stehenden Fachplanern bearbeitet werden. Bei der im Wintersemester 2011 entstandenen Entwurfsübung ‚Kinematic Space Structure‘ waren von den Studierenden Lösungen für eine wandelbare bzw. mobile Überdachung für den Hof 1 des Hauptgebäudes der TU Wien zu entwickeln, um für die derzeitige Hofnutzung eine witterungsunabhängige, anpassungsfähige Umgebung zu schaffen und das Nutzungsspektrum zu erweitern.

den einen inhaltlichen Beitrag zum Projekt TU Univercity 2015 zu ermöglichen. Ziel der Entwurfsübung war es, eine Überdachung für den, in seiner rechteckigen Form seit Anfang des 19. Jhdts. existierenden Hof 1 des Hauptgebäude der TU Wien zu entwickeln, die neben dem Wetterschutz auch ein Reagieren auf unterschiedliche Nutzungsszenarien ermöglicht. Der rd. 85 m lange und rd. 25 m breite Hof wird von vier Hochschultrakten flankiert, die seit 1816 in mehreren Ausbaustufen aufgestockt wurden. Das heutige Raumvolumen des rd. 23 m hohen Hofes umfasst rd. 40000 m3 (Bild 1). Das gegenwärtige Nutzungsspektrum des Hofes, welches von Aufführungen der Opernwerkstatt Wien über Veranstaltungen der KinderuniWien und Konzerten bis hin zu Ausstellungen reicht, konnte gegebenenfalls neu interpretiert und erweitert werden. Demzufolge hatte das Variabilitätspotential zur Nutzbarkeit bei der architektonischen Gestaltung der raumumschließenden Hülle Priorität. So waren entsprechende Szenarien der Hofnutzung insbesondere im Hinblick auf die Funktionalität als Veranstaltungsraum zu simulieren (Bilder 2 und 3). Im geparkten Zustand des Daches war der Raumbedarf ebenso zu berücksichtigen wie die Forderung nach einer trockenen, durchlüfteten und vor einem Hitzestau geschützten Dachhaut. Darüber hinaus sollte das Öffnen und Schließen des Daches in einem überschaubaren Zeitraum erfolgen.

1 Funktionale Rahmenbedingungen und architektonische Anforderungen Die aktuellen Pläne zum Umbau des Hauptgebäudes der Technischen Universität Wien wurden zum Anlass genommen, einen entsprechenden Entwurfsthemenschwerpunkt an der Architekturfakultät zu setzen, um den Studieren-

Bild 1. Hof 1 im Hauptgebäude der TU Wien

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Berichte 2 Anforderungen an die Strukturform Die Querspannweite des Innenhofes von rd. 25 m und die Anforderungen an die Veränderbarkeit (Wandelbarkeit, Verfahrbarkeit) bildeten neben der Führung und Ableitung des Regenwassers die Schwerpunkte bei der Spezifizierung der konstruktiven Entwurfsanforderung. Beim Entwickeln der Strukturform waren daher, dem Konstruktiven Leichtbau entsprechend, die Stabilitätsver-

hältnisse und eine günstige Masse-Leistungsrelation zu berücksichtigen. Um ein Höchstmaß an Gewichtsreduzierung zu erreichen, fiel die Werkstoffwahl für die Eindeckung des veränderbaren Dachtragwerks bei den Studierenden mehrheitlich auf bedruckte, transparente Folien bzw. beschichtete Gewebe. Damit konnten auch die, ausschließlich den zugbeanspruchten Werkstoffen vorbehaltenen, besonderen Eigenschaften, nämlich das Zulassen einer vollständigen und reversiblen Veränderung der Geometrie eines tragenden Bauteils sowie das Abbauen von windbedingten Deformationen innerhalb der Membranfläche, gezielt genutzt werden. Im Zuge des Entwurfsprozesses entwickelten die Studierenden vielfältige Lösungsansätze zur Form der Tragstruktur. Neben verfahrbaren Bogenbinderkonstruktionen mit zwischengespannten Gewebekonstruktionen, stationären Bogentragwerken mit dazwischenliegenden, faltbaren Rahmenelementen und Rohrbogenkonstruktionen mit raffund aufblasbaren Gewebekissenkonstruktionen sind das Projekt ‚light plus‘ (Bild 4) und das Projekt ‚punktuell & individuell’ (Bild 5) aus der Sicht der Autoren als innovative Ansätze hervorzuheben.

3 Projekt ‚light plus‘

Bild 2. Projekt 3, Funktionsstudie Belichtung offenes Dach

Bild 3. Projekt 3, Funktionsstudie Belichtung geschlossenes Dach

Bild 4. Projekt ‚light plus‘, Schaubild

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Beim Projekt ‚light plus‘ ist vor allem der originelle Tragwerksvorschlag zu unterstreichen, der eine Spreizbinderkonstruktion mit verfahr- und verdrehbaren Modulen mit zwischengespannter Folienkonstruktion vorsieht. Sieben diagonal verspannte Spreizbinder wirken als räumlich verdrehte Seilfachwerke und spannen mit unterschiedlichen Gurtlängen in drei Modulgrößen in Querrichtung des westlichen Teils des Innenhofes (Bild 6). Die Module sind in zwei Höhenlagen versetzt und spannen zwischen vier, an den Bestandsfassaden befestigten Stahllaufschienen. Der Höhenversatz ermöglicht ein horizontales Verfahren in zwei Ebenen, wodurch eine Vielzahl von Überdachungs- und Nutzungsszenarien ermöglicht wird. Eine entsprechende Lagerung der Seilfachwerke an den Laufschienen erlaubt darüber hinaus eine Verdrehung der Module um die Längsachse. So können die Module nach dem Verfahren zur Ausgangs- bzw. Parkstellung an die Westseite des Hofes als Vertikallamelle geparkt werden. Damit soll das Abfließen des Regenwassers und eine gute Durchlüftung ermöglicht

Bild 5. Projekt ‚punktuell und individuell‘, Schaubild


Berichte werden. Die Sicherung der Module in Parkstellung erfolgt durch das Verhaken der einzelnen Seilfachwerke miteinander.

der benachbarten Module entwässert werden. Dort soll das Regenwasser über schlauchförmig konfektionierte Rinnen zu vertikalen Abwasserschläuchen geführt werden, die über Haken am Boden verankert sind (Bild 10). In der Laufschiene sind ein Schlitten und zwei Motoren integriert. Ein Motor bildet den Antrieb für die Horizontalverschiebung des Daches über eine Zahnstange, der andere soll die Rotation der Module über eine Welle ermöglichen (Bild 11). Die Druckstäbe der Spreizbinder-Module sind als zweiteilige Hohlprofile konzipiert, an deren Enden die Fittinge der Zugseile eingebolzt werden können. Zwei im

Bild 6. Querspannendes Seilfachwerk

Die auftretenden Kräfte werden über die, durch das Bestandsmauerwerk montierten Laufschienen über eine Konsolenkonstruktion in die Geschossdecken des Bestandstraktes eingeleitet. Spannungsungleichheiten aus den Zugkräften der Module sollen mit Hilfe einer, am äußeren

Bild 8. Seilfachwerk Modul 1

Bild 7. Nutzungsvariante im Westteil des Innenhofes

Druckstab bogenförmig angeordneten Feder, aus zusammengesetzten Stahlblechen vermindert werden (Bild 9). Mit der räumlich versetzten Anordnung der Module können die Teilflächen der höher gelegenen Module im geschlossenen Zustand des Foliendaches zu den Rändern

Bild 9. Konzept zur Verankerung am Bestandstrakt

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Berichte unteren Profilteil der Druckstäbe liegende Kederschienen dienen der Randbefestigung der gegensinnig gekrümmt konfektionierten Folienfelder. Abschließend kann festgehalten werden, dass sich das vom Architekturstudenten Johann Thaller (TU Wien) bearbeitete Projekt ‚light plus‘ als ästhetisch hochwertiger Lösungsvorschlag zur Überdachung des Innenhofes darstellt.

Bild 12. Seil- und Folienanschluss am Druckstab des Seilfachwerks

Bild 10. Entwässerungskonzept

4 Projekt ‚punktuell & individuell‘ Das Projekt ‚punktuell & individuell‘ beschreibt eine kleinteilige, additive Struktur aus faltbaren Schirmelementen. Mit der Konzeption einzeln steuerbarer Schirme ermöglichen die Studierenden Nu Kieu Giang Hoang und Sandro Ruiu eine höhere Anzahl von Aktivitäten sowie eine variable und differenzierte Hofbespielung. Die Überdachung ist als räumliches SpreizbinderTragsystem konzipiert. Die Dachhaut bilden 2,5 m × 2,5 m

Bild 11. Laufschiene und Antrieb

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große, viereckige Hängeschirme, deren mittlere Schäfte als Druckelemente des Spreizbindertragwerks wirken (Bild 14). Die Spann- und Tragseile des Tragwerks spannen diagonal über den Hof und erlauben so eine in Querrichtung versetzte Anordnung der Schirme, was die Entwässerungssituation begünstigt. Im ausgefahrenen Zustand bilden die Schirme eine durchgehende transluzente Hülle. Die zweiteilige Schirmkonstruktion besteht aus einer oberen und einer unteren Membranfläche aus transluzenten Folien (Bild 15). Die beiden Schirmflächen sind an jeweils vier Kragarmen befestigt, die wie halbe Scheren als Paare miteinander gelenkig verbunden sind (Bild 16, Bild 19). Antriebe und Motoren der Schirmkonstruktion sind am Schirmschaft befestigt, das Getriebe ist im Schaft integriert.

Bild 13. Blick zur Westfassade des Innenhofes, Schaubild


Berichte Eine besondere Herausforderung bei der Konzeption wandelbarer Dachstrukturen ist die Ausbildung der wasserdichten Hülle. Demzufolge war die Führung und Ableitung des Regenwassers beim vorliegenden Projekt mit kleinteiliger Struktur ein wesentlicher Bestandteil der Entwurfsaufgabe. Im Zuge des Entwurfsprozesses wurden von den Studierenden unterschiedliche Varianten zur räumlichen Anordnung der Schirme nach konstruktiven, funktionalen und gestalterischen Kriterien untersucht. Ziel war es, die Bild 16. Kinematisches Modell 1 : 20

Jeder Schirmrand wird jeweils durch einen flexiblen Glasfaserrandbogen und einen freien Gurtrand gebildet. Wechselseitig wird entweder der Rand der oberen oder der unteren Membranfläche durch einen Glasfaserrandbogen begrenzt. Durch die Drehung der Bögen nach außen bzw. nach innen entsteht eine Überlappung benachbarter Schirmränder in Längs- und Querrichtung, die als Membrantasche zur Entwässerung dient (Bilder 17 und 18).

Bild 14. Spreizbindertragwerk, Querschnitt

Strukturhöhe minimal zu halten und geometrische Verschneidungen der Tragkonstruktion mit den faltbaren Schirmen zu vermeiden. Übliche Lösungsansätze, die eine Überlappung der Schirme durch die Anordnung in unterschiedlichen Höhenlagen ermöglichen, wurden daher verworfen und die Achsmittelpunkte der vertikalen Schirmschäfte in die Horizontalachsen der Spreizbinder verlegt (Bild 14). Das Entwässerungskonzept sieht daher vor, die obere Schirmfläche über die Folienränder und die untere Fläche über den Tiefpunkt zu entwässern (Bild 17). Dazu musste die Randgeometrie der einzelnen Schirme modifiziert werden.

Bild 17. Entwässerungskonzept

Von den Randtaschen fließt das Regenwasser zum Tiefpunkt der jeweils untenliegenden Membranfläche. Dort leitet eine im Inneren des Druckstabs angeordnete Auffangrinne das Regenwasser durch eine Schlauchkon-

Bild 15. Öffnungssequenz eines Schirmes

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Bild 18. Entwässerungskonzept, Überlappungsschema Bild 20. Blick zur Westfassade des Innenhofes, Schaubild

5 Resümee Intention der Entwurfsübung ‚Kinematic Space Structure‘ war es, die Architekturstudierenden an konstruktive Problemstellungen heranzuführen und zu einem konzeptionellen Beitrag in diesem hochspezifischen Fachgebiet zu motivieren. 17 Studierende haben im Rahmen der Übung 15 Projekte bearbeitet.

Bild 19. Hängeschirmkonstruktion, kinematisches Simulationsmodell

struktion in Längsrichtung des Spreizbindertragwerks zu einer, an der Fassade des Bestandsgebäudes befestigten Rinne. Die Glasfaserrandbögen sind durch Kardangelenke an den Kragarmen der Schirme befestigt. Fixiert werden die Bögen in ausgefahrener und geschlossener Position mithilfe von radial angeordneten Pendelstäben, die im ausgefahrenen Zustand von Bogenmitte jeweils orthogonal zum Schaft spannen (Bild 19, links). Im gefalteten Zustand des Schirmes stehen die Pendelstäbe annähernd parallel zum Schaft (Bild 19, rechts). Diese zusätzliche Vorrichtung behindert die Bewegungsmechanik des Schirmes nicht und braucht keine zusätzlichen Antriebe.

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Entwurf ‚light plus‘: Johann Thaller, Architekturstudent/TU Wien (Bild 4, Bilder 6 bis 13) Entwurf ‚punktuell und individuell‘: Nu Kieu Giang Hoang und Ruiu Sandro, Architekturstudierende TU Wien (Bild 5, Bilder 14 bis 20) Entwurf Projekt 3: Benjamin Gänsbacher, Architekturstudent/TU Wien (Bilder 2 und 3) Projektbetreuung: DI Polina Petrova, DI Dr. Michael Seidel – Abteilung Hochbau 2 / TU Wien, DI Peter Bauer (lehrbeauftragt; Werkraum Wien) Gastvorträge und Workshops: DI Jürgen Trenkle (formTL, Radolfzell), Heike Koch (MD-K Wien) Gastvorträge: Bernhard Sommer (Universität für Angewandte Kunst Wien, Exikon Wien), Malgorzata Sommer-Nawara (TU Wien, Exikon Wien)

Autor und Autorin dieses Beitrages: DI Dr. Michael Seidel, DI Polina Petrova Institut für Architektur und Entwerfen, Abteilung Hochbau 2 / Konstruktion und Entwerfen, TU Wien


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