Theoretische Thesis von Celine Künzle

Theorie Bachelor-Arbeit 2020

Eine Auseinandersetzung mit den visuellen, inhaltlichen und formalen

Celine K체nzle

Merkmalen gezeichneter Reportagen und deren St채rken und Schw채chen

Hochschule der K체nste Bern BA Visuelle Kommunikation

Danksagung An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die mich bei meiner theoretischen Bachelorarbeit begleitet, unterstützt, inspiriert und motiviert haben. Danke an Christoph Schuler, Isabel Peterhans, Peter Glassen, Sabine Künzle und Annica Künzle.

1

2

Einführung

11

1.1 Motivation

13

1.2 Fragestellung

13

1.3 Vorgehensweise

13

Hauptteil

15

2.1 Begriffliche Grundlagen 2.1.1 «Die Reportage» als journalistische Textform

17

2.1.2 Zum Begriff «Comic»

17

2.1.3 Zum Begriff «Non-Fiction»

19

2.1.4 «Zeichnungsreportage» als Nonfiction-Comic

19

2.2 Theoretische Grundlagen

21

2.2.1 Kurze Geschichte der gezeichneten Reportage

21

2.2.2 Wirklichkeit im Bild

24

2.2.2.1 Zeichnung vs. Fotografie

24

2.2.2.2 Subjektivität und Objektivität

26

2.3 Empirie

3

17

29

2.3.1 Werke

29

2.3.2 Methode

29

2.3.3 Isabel Peterhans

31

2.3.4 Olivier Kugler

41

2.3.5 Joe Sacco

53

2.3.6 Vergleich

62

Fazit

65 3.1 Zusammenfassung

77

3.2 Ausblick

69

4

Quellen

71

5

Anhang

75

Abbildung 1

Seite 20

A Special Artist on the Road Autor unbekannt aus: Hogarth, Paul (1986), The Artist as Reporter, London, S.34 2

20

Illustrated London News Gavarni Paul aus: Hogarth, Paul (1986), The Artist as Reporter, London, S.27 3

22

Titel unbekannt (Aus der Serie „Woolworth“ / CBS) Weaver Robert aus: Berg / Groos / Krümmel (2005), tauchfahrten, zeichnung als reportage, Düsseldorf, S.211 4

27

Selbstbildnis mit Arbeiter am Dampfhammer Menzel Adolph Friedrich Erdmann von aus: AK Adolph Menzel. Labyrinth der Wirklichkeit, 1996, S.277 5

84

How we have to work Prior Melton aus: Hogarth, Paul (1986), The Artist as Reporter, London, S.34 6-9

32 - 38

Peterhans Isabel aus: Strapazin No. 122 (2016), Piti Piti Zwazo Fé Nich, Zürich, S.51-63.

10 - 14

42 - 50

Kugler Olivier aus: Kugler, Olivier (2017), Dem Krieg entronnen, Zürich.

15 - 18 Sacco Joe aus: Sacco, Joe (2009), Bosnien, 2.Auflage, Zürich.

54 - 60

Anlage 1 Mailkorrespondenz mit Isabel Peterhans, Illustratorin 04.03.2020

Anlage 2 Mailkorrespondenz mit Isabel Peterhans, Illustratorin 16.03.2020

Im ersten Teil dieser Arbeit wird die Themenwahl begrßndet und Fragestellung, Zielsetzung, sowie Vorgehensweise erläutert.

1

Einführung

1.1 Motivation Eine Falte, eine interessante Pose oder ein ausgefallener Stil – es sind immer Details, die mich anregen, den Charakter einer Person oder eines Ortes zeichnerisch oder in Textform festzuhalten. Gerade unspektakuläre Eigenschaften erweisen sich oft als definierend, was mich als Illustratorin besonders motiviert, mir die Zeit zu nehmen, sie festzuhalten und manchmal noch zu akzentuieren. Der Studiengang der visuellen Kommunikation lehrte mich das Zeichnen vor Ort; ob beim Gerichtszeichnen, beim Illustrieren von Interviews, beim Aktzeichnen oder beim Skizzieren im Café oder Zug – immer war es eine spannende Erfahrung, die Reaktionen der Leute zu erleben. Die vorliegende Bachelorarbeit bietet mir die Gelegenheit, meine bisherigen Fertigkeiten, sowohl auf einer journalistischen wie auch zeichnerischen Ebene, zu erweitern und mich vertieft mit der gezeichneten Reportage auseinanderzusetzen.

1.2 Fragestellung Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, durch die Untersuchung der gezeichneten Reportage und der Analyse verschiedener Umsetzungen und Herangehensweisen, das Medium in Hinsicht auf meine praktische Arbeit kennenzulernen und seine Eigenheiten aufzuzeigen. Daraus ergeben sich die folgenden Fragestellungen: Was sind die visuellen, inhaltlichen und formalen Merkmale gezeichneter Reportagen?

Welches sind ihre Stärken und Schwächen?

1.4 Vorgehensweise Im ersten Teil der Arbeit werden allgemeine theoretische Grundlagen vermittelt. Ich werde den Begriff der gezeichneten Reportage und des Nonfiction-Comic als journalistische Form definieren und einen kurzen Abriss der Geschichte dieses Mediums geben. Im Weiteren wird auf die Wiedergabe der Wirklichkeit in der Zeichnung beziehungsweise der Fotografie eingegangen und die Frage nach visueller Wahrheit und Objektivität in der Zeichnungsreportage gestellt. Der zweite Teil besteht aus einer Analyse von drei verschiedenen Zeichnungsreportagen.

13

Im Hauptteil dieser Arbeit erkläre ich die begrifflichen und theoretischen Grundlagen der Zeichnungsreportage und führe eine empirische Analyse von vier ausgewählten Arbeiten durch.

2

Hauptteil

2.1 Begriffliche Grundlagen Um näher auf den Begriff der «Zeichnungsreportage» eingehen zu können, müssen vorab die Reportage als journalistische Textform und die Begriffe «Comic» und «Non-Fiction» erklärt werden.

2.1.1 «Die Reportage» als journalistische Textform Die Reportage ist nebst der Nachricht (auch Meldung) und dem Bericht Teil des narrativen Erzählens. Doch während Nachricht und Bericht Distanz wahren, geht die Reportage nah heran und gewährt auch Beobachtungen und weiteren Sinneswahrnehmungen ihrer Protagonisten Raum. Die Reportage geht dabei in der Regel von journalistischer Recherche vor Ort aus, muss aber nicht zwingend über ein akutelles Geschehnis berichten. Unabhängig vom Inhalt ist ein Merkmal der Reportage, dass sie sich nicht nur darauf konzentriert, neutrale Informationen, sondern auch das subjektive Erleben von Ereignissen zu vermitteln. Der Reporter nimmt dabei die Rolle eines Beobachters ein.1 Die Wahrhaftigkeit bezüglich der Wiedergabe der Wirklichkeit mittels der Reportage stand und steht immer wieder zur Diskussion, beim Aufkommen des New Journalism in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts wurde festgehalten, dass ein hundertprozentig objektiver Journalismus nicht möglich sei, da kein Mensch immerzu objektiv sein könne. Dennoch lässt sich die Reportage als objektive journalistische Form definieren, da sie nicht nur auf Empfindungen sondern auch auf Fakten basiert. Die subjektive Perspektive soll dabei die objektive Ebene nicht ersetzen, sondern diese vielmehr in einen breiteren Zusammenhang stellen.2

2.1.2 Zum Begriff «Comic» Der Begriff «Comic» bezieht sich auf eine Erzählform, die oft, aber nicht zwingend, eine sequenzielle Aneinanderreihung von Bildern, die sogenannten Panels, meist im Zusammenspiel mit Text benutzt, um einen Inhalt wiederzugeben. Der Begriff umfasst eine Vielzahl von Erscheinungsformen, nicht aber Animation, Einzelbilder oder illustrierte Bücher.3 Obwohl Comics nicht mit Animationsfilm verwechselt werden dürfen, haben sie viele Parallelen in Aufbau und Denkweise. Joe Sacco sagt dazu: «In Filmsprache ausgedrückt, ist der Comiczeichner sowohl Bühnenbildner als auch Kostümdesigner und Chef des Castings.»4 Dies eröffnet dem Autor immense Möglichkeiten, um eine Geschichte zu visualisieren.

1 2 3 4

Vgl. Klein C., Martìnez M. (2009), S.180 Vgl. Haller M. (2006), S.54 Vgl. Duncan R. u.a. (2015), S.14 Sacco J. (2018), S.4

17

2 2.1

Hauptteil Begriffliche Grundlagen

2.1.3 Zum Begriff «Nonfiction» Da die gezeichnete Reportage, genau wie die reine Textreportage danach strebt, die Wahrheit so gut wie möglich abzubilden, gehört sie zu dem Genre der Sachliteratur, auch Nonfiction genannt.5 Es wird zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen unterschieden. Dabei bezieht sich Fiction auf Imagination und Non-Fiction auf eine bestmögliche Wiedergabe der Realität. Genau diese subjektive Konstruktion faktualer Erzählungen lassen den Begriff zur Diskussion offen. Es gilt zu beachten, dass immer danach gestrebt werden sollte, die Wahrheit so gut wie möglich aufzuzeigen.6 Dieser Geltungsanspruch, dass Aussagen «wahr» sein sollten, führt zu einer weiteren moralischen Ebene, welches Nonfiction-Erzählungen von anderen abhebt.7

2.1.4 «Zeichnungsreportage» als Nonfiction-Comic Die «gezeichnete Reportage», auch «Reportagecomic» oder «Comicreportage» genannt, kann in die Kategorie der Nonfiction-Comics eingeordnet werden. Andere Umsetzungen des Nonfiction-Comics, wie beispielsweise historische oder autobiografische Formen, haben die journalistische Recherche gemeinsam, wobei in der Zeichnungsreportage der Autor sowohl visuell als auch inhaltlich viel präsenter ist und der Leser stärker geführt wird als bei anderen Erzählformen.8 Die Zeichnungsreportage vereint die inhaltlichen Anforderungen und Merkmale der Reportage als journalistische Form mit der zeichnerischen Umsetzung des Comics. Dabei versucht sie sich überwiegend an objektiven Inhalten zu orientieren, wodurch sie sich ebenfalls in die journalistische Sparte einreihen lassen kann.9 Es existieren viele Varianten und fliessende Übergänge der Begriffsdefinitionen in diesem Bereich. Je nach Umsetzung und Inhalt kann die Definition variieren und ist in jedem Fall neu zu diskutieren, was dem Künstler eine gewisse Freiheit gibt.10

5 6 7 8 9 10

Vgl. Duncan R. u.a. (2015), S.22 Vgl. Klein C., Martìnez M. (2009), S.1 Vgl. Duncan R. u.a. (2015), S.6 Vgl. Thomé P. u.a., (2015), S.17 Vgl. Baetens J., Frey H (2015), S.13 Vgl. Duncan R. u.a. (2015), S.15

19

Abbildung 1: A Special Artist on the Road

Abbildung 2: Illustrated London News 1848, cover illustration: Paul Gavarni

2

Hauptteil

2.2 Theoretische Grundlagen Die theoretischen Grundlagen dieser Arbeit bestehen aus einem kurzen Abriss der Geschichte der zeichnerischen Reportage und einer Diskussion über die Wirklichkeit im Bild.

2.2.1 Kurze Geschichte der gezeichneten Reportage Seit es Menschen gibt, wird gezeichnet. Schon vor der Fotografie und dem Film war es üblich, Bilder zu produzieren und untereinander zu teilen. In vielen alten Kulturen – man denke an die Wandmalereien in der Höhle von Lascaux oder den Wandteppich von Bayeux – wurden aktuelle Geschehnisse im Bild festgehalten.11 Mit der Industrialisierung und der technischen Innovationen der Druck- und Satztechnik wurde es einfacher, Informationen in grösseren Auflagen mit einer breiten Masse zu teilen.

Im 17. Jahrhundert waren in Grossbritannien die sogenannten Broadsheets wichtige Informationsquellen, welche Texte mit Illustrationen zu allerhand Aktualitäten, seien es Krönungen oder Morde, zeigten. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden diese Flugblätter allmählich durch illustrierte Zeitungen und Magazine wie beispielsweise «Le Charivari» (Frankreich, 1832) oder «Punch» (Grossbritannien, 1841) ersetzt.12 Anders als für Illustrationen, die im Atelier gezeichnet werden konnten, war es anfangs des 19. Jahrhunderts schwierig, Illustratoren für Zeichnungen vor Ort zu finden, da dies bedeutete, spontan für eine undefinierte Zeitdauer unter eher schlechten Bedingungen verreisen zu müssen. Mit der bürgerlichen Revolution 1848 in Frankreich entstand eine grosse Nachfrage nach Reportagezeichnern, die Künstler konnten auch angemessen bezahlt werden, was diesen Beruf attraktiv machte. Die «Illustrated London News» (gegr. 1842) begann solche «besonderen Künstler» nicht nur nach Paris und London zu schicken, sondern auch an Orte, an denen keine lokalen Journalisten zu finden waren. Diese Aufträge unterschieden sich von früheren Reisereportagen; der zeichnende Reporter musste die Intuition eines Journalisten haben und wissen, wo er wann was zeichnen sollte. Kriegsreportagen waren die Hauptaktivitäten dieser «Special Artists», denn solche verkauften sich am besten. Weil die Fotografie noch nicht existierte, hatten sie ca. 50 Jahre lang keine Konkurrenz. Frühe Fotoapparate erforderten eine voluminöse Ausrüstung, die Zeichnung hingegen verlangte nur wenige Utensilien, um den Moment einzufangen. Die Kriegszeichnungen wurden, bedingt durch den Zeitdruck, oft nur als Skizzen eingesendet, die dann von Künstlern in den Redaktionen fertig gestellt wurden.13 Die Zeichnungsreportage wurde aber nicht nur für die Wiedergabe von Kriegsszenen eingesetzt, sondern von einflussreichen Magazinen wie beispielsweise «The Graphic» (gegr.1869) auch benutzt, um sozialreformatorische Themen zu behandeln.14 1895 kam die handliche Pocket 11 12 13 14

Vgl. Duncan R. u.a. (2015), S.18 Vgl. Duncan R. u.a. (2015), S.13 Vgl. Hogarth P.. (1986), S.30 Vgl. Berg S. u.a. (2005), S.48

21

Abbildung 3: Aus der Serie „Woolworth“ / CBS, Robert Weaver

2 2.2 2.2.1

Hauptteil Theoretische Grundlagen Kurze Geschichte der gezeichneten Reportage

Kodak auf den Markt, welche die Arbeit der «Special Artists» weitgehend hinfällig machte.15 Trotz der aufkommenden Konkurrenz der Fotografie setzte sich der deutsche Zeichner Fritz Koch (alias Koch-Gotha), der seit 1904 für die «Illustrierte Zeitung» arbeitete, für die Illustration als Form der bildlichen Darstellung ein. Er erneuerte das Genre der Zeichnungsreportage, indem er die Reportagezeichnung nicht wie bisher als Beilage zum Text, sondern als autonome journalistische Berichterstattung definierte.16 Robert Weaver war einer der Ersten, der diesen Faden mit dem «Visual Journalism» in den 1950er-Jahren wieder aufzunehmen versuchte. Er war ein einflussreicher amerikanischer Illustrator, Künstler und Lehrer, unter anderem an der New York School of Visual Arts. Weaver zeichnete sich durch seine sehr individuelle Interpretation von Zeichnung und Journalismus aus. Dabei ging er fast schon filmisch vor, um sequenzielle Bilderreihen zu erforschen.17 Erst Ende 20. Jahrhunderts etablierte sich aber das Genre der Zeichnungsreportage, wie wir es heute verstehen, als hochwertigen Journalismus. Ein Pionier in dieser Hinsicht ist der amerikanische Journalist und Comiczeichner Joe Sacco. Seine Zeichnungsreportagen, unter anderem über das Leben in Kriegsgebieten, fanden aufgrund ihrer Qualität ein breites Publikum. Zeitungen und Magazine wie das französische «La Revue Dessinée» (gegr. 2013, Paris) und das gänzlich werbefreie «XXI» (gegr. 2008, Paris) haben sich auf das Medium der Infound Reportagecomics spezialisiert, welches in den letzten paar Jahren nicht nur in Amerika und Europa, sondern auch in Kanada und Indien Anklang findet.18

15 16 17 18

Vgl. Hogarth P.. (1986), S.30 Vgl. Berg S. u.a. (2005), S.47 Vgl. Berg S. u.a. (2005), S.206 / Thomé P. u.a. (2015), S.21 Vgl. Duncan R. u.a. (2015), Vorwort, S.22

23

2 2.2

2.2.2 Wirklichkeit im Bild In diesem Kapitel wird die Frage gestellt, ob man Wirklichkeit mit dem Zeichenstift abbilden kann. Dazu wird die Zeichnung der Fotografie gegenübergestellt und die objektiven und subjektiven Eigenschaften der Zeichungsreportage behandelt.

2.2.2.1 Zeichnung vs. Fotografie Bildet die Fotografie die Realität wahrheitsgetreuer ab als die Zeichnung?

Beide Arten von Abbildung sind subjektiv und werden vom Künstler beeinflusst. Die digitale Fotografie bietet unbegrenzte Möglichkeiten bezüglich Veränderung und Verfremdung einer Abbildung, die Zeichnung hingegen trägt die augenfällige Handschrift des Gestalters und entspricht dessen subjektiver Wahrnehmung. Vielleicht ist es gerade wegen dieser offensichtlichen Subjektivität, dass die Zeichnung sogar glaubwürdiger erscheint, da man der zwar vorgeblich wahrhaftigen, in der Realität aber einfach fälschbaren Fotografie nicht mehr traut, wodurch die Zeichnung wieder mehr geschätzt und als Medium für Reportagen immer interessanter wird.19 Beide Abbildungstechniken haben bei der Arbeit vor Ort ihre Vor- und Nachteile. Bei der Arbeit eines Reporters, der die Aufgabe hat, ein schnelles Bild einer Lage zu machen, bietet sich die Fotografie mit ihrer kurzen Verschlusszeit und akkuraten Abbildung an. Doch die Wirkung eines Schnappschusses unterscheidet sich sehr vom Prozesshaften der Zeichnung.

Letztere beinhaltet vielmehr den Moment als zeitlichen Ablauf in einem Bild, als eine kurze Momentaufnahme.20 «Entscheidend ist nicht, ob ein Bild authentisch ist, sondern ob das, was man zeigt, wahr ist. Die Wahrheit liegt in der Auswahl des Gezeigten»21, sagt Joe Sacco.

«Die Wirklichkeit wird nie auf einem Servierteller präsentiert»22, sondern besteht häufig aus Beobachtungsmomenten und verschiedenen Perspektiven, die zu einem Gesamtbild zusammengetragen werden müssen, was sowohl früher wie heute eine der Eigenschaften ist, die die Zeichnung ausmacht. Häufig gehören zum Gesamtbild der Wirklichkeit nicht nur aktuelle Momente, sondern auch vergangene Geschichten, die mittels der Zeichnung rekonstruiert und gezeigt werden können.

In gewissen speziellen Fällen kann die Fotografie sogar verboten sein, oder die abzubildenden Menschen wollen nicht fotografiert werden, wie zum Beispiel in Gerichtsverhandlungen, wo das Zeichnen zugelassen ist. Die Zeichnung lässt den Menschen die Würde, indem der Fokus sich auf das gesamte Thema und weniger auf die Person richtet Die Abgebildeten fühlen sich nicht blossgestellt und «so kann man Menschen ein Gesicht geben, die nicht erkannt werden möchten.», (Isabel Peterhans).23 Dies kann dem Journalisten während der Arbeit an 19 20 21 22 23

24

Vgl. Berg S. u.a. (2005), S.6 Vgl. Berg S. u.a. (2005), S.64 Gasser C. (2011) Vgl. Berg S. u.a. (2005), S.36 Landolt N. (2016)

Hauptteil Theoretische Grundlagen Wirklichkeit im Bild

einer Reportage einen anderen Fokus im speziellen zu sensiblen Themen und einen besseren Zugang zu den Menschen verschaffen. Es kann eine innere Perspektive gezeigt werden, die auf die Schockwirkung der Fotografie und den Blick von aussen verzichtet.24 Die Zeichnung kennzeichnet sich durch ihre Langsamkeit und Ehrlichkeit, der Zeichnende versteckt sich nicht hinter der Kamera und drückt unbemerkt auf den Auslöser. Diese langsame Art von Journalismus fördert eine persönlichere Herangehensweise als klassische Interviewmethoden es tun, in einer Zeit, in der alles schnell gehen muss.25 Es gibt letztlich keine bessere oder schlechtere Methode, um sich der Wahrheit so gut wie möglich anzunähern. Die Wahl der Technik wird aber eine Reportage sowohl auf journalistischer wie emotionalen Ebene prägen und bleibt in jedem Fall neu zu diskutieren.26

24 25 26

Vgl. Berg S. u.a. (2005), S.39 Vgl. Landolt N. (2016) Vgl. Berg S. u.a. (2005), S.11

25

2 2.2 2.2.2 2.2.2.2 Subjektivität und Objektivität Wie im Kapitel 2.2.2.1 erwähnt, zeigt sich die offensichtliche Subjektivität der Zeichnung als definierende Eigenschaft der Zeichnungsreportage. Wo bleibt der Objektivitätsanspruch der Reportage?

Der deutsche Adolph von Menzel zeichnet sich 1872 in den Hintergrund des Bildes «Selbstbildnis mit Arbeiter am Dampfhammer», womit es sich von den traditionellen Selbstporträts von Künstlern bei der Arbeit unterscheidet, da von Menzel sich bei der Entstehung des Bildes ganz offensichtlich nicht im Atelier, sondern tatsächlich vor Ort befand. Diese Form verdeutlicht die Subjektivität und die Suche nach Authentizität im Bild (Abbildung 4, S.27).27 Die Zeichnung zeigt nie die Wirklichkeit, sie kann bestenfalls mit Hilfe der eigenen Erinnerung die Vorstellung einer potenziellen Wirklichkeit visualisieren. Dieses auf Empfinden basierte Erzählen kann nicht objektiv sein, der Journalist beeinflusst immer das Geschehene vor Ort. Die Subjektivität ist Teil der Zeichnungsreportage, man kann beim Lesen sozusagen durch die Augen des Autors sehen. Dies gleicht mehr dem literarischen als dem fotografischen Vorgehen, da Szenen dergestalt beschrieben werden, dass sie vorstellbar sind und nicht unbedingt ein naturalistisches Abbild zeigen. Dabei ist die Handschrift des Künstlers erkennbar und man ist sich bewusst, dass es sich um eine Wiedergabe einer Interpretation handelt.28 Der amerikanische Journalist und Zeichnungsreporter Joe Sacco sagte in einem Interview der NZZ über seine Comic-Reportage «Gaza»: «Ich glaube nicht an die Objektivität (...)

– ich glaube an Fairness».29 Bei seiner Arbeit achtet er jeweils darauf, eine Perspektive zu vermitteln und dabei ehrlich zu bleiben, ohne Partei zu ergreifen.30 In der Zeichnungsreportage werden die Eigenschaften der Sachliteratur mit der kreativen Freiheit des Künstlers vermischt, die Glaubwürdigkeit basiert auf dem Abwägen der beiden Teile. Offenbar werden emotional basierte Entscheidungen des Reporters, um eine Geschichte zu entwickeln, eher in der Form des Comics als in anderen journalistischen Medien akzeptiert, solange die empfundene Wahrheit mit der Arbeit übereinstimmt.31 Da die zwei Disziplinen des Schreibens bzw. des Zeichnens in der Zeichnungsreportage ineinanderfliessen, bringen die Beteiligten jeweils Voraussetzungen von einer der beiden Seiten mit. Journalisten fehlt es vielleicht an Übung im Illustrieren, Zeichner wissen nicht, wie Interviews zu führen sind. Daraus ergeben sich verschiedene Herangehensweisen an eine Arbeit, die zu unterschiedlichen Resultaten kommt, sich jedoch letztlich in der Authentizität finden sollte. Häufig werden die Zeichnungsreportagen auch von zwei oder mehreren Leuten bearbeitet und die Rollen des Schreibers und des Zeichners aufgeteilt.

27 28 29 30 31

26

Vgl. Berg S. u.a. (2005), S.31 Vgl. Thomé P. u.a., (2015), S.25 Gasser C. (2011) Vgl. Gasser C. (2011) Vgl. Duncan R. u.a. (2015), Vorwort

Hauptteil Theoretische Grundlagen Wirklichkeit im Bild

Somit könnte man behaupten, dass gezeichnete Reportagen unter anderem dadurch wahrheitsgetreuer und genauer sind als herkömmliche, da beide Beobachtungen in das Endresultat einfliessen. Josh Neufeld beschreibt dieses Zusammenspiel wie folgt: «When coupled in a nonfiction comic, art and carefully gathered facts allow readers to see not only the world as it is, but themselves as they are. It is an immensely powerful medium.»32

32

Duncan R. u.a. (2015), S.7

Abbildung 4 Selbstbildnis mit Arbeiter am Dampfhammer

27

2

Hauptteil

2.3 Empirie In der Empirie werden drei ausgewählte Zeichnungsreportagen analysiert und miteinander verglichen.

2.3.1 Werke Die Vielfalt gezeichneter Reportagen ist naturgemäss sehr gross, in dieser Hinsicht unterscheiden sie sich nicht von anderen Reportagen; sie können alle möglichen Themenbereiche behandeln. Meine Auswahl betrifft Reportagen, die Ereignisse in Katastrophen- bzw.

Kriegsgebieten behandeln. Die drei Reportagen zeigen verschiedene Anwendungen des Mediums Zeichnung und vermitteln einen Eindruck der vielfältigen Umsetzungsmöglichkeiten und deren Stärken und Schwächen.

Isabel Peterhans reiste für ihre Reportage «Piti piti zwazo fé nich» 2014 nach Haiti, wo sie das humanitäre Wiederaufbauprojekt von Caritas Schweiz, in dem auch ihre Schwester arbeitete, vier Wochen lang begleitete.

Olivier Kugler wurde 2017 von «Médecins sans Frontières» damit beauftragt, syrische Flüchtlinge zu porträtieren, um auf deren Situation aufmerksam zu machen. Dafür besuchte er das irakische Kurdistan, die griechische Insel Kos und das französische Calais. Daraus ist das Buch «Dem Krieg entronnen» entstanden.

Joe Sacco besuchte 1995 über eine längere Zeit die bosnische Stadt Gorazde und dokumentierte mit seiner Reportage «Bosnien» die Folgen des Krieges und die Auswirkungen von Nationalismus, Rassismus und Unmenschlichkeit im Allgemeinen.

2.3.2 Methode Für die Analyse werde ich jeweils mehrere kleine Ausschnitte der Zeichnungsreportagen auswählen und nach der Methode der visuellen Kommunikationsforschung vorgehen.33 Das heisst, ich werde einerseits die Produktionsbedingungen (Produktionsanalyse) und andererseits die visuellen, inhaltlichen und formalen Merkmale der Reportagen (Produktanalyse) untersuchen.

Dabei frage ich im ersten Teil nach dem Thema, dem Auftraggeber, der Recherche, der Machart und der Motivation des Autors. Im zweiten Teil untersuche ich Aufbau und Eigenschaften der Bild- und Textebene, sowie deren Charakter. Weiter wird auf den Informationsgehalt (Verhältnis Fakten und subjektives Erleben) und die Redaktion eingegangen.

Im letzten Teil der Analyse werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei Arbeiten beschrieben und deren Stärken und Schwächen miteinander verglichen.

33

Vgl. Müller M., Geise S. (2015), S.13 f.

29

2 2.3

Hauptteil Empirie

2.3.3 «Piti piti zwazo fé nich» 2014 Erstellt mit Unterstützung von Caritas Schweiz Erschienen im Comic-Magazin Strapazin Nr. 122, 2016

2.3.3.1 Produktionsanalyse [Zur Autorin] Isabel Peterhans lebt und arbeitet in Innsbruck und der Schweiz. Sie hat Illustration an der Hochschule Luzern und an der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem studiert. Ihre Arbeiten sind mehrfach ausgezeichnet worden (u.a. mit dem Förderpreis der zeugindesign-Stiftung für ihr Buch «Yalla bye bye») und erscheinen in nationalen und internationalen Zeitschriften und Büchern.34 [Thema] Zur Einleitung der Reportage «Piti piti zwazo fé nich» in Strapazin Nr. 122, 2016, heisst es: «Die Geschichte Haitis ist geprägt von Gewalt, Naturkatastrophen und Migration. Nach der Ausrottung der indianischen Urbevölkerung war Haiti erst spanische, dann französische Kolonie mit Hunderttausenden von afrikanischen Sklaven. Heute wandern viele Haitianer vor Armut und Korruption aus, und das nicht erst seit Haiti 2010 von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht wurde, das über 300‘000 Todesopfer forderte und gegen zwei Millionen Menschen obdachlos machte. Isabel Peterhans reiste im Herbst 2014 (…) nach Haiti, wo sie das humanitäre Wiederaufbauprojekt von Caritas Schweiz und ihre dort beschäftigte Schwester vier Wochen lang begleitete.»35 [Auftraggeber] Die Reportage entstand in keinem Auftragsverhältnis, wurde aber von Caritas unterstützt. Einschränkungen gab es seitens der Hilfsorganisation keine, abgesehen von der Vorgabe, dass die Reportage am Ende für Caritas nicht rufschädigend sein sollte. Da kein spezieller Stil verlangt wurde, konnte die Arbeit inhaltlich und visuell grundlegend frei gestaltet werden.36 Isabel Peterhans liess den Textteil der Reportage von ihrer Schwester redigieren, die bei Caritas Schweiz als Sozialdelegierte im Aufbauprojekt arbeitete und zu dieser Zeit in Haiti lebte.

34 35 36

Vgl. Peterhans, I. (2020) Strapazin März 2016 Nr. 122, S.1 Vgl. Anlage 1

31

Abbildung 6: Piti Piti Zwazo FĂŠ Nich, Isabel Peterhans

32

2 2.3 2.3.3

Hauptteil Empirie Isabel Peterhans

[Honorar] Peterhans verfasste ihre Reportage ohne Honorar, nur die Reisespesen wurden von Caritas übernommen. Für die Publikation im Comic-Magazin Strapazin erhielt sie 600 Franken (50 Franken pro A4-Seite).37 [Vorgehen, Material] Für die Zeichnungen verwendete Peterhans vor allem Buntstifte.

Ursprünglich wollte sie mit einem grossen roten Skizzenbuch arbeiten, doch angesichts der allgegenwärtigen Armut wechselte sie auf ein kleineres, unscheinbareres, um bei den Leuten einen positiven ersten Eindruck zu schaffen. Als privilegierte Europäerin in einem haitianischen Dorf wollte sie nicht den Eindruck erwecken, den dort lebenden Menschen ihren relativen Reichtum unter die Nase reiben zu wollen, Menschen, die durch das Erdbeben ihr gesamtes Eigentum verloren haben. Die Reportage entstand vor allem an Ort und Stelle, nur Zusammenstellung und Auswahl der Bilder wurden im Atelier vorgenommen. Die Interviews wurden von Isabel auf dem Handy aufgenommen, damit sie sich voll und ganz auf das Zeichnen und die Leute konzentrieren konnte. Fotografien verwendete sie keine; die Menschen Haitis seien sehr kritisch gegenüber klassischen Journalisten und Fotografen, denen sie unterstellen, sich an der Abbildung ihrer Armut zu bereichern. Peterhans musste den Menschen oft die Langsamkeit ihres eigenen Mediums erklären, und dabei betonen, dass sie selbst damit nicht reich würde.38 [Motivation] «Pure Neugierde, die Welt zu entdecken und Neues zu lernen.»39

2.3.3.2 Produktanalyse [Eigenschaften Text- und Bildebene] Der Umfang der Reportage wurde durch das Format des Comic-Magazins Strapazin vorgegeben. Peterhans‘ Reportage ist einer von acht Beiträgen der betreffendenAusgabe.

Die Reportage besteht aus sechs Doppelseiten. Das Layout folgt einem Raster von horizontal geteilten Seiten, mit einzelnen ganzen Seiten. Dabei sind die Zeichnungen nicht in Panels eingebunden, sie wirken offen und sind nur durch den Beschnitt am Rand der Zeichnungen als Einzelbilder erkennbar.

Die Textebene besteht einerseits aus Zitaten der befragten Leute und andererseits aus Isabels Kommentaren. Die beiden Textsorten sind gestalterisch voneinander getrennt – die Zitate werden in Versalien wiedergegeben, der restliche Text in Gross- und Kleinschreibung.

Die Texte sind auf Deutsch verfasst, abgesehen von Bezeichnungen von Gegenständen auf Französisch. Wiederkehrende Motive der Bildebene sind die Wohnsituationen der Bewohner und die Innenräume ihrer Häuser. Der grösste Teil der Bild- und Textebene dieser Arbeit ist in Schwarzweiss gehalten, wobei gewisse Teile der Zeichnungen, wie beispielsweise Pflanzen oder Muster von Stoffen, mit hellen Farben akzentuiert wurden. Texte und Bilder erscheinen gleichwertig und ergeben ein einheitliches Bild, die farblichen Akzente stechen hervor.

37 38 39

Vgl. Anlage 2 Vgl. Anlage 1 Anlage 1

33

Abbildung 7: Piti Piti Zwazo FĂŠ Nich, Isabel Peterhans

34

2 2.3 2.3.3

Hauptteil Empirie Isabel Peterhans

Der Stil scheint bewusst sehr einfach, locker, spontan und schnell.

Peterhans‘ Zeichnungsreportage bildet keine fortlaufende Geschichte, sie besteht aus verschiedenen Ansichten und Porträts von Häusern und Bewohnern, die sie besucht hat. Es gibt keine Darstellungen des früheren Zustandes des Ortes, auch keine fiktionalen Elemente.

Alle Bilder basieren auf tatsächlichen Erlebnissen der Zeichnerin.

[Beobachtungen zu Text- und Bildebene] Die erste Seite beginnt mit dem Titel der Reportage, «Piti piti zwazo fé nich», was soviel heisst wie «Stück für Stück baut sich der Vogel sein Nest». Das kreolische Sprichwort bildet einen poetischen Einstieg ins Thema, dem Aufbau von erdbebensicheren Häusern. Es umschreibt den Zugang zu der schwierigen Situation, in der sich über 100 Familien in Cabaret, dem beschriebenen Dorf in Haiti, befinden.

Die Umsetzung und der lockere Stil der Reportage widerspiegeln die unbeschwerte Art der Alltagsbewältigung in Haiti. Wie aus den Interviews zu entnehmen ist, betrachten die Haitianer sich als ein stolzes Volk, sie lieben ihr Land so wie es ist und scheinen damit zufrieden zu sein: «Wir wollen hier keine Cornflakes oder Coca-Cola. Wir haben Fruchtsaft. Uns geht es gut hier», sagt Theodor, ein Motorradfahrer aus Petit Goave (Abbildung 6, S.32). Caritas und die Bewohner haben zum Zeitpunkt von Peterhans‘ Besuch mit dem Bau von ca. 140 Häusern noch einiges vor sich. Isabels Schwester (Maria) meint dazu, in Haiti könne man schwer planen, politische Unruhen oder Unwetter könnten die Planung ganz plötzlich auf den Kopf stellen (Abbildung 6, S.32). Isabels skizzenhafte Illustrationen passen zum Beginn dieses Neuanfangs.

Die Bewohner brauchen nicht viel, um glücklich zu sein. Aber auch Peterhans muss in der Reportage nicht dick auftragen, die einfachen Striche erwecken nicht den Eindruck mehr zu wollen, als sie sind.

Auf einer Seite der Reportage wird ein Bewohner in seinem Haus porträtiert, von dem er sagt: «Dieses Haus ist ein Schmuckstück» (Abbildung 8, S.34). Im Bild ist eine Blume in einem Plastikeimer auf einem Tisch zu erkennen. Die Zeichnung setzt die Aussage in einen anderen Kontext, in dem sie dem Text einen Kontrast bietet. Würde der Text alleine stehen, wäre es eine eindeutige Aussage. Doch in Kombination mit der Bildebene ist die Botschaft der Aussage zwiespältiger: Das Haus ist objektiv gesehen nicht wirklich ein luxuriöses Heim, für den Mann aber schon, einfach darum, weil er so stolz darauf ist. So erhält man trotz einer subjektiven Aussage einen Eindruck des Alltagslebens im beschriebenen Ort. Trotz des reduzierten, grosszügigen Zeichnungsstils tauchen immer wieder kleinere Details an Fenstern oder Fassaden auf, und auch im Text wird erwähnt, dass die Bewohner Cabarets z.B. die Farbe der Türe und Fenster sowie die Ausrichtung des Hauses selber wählen können. Sie sollen sich laut Caritas in ihrem Zuhause wohl fühlen. Dies wirft die Frage nach dem Verhältnis zwischen Caritas und den Bewohnern auf: Wie gehen die Leute damit um, sich von «wohlhabenden» Fremden helfen zu lassen, ohne ihr Haus als reines Spendengeschenk zu betrachten? Es wird erwähnt, dass die Bewohner beim Bau ihrer Häuser mitanpacken sollen, damit sie einen stärkeren Bezug dazu entwickeln.

35

Abbildung 8: Piti Piti Zwazo FĂŠ Nich, Isabel Peterhans

36

2 2.3 2.3.3

Hauptteil Empirie Isabel Peterhans

Die akzentuiert eingesetzte Farbe steuert den Blick nicht nur auf Einrichtung und Kleidung, sondern auch auf die Pflanzen. Die Bäume, die in der Reportage immer wieder vorkommen, symbolisieren die uralten Traditionen und Glaubenswerte. Eine – farbige – Seite ist ganz einem grossen Mapoubaum gewidmet, welcher laut einer Einheimischen auf keinen Fall Neubauten weichen darf, weil das Unglück bringen würde (Abbildung 8, S.36). Damit werden die Traditionen des Dorfes, aber auch Caritas als respektvolle Organisation dargestellt.

Ein erster Eindruck der Personen wird schon allein durch Frisur oder Kleidung vermittelt. Auf einer Seite der Reportage sehen wir Atina, eine Bewohnerin von Cabaret, (Abbildung 9, S.36). Sie habe noch keine Möbel, sagt Atina, aber erweist sich trotzdem als gastfreundlich; die Zeichnung charakterisiert sie mit markanten Gesichtszügen, gekleidet in einen geblümten Rock. Sie wirkt nicht blossgestellt, was eine Fotografie eventuell bewirken könnte. «Zeichnen ist unglaublich langsam. Ich sitze den Menschen gegenüber, schaue sie immer wieder an, ich bin da und nehme sie wahr. Viele haben irgendwann von sich aus angefangen zu erzählen. Einfach so. Jeder Mensch freut sich, gezeichnet zu werden.» (Isabel Peterhans).40 [Informationsgehalt] Peterhans’ Reportage konzentriert sich auf das Wesentliche, um die Essenz der Stimmung und Charakter des Ortes und der Menschen zu visualisieren. Dank der Mitarbeit einer Expertin, Isabel Peterhans‘ Schwester, wird auch die Rolle der Hilfsorganisation dargestellt. Isabel selbst ist nie im Bild zu sehen, sie nimmt die Rolle einer unsichtbaren Beobachterin ein. Der Inhalt ist eine Wiedergabe der damaligen Lage in Haiti und zeigt Kultur und Traditionen, die die Zerstörung der Stadt überlebt haben. Sie gewährt Beobachtungen entsprechenden Raum und geht in der Regel von journalistischer Recherche vor Ort aus. Da Peterhans in keinem Auftragsverhältnis stand und die Reportage auch nicht von Caritas zensuriert oder gegengelesen wurde, konnte sie den Fokus der Arbeit frei wählen. Auch fühlte sich nicht darin eingeschränkt, subtile Kritik einzubringen, welches die Stimme der Autorin und der Bewohner Cabarets bewahrt. Jedoch wurde Peterhans’ Reportagematerial von der Strapazin-Redaktion auf die vorgegebene Seitenzahl reduziert.41 [Publikation] Die Reportage wurde nur im Comic-Magazin Strapazin veröffentlicht, da laut Peterhans in anderen Formaten keine grosse Nachfrage nach derartigen gezeichneten Reportagen bestand. Die Skizzen von Haiti konnte sie jedoch am «Fumetto Comix Festival» in Luzern und an einer Ausstellung in Hamburg zeigen.42 [Subjektive Einsichten] Isabel Peterhans betrachtet die Zeichnung als das geeignete Medium, um Zugang zu den Menschen und ihr Vertrauen zu erhalten. Es ist ein mutiger und anspruchsvoller Entscheid, keine Referenzfotografien zu verwenden und sich vollkommen auf die Zeichnungen vor Ort zu verlassen. Umso authentischer wirkt die Arbeit, da man automatisch annimmt, dass sie nicht durch eine Nachbearbeitung verändert wurde. Ich hatte den Eindruck, durch die Augen der Reporterin an den verschiedenen Orten gewesen und den Leu40 41 42

Landolt N. (2016) Vgl. Anlage 2 Vgl. Analge 1

37

Abbildung 9: Piti Piti Zwazo FĂŠ Nich, Isabel Peterhans

38

2 2.3 2.3.3

Hauptteil Empirie Isabel Peterhans

ten unvoreingenommen begegnet zu sein, um mir ein Bild der aktuellen Lage vor Ort machen zu können. Aus meiner Perspektive scheint die Reportage die Leute und ihr Dorf nicht nur äusserlich, sondern auch charakterlich einzufangen. Ich denke, der Bezug zu und die Unterstützung durch Caritas, haben Peterhans erst eine authentische Darstellung der Lage in Haiti ermöglicht.

39

2 2.3

Hauptteil Empirie

2.3.4 «Dem Krieg entronnen» 2017 Erstellt in Zusammenarbeit mit Médecins sans Frontières/ Ärzte ohne Grenzen Verlag Edition Moderne

2.3.4.1 Produktionsanalyse [Zum Autor] Olivier Kugler ist ein deutscher Reportagezeichner, der in London lebt und arbeitet. Er studierte Grafikdesign in Pforzheim, Deutschland und bekam ein Stipendium, um von 2000 bis 2003 an der School of Visual Arts in New York zu studieren.43 [Auftraggeber] Olivier Kugler wurde von Médecins sans Frontières (MSF) damit beauftragt, syrische Flüchtlinge zu porträtieren, um auf deren Situation aufmerksam zu machen.

Dafür besuchte er das irakische Kurdistan, die griechische Insel Kos und das französische Calais.

[Thema] Im Jahr 2013 reiste er, begleitet von zwei Dolmetschern und einem Mitarbeiter von MSF, ins irakische Flüchtlingslager von Domiz. Die Bewohner erzählten von ihrem Leben in der Heimat und der Flucht aus Syrien. Herausforderungen waren, dass viele der porträtierten Leute nicht in den Medien erscheinen wollten, weil sie mögliche Schwierigkeiten mit der Lagerverwaltung befürchteten oder einer am Krieg beteiligten Partei aus dem Weg gehen wollten. Auch wurden alle Anfragen, Frauen zu interviewen, abgelehnt.

Im Juli 2015 reiste Kugler, ebenfalls in Zusammenarbeit mit MSF, auf die Insel Kos, um über die gestrandeten Flüchtlinge zu berichten, welche unter einfachsten Verhältnissen auf Dokumente für ihre Weiterreise nach Europa warten. Hier war es einfacher, Frauen zu befragen. Obwohl dies einigen von ihnen unangenehm war, erachtete es Olivier als unverzichtbar, auch ihren Erzählungen eine Stimme zu geben.

Ein knappes Jahr später verbrachte Kugler drei Tage im Flüchtlingslager von Calais, dem sogenannten Dschungel. Hier war es schwieriger, Leute zu finden, die sich interviewen liessen, 43

Vgl. Kugler O. [First Broadcast] (2014)

41

42 Abbildung 10: Dem Krieg entronnen, Olivier Kugler

2 2.3 2.3.4

Hauptteil Empirie Olivier Kugler

da sie sich damals stark im Fokus der Medien befanden und ununterbrochen Kameras auf sie gerichtet wurden.

Des Weiteren durfte er eine geflüchtete Familie in Birmingham (GB) bzw. Simmozheim in Deutschland besuchen und porträtieren.44 [Vorgehen, Material] Zu Beginn seiner Arbeit als Illustrator zeichnete Olivier ausschliesslich vor Ort, doch im Verlauf seiner Karriere begann er, wie auch für diese ReportagenSammlung, in seinem Studio nach Fotografien zu arbeiten. Diese verwendete er, nebst den aufgenommenen Interviews, um die Situationen in Form von Zeichnungen und handgeschriebenen Texten umzusetzen.45 Bevor er eine Illustration fertigstellt, schickt er, wenn er für Zeitschriften arbeitet, dem Art Director eine kleine Skizze.46 Häufig sind die Formate seiner Originalzeichnungen um einiges grösser, als sie später gedruckt werden, was ihm ermöglicht viele Details einzubeziehen, von denen die Zeichnungen Kuglers leben. Seine linearen Zeichnungen entstehen analog und werden digital mit Farbe hinterleget.47 Herausforderungen waren bei dieser Arbeit nicht nur, dass einige Geflüchtete negative Konsquenzen einer Publikation ihrer Erzählungen befürchteten, sondern auch, dass es vielen Leuten unangenehm war von einem Fremden in dieser schwierigen Situationen fotografiert zu werden; Kugler musste vor jedem Gespräch betonen, nur Zeichnungen aber keine Fotografien zu veröffentlichen.48 Vom ersten Besuch in Domiz 2013, vergingen vier Jahre bis zur Publikation von Olivier Kuglers Reportage.

[Motivation] Olivier Kugler strebt mit seiner Arbeit an, damit das Bewusstsein für die Lage der Flüchtlinge zu erhöhen.49

2.3.4.2 Produktanalyse [Eigenschaften Text- und Bildebene] Die Publikation besteht aus 36 Doppelseiten und ist in die fünf Kapitel «Autonome Region Kurdistan (Irak)», «Griechenland», «Frankreich», «England» und «Deutschland» aufgeteilt. Am Ende jedes Kapitels erhält man auf einer Art Informationsseite Antworten dazu, wie die Flüchtlingslager entstanden sind, wie MSF den Menschen vor Ort hilft und wie die Lage nach dem Besuch von Olivier aussieht oder in Zukunft sein könnte. Diese Seiten heben sich vom Comic ab. Sie bestehen aus einem konventionellen Fliesstext und sind nicht von Olivier Kugler, sondern von MSF gestaltet.

Das Layout folgt keinem Raster und die Bilder sind nicht in Panels gesetzt. Es werden ausschliesslich randabfallende Bilder benutzt, einmal eine Doppelseite im Hochformat. Die Text- und Bildebenen sind collageartig miteinander kombiniert.

44 45 46 47 48 49

Vgl. Kugler O. (2017), S.1 f.

Vgl. Kugler O. [Myriad Editions] (2018) Vgl. Kugler O. [First Broadcast] (2014) Vgl. Kugler O. [The Guardian] (2012) Vgl. Kugler O. (2017), S.1 f.

Vgl. Kugler O. [Myriad Editions] (2018)

43

44 Abbildung 11: Dem Krieg entronnen, Olivier Kugler

2 2.3 2.3.4

Hauptteil Empirie Olivier Kugler

Die Bildebene besteht aus farbig hinterlegten linearen Zeichnungen. Die Bilder enthalten eine Vielzahl von Details, Geräten oder Accessoires. Eher selten wird die Bildebene mit Fotografien kombiniert. Das ganze Buch erscheint trotz der tristen Umstände, in der sich die Interviewten befinden, sehr bunt, hauptsächlich sind die Menschen koloriert und treten dadurch in den Vordergrund. Andere Teile der Zeichnungen, wie Innenräume oder Landschaften, sind oft in blasseren Farben gehalten. Andere Teile der Zeichnungen, wie Räume oder Umgebung, sind in helleren Farben gehalten.

Die Textebene besteht hauptsächlich aus Zitaten, selten aus Anmerkungen des Autors.

Ausserdem sind kleinere Anmerkungen zu sehen, die mit einem Pfeil zu Gegenständen verweisen. Die Texte sind von Hand in verschiedenen Farben geschrieben, wobei das erste Wort eines Abschnittes meistens markant durch eine fettere Schrift und eine andere Farbe hervorgehoben wird. Der Leser wird nicht durch Texte der Seiten geleitet. Lediglich die Nummerierung einiger Texte funktionieren als Leitfaden.

[Beobachtungen Text- und Bildebene] Das auf den ersten Blick chaotisch wirkende Buch lädt den Leser dazu ein, sich Zeit zu nehmen, um immer wieder neue Dinge zu entdecken.

Kuglers Arbeitsweise nach fotografischen Vorlagen begünstigt den Detailreichtum der Zeichnungen. Im Kapitel über das Flüchtlingslager in Calais sind drei junge Männer aus Syrien in ihrer selbstgebauten Hütte abgebildet (Abbildung 10, S.42), zwei von ihnen sprechen gut Englisch. Sie erzählen über ihren schlechten Gesundheitszustand und ihren Wunsch, in Syrien, aber ohne Krieg, zu leben. Europa sei nicht ihr Traumziel, aber es sei schwierig, in ein arabisches Land zu gelangen. Rund um sie sind viele Dinge verstreut: Feuerzeuge, Tabak, Ladekabel, Plastikbecher, Toilettenpapier, Essensreste, Dreck. Auch Kuglers Aufnahmegerät ist zu sehen. Diese kleinen Alltagsgegenstände erwecken den Eindruck, dass nichts ausgelassen wurde, und geben Hinweise auf die Lebensumstände und Charaktere der porträtierten Personen.

Auf dieser Doppelseite, wie auch auf anderen, verwendet Kugler keine Panels, um Abläufe darzustellen. Gleichwohl entsteht da und dort Bewegung, angedeutet durch übereinandergelegte Skizzen, ein gutes Beispiel dafür ist eine der letzten Seiten im Kapitel über das irakische Flüchtlingslager in Domiz. Ein syrischer Lehrer bietet den jüngeren Flüchtlingen Tanzunterricht an, wir sehen einen Jungen, der Breakdance übt (Abbildung 11, S.44). Er sagt: «Ich habe beschlossen, nicht mehr über meine Zukunft nachzudenken… sonst würde ich völlig verzweifeln und bekäme einen Nervenzusammenbruch.» Mehrere verschiedene Positionen der «Dance moves» sind transparent übereinandergelegt und erwecken den Eindruck von Bewegung. Die Dynamik der Bewegung und die Freude, die der Junge daran hat, sind deutlich zu erkennen.

Diese Überlagerung mehrerer – oft nur angedeuteter – Zeichnungen ist ein Markenzeichen Kuglers, genauso wie die detailgenaue Wiedergabe von Gegenständen oder das Einfügen kleinerer Sprechblasen rund um eine porträtierte Person. Die Platzierung aller Sprechblasen eines Gesprächs auf nur ein bis zwei Seiten erweckt den Eindruck, dass in kurzer Zeit viel gesagt wurde und dass bei den Flüchtlingen ein Bedürfnis besteht, ihre Erlebnisse teilen zu können und ihre Meinung zu äussern.

45

46 Abbildung 12: Dem Krieg entronnen, Olivier Kugler

2 2.3 2.3.4

Hauptteil Empirie Olivier Kugler

Die Reportage verdichtet mit Hilfe der Zeichnung längere zeitliche Abläufe auf wenigen Seiten. In einer Anmerkung des Autors erfährt man, dass er mit seinen Dolmetschern sogar knapp eine Stunde lang bei einer syrischen Familie im Lager zu Besuch war. Die Aussagen dieser Stunde finden sich konzentriert auf einer Buchseite wieder.

Die Gesichtsausdrücke der Leute wirken sehr authentisch und vermutlich nicht durch den Zeichner beschönigt. Die meisten abgebildeten Menschen schauen dem Betrachter direkt in die Augen, wodurch man sich stark angesprochen fühlt. Auf der letzten Seite im Kapitel über Griechenland ist eine junge Frau namens Amira mit ihrem neugeborenen Baby zu sehen (Abbildung 12, S.46). Ihre Haare sind zerzaust, das Gesicht leicht gerötet, und sie hält ihr Baby in der Armen, während sie von ihrem strapaziösen Weg bis zur Insel Kalymnos erzählt, wo sie später mit Hilfe von MSF im Spital ihr Kind zu Welt brachte.

Die Illustrationen haben nicht die dieselbe Schockwirkung wie eine Fotografie, aber der Zeichner versucht, Authentizität und Realitätsbezug durch den detailgetreuen Stil zu erzeugen. Beispielsweise zeigt ein syrischer Flüchtling namens Wisam im Kapitel «England» die Narben von Schusswunden an seinem Bein, aber durch die Umsetzung der Zeichnung wirkt das Bild, anders als bei einer Fotografie, nicht ekelerregend (Abbildung 13, S.48). Selten verwendet Kugler Fotografien als Stilmittel in der fertigen Reportage, ein Beispiel dafür ist auf der gleichen Seite zu sehen. Mohamad (Wisams Sohn) zeigt Fotos von Kriegsgeräten auf seinem Smartphone. Dabei zeichnet Kugler nicht nur die Situation, sondern verwendet zusätzlich eine Fotografie des Bildschirmes. Die Fotografie, etwas unscharf, schafft eine weitere Ebene der Glaubwürdigkeit, ohne aber eine grössere Wichtigkeit zu bekommen als die Zeichnungen.

Kugler meint, die Selektion der Vorlagebilder sei manchmal rein visuell begründet. Es könne auch mal vorkommen, dass er eine Person nur wegen ihrer spannenden Kleidung zeichne. Er selbst findet, vor allem die Zitate seien ein Beweis für die Wahrheit der Inhalte.50 [Informationsgehalt] Die Rollen in der Reportage sind klar definiert. Sie bestehen aus den interviewten Flüchtlingen, den Mitarbeitern von MSF, zwei Dolmetschern, dem Reporter Olivier Kugler, und seltener aus der eigentlichen Bevölkerung der im Buch erwähnten Orte.

Manchmal wird die Figur des Dolmetschers in den Zeichnungen angedeutet, und Olivier Kugler taucht in seinen Kommentaren, nicht aber in den Zeichnungen auf. Ein typisches Beispiel dafür ist eine Anmerkung, die er zu einem Besuch bei einer Flüchtlingsfamilie macht: «Julien, Mazen (unser Dolmetscher) und ich hatten schon fast eine Stunde im Zelt der Familie verbracht, als sich unter den Decken auf der Matratze etwas bewegte: Einer von Ahmeds Teenager-Söhnen hatte sich dort versteckt ... War es ihm peinlich? Ich wagte nicht zu fragen.» Mit diesem Kommentar teilt uns Kugler mit, dass er einerseits sehr neugierig ist, andererseits jedoch in ungewohnten Situationen durchaus unsicher ist, wie das wohl jeder andere auch wäre.

Dies führt dazu, dass der Leser sich mit dem Reporter identifiziert und mit ihm fühlt.

50

Vgl. Kugler O. [The Guardian] (2012)

47

48 Abbildung 13: Dem Krieg entronnen, Olivier Kugler

2 2.3 2.3.4

Hauptteil Empirie Olivier Kugler

Die Texte und Bilder von MSF ergänzen, nebst den Informationsseiten am Ende jedes Kapitels, die Fülle der Informationen. So berichtet das psychologische Team von MSF am Anfang der Reportage über die Probleme beim Überwinden kultureller Barrieren zwischen ihnen und den Bewohnern des Camps in Domiz (Abbildung 14, S.50).

Kuglers Reportage zeigt verschiedene Länder und Leute, die von der Flüchtlingsthematik betroffen sind. Im irakischen Domiz wird die Problematik der ungewissen Lage gezeigt.

Das nur temporär geplante Flüchtlingslager wird permanent, eine eigene Stadt entsteht. Wie leben die syrischen Flüchtlinge mit ihren traumatischen Kriegserlebnissen, ihren psychischen Problemen und ihrer ungewissen Zukunft? Werden sie eines Tages nach Syrien zurückkehren, oder werden sie sich auf den Weg nach Europa machen? Durch die 2016 erfolgte Schliessung der Balkanroute sitzen die Menschen in Griechenland fest, ihr Bedarf an Unterstützung ist gross. Und auch im «Dschungel» von Calais in Frankreich wissen die Leute nicht weiter; 2015 gleicht das Lager eher einem Slum als einer Notunterkunft.51 Ein spannender Aspekt ist, dass die Reportage über eine längere Zeit realisiert wurde, so werden Entwicklungen in der Flüchtlingsproblematik sichtbar, individuelle Schicksale werden den Lesern nachdrücklich vor Augen geführt. Kugler hat das Thema auf packende Art verfolgt, leider ist es immer noch aktuell.

Jon Levy, Bildredakteur bei Médecins Sans Frontières in Grossbritannien und Verantwortlicher für das Foto- und Video-Archiv, hat durch seine Tätigkeit Olivier Kugler kennengelernt. Er sagt zu Kuglers‘ Arbeit: «(…) Oliviers Geschichten zeigen Menschen, die einst ein normales Leben geführt und ähnliche Ziele verfolgt haben wie wir. Trotz der Gewalt und der schrecklichen Not, die sie erlebt haben, und trotz allem, was ihnen von den Regierungen Europas zugemutet wird, um sie von unseren Ländern und unserem Gewissen fernzuhalten, überraschen und berühren uns die Menschen in Oliviers Zeichnungen mit ihrem ungebrochenen Glauben an eine friedlichere Welt.»52 [Publikation] Kuglers erste Zeichnungen aus Domiz wurden international publiziert und gewannen im Jahr 2015 den «World Illustration Award», ebenso waren sie 2018 am «Fumetto Comix Festival» in Luzern, sowie in Deutschland und England ausgestellt.53 Für seine Reportage «Dem Krieg entronnen» erhielt Kugler 2018 den Gold Jury Prize am «European Design Award» in Oslo. Die Originalskizzen und fertigen Seiten der Publikation waren im August 2018 Teil der Gruppenausstellung «Zeich(n)en der Zeit, Comic-Reporter unterwegs» im Stadtmuseum Erlangen in Deutschland.54 [Subjektive Einsichten] Ich bin erstaunt, wie stark die Reportage von Olivier Kugler meine Sicht auf das behandelte Thema verändert hat. Natürlich hatte ich zuvor in den Nachrichten bereits vom Krieg in Syrien gelesen und gehört, aber der Konflikt hatte mich nie wirklich 51 52 53 54

Vgl. Kugler O. (2017), keine Seitenangabe Kugler O. (2017), keine Seitenangabe Vgl. Kugler O. [PixelGarage] (2017) Vgl. Kugler O. (kein Datum)

49

50 Abbildung 14: Dem Krieg entronnen, Olivier Kugler

berührt, er kam mir so weit weg vor. Nach dem Lesen von Kuglers Reportage kann ich besser nachvollziehen, in welcher Lage sich die Flüchtlinge befinden. Aus anonymen Flüchtlingen wurden Menschen, Familien und Freunde mit einer reichen Geschichte.

Inspirierend an Kuglers Werk ist, wie er den lockeren Charakter der Zeichnung trotz Vorlagen beibehält und sich viele Freiheiten in der Kombination von digitalen und analogen Medien nimmt. Sein Stil zeigt zwar ganz offensichtlich die digitale Bearbeitung und also auch, dass die Zeichnungen letztlich im Atelier entstanden sind. Doch wirken die Bilder trotzdem äusserst authentisch, was mit Sicherheit an den vielen persönlich gefärbten Informationen auf visueller und inhaltlicher Ebene liegt.

51

2 2.3

Hauptteil Empirie

2.3.5 «Bosnien» 2000 (Erstausgabe unter dem Titel «Safe Area Gorazde») 2009 (Deutsche Übersetzung unter dem Titel «Bosnien») Verlag Fantagraphics Books (Englisch) Edition Moderne (Deutsch)

2.3.5.1 Produktionsanalyse [Zum Autor] Joe Sacco wurde 1960 in Malta geboren, er studierte erst Journalismus an der University of Oregon, später arbeitete er für den Verlag Fantagraphics und kreierte seine eigene Comic-Buchreihe «Yahoo». 1991/1992 bereiste er erstmals Israel und die palästinensischen Gebiete. Seine Eindrücke veröffentlichte er in neun Comic-Heften, die unter dem Titel «Palestine» erschienen. Dafür erhielt er 1996 den American Book Award. Als Reportagezeichner ist Sacco neben seinen Buchprojekten unter anderem für Time Magazine, Guardian und das New York Sunday Magazine tätig.55 [Thema] Die Aufmerksamkeit der Medien lag am Ende des Krieges weniger beim «unattraktiven» Gorazde, als bei bekannteren Orten, wie beispielsweise Sarajevo. Doch das heisst nicht, dass Gorazde weniger vom Krieg betroffen gewesen wäre.56 «Gorazde war im Bosnienkrieg von 1992 bis 1995 heftig umkämpft, 1993 wurde die Stadt zur UN-Schutzzone erklärt.

Der komplett von der Föderation Bosnien und Herzegowina abgeschnittenen Enklave gelang es trotz schrecklicher Entbehrungen, sich aus eigener Kraft gegen die Serben zu verteidigen, im Gegensatz zu anderen mehrheitlich von Bosniern bewohnten Städten wie etwa Srebrenica oder Zepa. Joe Sacco besuchte 1995 mehrmals die bosnische Stadt Gorazde und dokumentierte an diesem Beispiel das Aufkommen von Nationalismus, Rassismus und Unmenschlichkeit.»57 [Auftraggeber] Sacco hatte bei dieser Arbeit keinen Auftraggeber und bestimmte das Thema selbst.58

55 56 57 58

Vgl. Sacco J. (2009), Umschlag Vgl. Sacco J. (2009), Vorwort Sacco J. (2009), Umschlag Vgl. Sacco J. (2009), Vorwort

53

Abbildung 15: Bosnien, Sacco Joe

54

2 2.3 2.3.5

Hauptteil Empirie Joe Sacco

[Vorgehen, Material] Saccos Arbeit vor Ort unterscheidet sich grundsätzlich nicht von der eines klassischen Journalisten. Er recherchiert im Vorfeld, interviewt Leute, schreibt Notizen, macht Referenzfotografien und hält in seinem Tagebuch Beobachtungen fest. Der Unterschied ist lediglich, dass er dabei visuell denkt und stets im Hinterkopf behält, dass er später das gesammelte Material in Form eines Comics rekonstruieren wird. Seine Reportagen enthalten oft auch Passagen über vergangene Ereignisse, die er selber nicht erlebt hat. Falls möglich, besucht er die Orte, von denen die historischen Erzählungen handeln, um eine möglichst akkurate Konstruktion machen zu können. Meistens zeigt er den interviewten Menschen einige seiner früheren Arbeiten, damit sie verstehen, wie er mit ihren Aussagen umgehen wird und er sich nicht lange erklären muss. Der nächste Schritt in seiner Arbeit ist, ein Skript zu schreiben. In Fall von «Gorazde» vergingen mehrere Jahre zwischen der Recherche und dem Zeitpunkt, an dem er tatsächlich mit dem Zeichnen anfing. Fünf Monate verbrachte er in Gorazde, wo er so viel wie möglich in Texten, Fotografien und kleinen Skizzen festhielt. Für seine Zeichnungen verwendet Sacco Tusche und Feder; er meint, er kenne sich überhaupt nicht mit Computern aus und habe nicht einmal einen Scanner zu Hause.59 [Motivation] Seine Motivation, Reportage-Comics über Kriegsgebiete dieser Art zu realisieren, besteht darin, dass ihn diese Themen einfach nicht loslassen und er eine gewisse Verpflichtung fühlt, mit seinen bestmöglichen Fähigkeiten die jeweilige Situation zu beleuchten und denjenigen eine Stimme zu geben, die von den Massenmedien kaum berücksichtigt werden.60

2.3.5.2 Produktanalyse [Eigenschaften Text- und Bildebene] Saccos Buch «Bosnien» ist in mehrere Kapitel unterteilt, insgesamt umfasst das Buch 227 Seiten. Die auf Erinnerungen basierenden Erzählungen und historischen Anmerkungen sind mit schwarzem Hintergrund gekennzeichnet, eigene Erlebnisse Saccos hingegen sind weiss hinterlegt. Das ganze Buch ist in Schwarzweiss gehalten.

Das Layout besteht aus recht klassisch angewendeten Panels, die, wenn es thematisch passt, aufgebrochen werden. Sacco verwendet für seinen Comic einen ziemlich realistischen Stil, auch wenn seine Figuren manchmal wie Karikaturen erscheinen. Mittels Schraffuren und starken Hell-Dunkel-Kontrasten entsteht Tiefe im Bild. Es kommen viele Details vor, die Seiten sind gut gefüllt. Sacco nutzt die Seiten bis zu den Rändern aus und nimmt sich genügend Platz, um nicht nur eine Momentaufnahme zu zeigen, sondern braucht die Panels, um verschiedene Ansichten und Gesichtsausdrücke zu zeigen.

Der handgeschriebene Text ist in kleineren viereckigen oder runden Sprechblasen platziert, die über die ganze Reportage verteilt sind. Die runden werden für direkte Zitate der Leute und die eckigen für die Erzählstimme Saccos, die Beobachtungen und Fakten enthalten, 59 60

Vgl. Sacco J. [Walker Art Center] (2009) Vgl. Sacco J. [Walker Art Center] (2009)

55

Abbildung 16: Bosnien, Joe Sacco

56

2 2.3 2.3.5

Hauptteil Empirie Joe Sacco

verwendet. Letztere sind entweder in die Panels integriert, flattern aber manchmal auch wie Flugblätter über die Bilder.

[Beobachtungen zu Text- und Bildebenen] Die erste Seite der Reportage zeigt in einer Totale einen Konvoi von UN-Lastern bei der Fahrt nach Gorazde im Herbst 1995 (Abbildung 15, S.55). Man erkennt die typischen Merkmale einer bosnischen Stadt, mit der ihr eigenen Architektur, den typischen Giebeln und Fenstern. Die Strasse, auf der die Laster fahren, ist mit Granattrichtern übersät. Als Leser befinde ich mich nicht an einem x-beliebigen Ort, sondern genau dort, im vom Krieg geschundenen Gorazde. Ständig werden beim Lesen der Reportage Informationen visuell vermittelt, z.B. über die Kleidung der Leute oder den Zustand der Häuser, die schlechten Lebensbedingungen und die Spuren des Krieges. «Glücklicherweise gibt es keinen Stilführer, der dem Comic-Journalisten vorschreibt, wie er oder sie solche Details richtig erfasst. Der Zeichner hat beim Zeichnen die eigentliche Wahrheit im Kopf, nicht die buchstäbliche, was eine grosse Vielfalt von Interpretationen und somit auch Stilen zulässt.

Keine zwei Zeichner werden einen UN-Laster gleich zeichnen, auch dann nicht, wenn sie mit demselben Material arbeiten.»61 Im Kapitel «Verschwinden», sehen wir Sacco selbst, inmitten von Einheimischen, bei einem wilden Gelage kurz nach seiner Ankunft in Gorazde. (Abbildung 16, S.56) Ein Lehrer namens Edin hatte die Party organisiert. Die ausgelassene Stimmung kann man nicht nur an den Gesichtsausdrücken, sondern auch in der Anordnung der Panels erkennen, sie lösen sich vom starren Raster und neigen sich, auch sie vom selbstgebrannten Schnaps beflügelt, in alle Richtungen. Gorazde war lange vom Rest der Welt abgeschottet gewesen und die Bewohner hatten praktisch keinen Kontakt mehr mit der Aussenwelt gehabt, so dass die Pizza-Party von Edins Freundin Nina zu einem höchst ausgelassenen Fest wird.62 Es ist auch Ninas Sohn Mela zu sehen, sein Gesicht vernarbt von Granatsplittern. Er setzt sich nahe zu Sacco aufs Sofa und will schliesslich auch noch mit dem Fremden tanzen, so dass Sacco hautnah zu spüren bekommt, dass er als Journalist aus dem Ausland die lange vermisste Aussenwelt repräsentiert.

Mittels historischer und geografischer Passagen schafft Sacco den Kontext, in den er seine persönlichen Erlebnisse einbettet. Im Kapitel «Der erste Angriff», werden die ersten Kämpfe in Gorazde im Jahr 1992 und die schrecklichen Erlebnisse der bosnischen Bevölkerung geschildert (Abbildung 17, S.59). Izet, ein Bewohner Gorazdes, erzählt, wie er versuchte, mit Frau und Kindern vor dem Angriff der Serben zu fliehen und dabei all seine Habseligkeiten und beinahe auch sein Leben verlor. Er erzählt, wie aus seinen serbischen Nachbarn, mit welchen er und seine Familie einst orthodoxe Weihnachten feierten und die sie zu Hochzeiten einluden, Feinde wurden, wie sie die Häuser der Bosnier niederbrannten. Die Erzählungen Izets werden von eindringlichen Bildern begleitet und sorgen dafür, dass man sich unmittelbar in diese Zeit des Schreckens versetzt fühlt. Der schwarze Hintergrund auf dieser und anderen Seiten unterstreicht die Brutalität dieser Szenen.

61 62

Sacco J. (2018), S.3 Vgl. Sacco J. [Walker Art Center] (2009)

57

Abbildung 17: Bosnien, Joe Sacco

58

2 2.3 2.3.5

Hauptteil Empirie Joe Sacco

Für Sacco bedeutete es sicher einen Vorteil, in keinem Auftragsverhältnis zu stehen und nicht an eine Anzahl Seiten gebunden zu sein, deshalb geniesst er die Freiheit, den Fokus nicht nur auf die aktuelle Situation in Gorazde richten zu müssen, sondern sich auch um Details zu kümmern, die bei einer Auftragsarbeit untergegangen wären. So zeichnet er im Kapitel «Das tiefe Dunkel» Männer und Frauen, die Holz hacken, um ihre Häuser in der kalten Jahreszeit heizen zu können (Abbildung 18, S.60). Über fünf Seiten hinweg widmet er sich den Menschen Gorazdes, welche unter einfachsten Bedinungen, ohne Strom und Leitungswasser, leben mussten, da das Wasserkraftwerk von den serbischen Gegnern übernommen worden war.

[Informationsgehalt] Joe Sacco meint, der Vorteil seiner Art des Journalismus sei, dass sich die Leute ihm gegenüber weniger verstellten und es ihm ermöglichten, Beziehungen aufzubauen, da er sich häufig länger vor Ort aufhält als «normale» Journalisten. Das biete eine gute Plattform für authentische Geschichten und Erzählungen. Sacco hatte ein sehr enges Verhältnis zu der Familie, bei der er in Gorazde wohnen konnte. Als er im Winter krank wurde, machten sie sich zwar ein wenig über ihn lustig, kümmerten sich aber wiederum gut um ihn und heizten das Haus speziell für ihn ein paar Grad wärmer. Durch diese Nähe zu den beschriebenen Personen sei es aber auch schwierig, eine sogenannte objektive Reportage zu schreiben.

Sacco versucht gar nicht erst, die «unsichtbare» Rolle des Journalisten einzunehmen, sondern lässt eben genau diese persönliche sehr subjektive Seite ganz offensichtlich in die Reportage einfliessen, indem er sich selbst als Protagonisten zeichnet, was beim Betrachter – im besten Fall – die Glaubwürdigkeit der Reportage erhöht.63 Und auch wenn ihm sein Thema über den Kopf wächst, schreibt er darüber. Wie z.B. auf Seite 192, gegen Schluss des Buches, wo er entnervt sagt: «(…) Ich wollte hunderttausend Meilen zwischen mich und Bosnien bringen. Zwischen mich und diese ekelhaften Leute und ihren Scheisskrieg und die erbärmlichen Aussichten … Bei Edin musste ich mich übergeben, danach ging es mir besser, danke».

Der Autor setzt sich sehr stark für die gezeichnete Reportage im Journalismus und die Glaubwürdigkeit der Zeichnung ein. Eine Zeichnung könne nie neutral sein, sondern ergreife gezwungenermassen Partei. Laut Sacco «(...) kann (...) eine solche Umsetzung niemals perfekt sein, denn eine Zeichnung reflektiert immer die Vorstellung des Zeichners. (...) Tatsachen (ein Lastwagen mit Gefangenen fuhr die Strasse entlang) und Subjektivität (die Art, wie die Szene gezeichnet ist), schliessen sich nicht gegenseitig aus.».64 Er strebt danach, herauszufinden was passiert ist und sucht nicht nach einer sowieso unmöglichen Ausgewogenheit oder gar nach der Wahrheit per se.65 [Publikation] 2001 erhielt Joe Sacco für die Originalausgabe von «Safe Area Gorazde» den amerikanischen Eisner Award.66 Eine Zusammenstellung von Originalzeichnungen, unter 63 64 65 66

Vgl. Sacco J. (2018), S.4 Sacco J. (2018), S.4 Vgl. Sacco J. (2018), S.5 Vgl. Fantagraphics (kein Datum)

59

Abbildung 18: Bosnien, Joe Sacco

60

2 2.3 2.3.5

Hauptteil Empirie Joe Sacco

anderem aus seinen Reportagen «Bosnien» und «Palästina», wurde vom November 2015 bis April 2016 zum ersten Mal in Europa im Cartoonmuseum Basel gezeigt.67 [Subjektive Einsichten] Mit Joe Saccos Reportage «Bosnien» hat sich für mich eine neue Welt geöffnet. Im ersten Moment erschien mir die Arbeit derart authentisch, dass ich dachte, Sacco habe die Illustrationen vor Ort gezeichnet. Mit der Kombination von realistischem Zeichnungsstil, der geschickten Anordnung der Panels und der persönlichen Art, seine Erlebnisse zu erzählen, schafft er eine ansonsten unerreichte Wahrhaftigkeit, die mich immer wieder beeindruckt.

67

Vgl. Cartoonmuseum Basel (kein Datum)

61

2 2.3

2.3.6 Vergleich Alle drei der von mir beschriebenen Reportagen haben gemeinsam, dass sie die persönlichen Geschichten von Menschen aufzeigen wollen, die das Pech hatten, in grosse und brutale Ereignisse zu geraten. Die Reportagen beschreiben andere Situationen und Geschehnisse, als sie für gewöhnlich in Massenmedien wiedergegeben werden, in denen sich die Berichte meistens auf die Gesamtsituation und weniger auf Individuen beschränken.

Kugler hatte für seine Arbeit einen Auftraggeber (Médecins sans Frontières), Peterhans für ihre eine minimale finanzielle Unterstützung seitens Caritas. Trotzdem waren beide bezüglich der Umsetzung ihrer Recherchen weitgehend frei. Sie hatten keine inhaltlichen oder visuellen Vorgaben bekommen, nur durften sich die Reportagen – weder auf Caritas noch auf MSF – rufschädigend auswirken. Die noch weitergehende Unabhängigkeit Saccos zeigt sich aber in verschiedenen Aspekten, angefangen mit der Wahl des Themas. Sacco war ganz bewusst nicht nach Sarajevo gereist, sondern ins kleinere und unbekanntere Gorazde, welches der Aufmerksamkeit der Medien lange entgangen war. Alle drei Reporter lassen wiederholt persönliche Kommentare einfliessen, doch nirgendwo sind diese so präsent wie in Saccos Arbeit. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, er muss sich nicht um den Ruf irgendwelcher Auftraggeber oder Organisation kümmern, es gibt für ihn auch keine fixen Abgabetermine. Aber auch in der Länge unterscheiden sich die Arbeiten. Sacco vertieft sich auf mehr als zweihundert Seiten in eine Vielzahl detailliert geschilderter Geschichten, während Kugler seine Besuche verschiedener Orte und Menschen auf wenigen Seiten zusammenfasst und verdichtet. Peterhans’ Reportage lässt kleineren Geschichten grossen Platz, doch kann der Umfang und die Ausführlichkeit ihrer Arbeit nicht mit den anderen beiden verglichen werden, da sie viel weniger lang vor Ort war.

Die drei analysierten Reportagezeichner wollen mit ihren Arbeiten, anders als «normale» Journalisten, nicht einfach eine packende Story produzieren. Trotzdem müssen auch sie einen Zugang zu den Leuten finden, die sie befragen wollen, was je nach Thema oder Ort schwieriger oder einfacher sein kann. In Saccos Geschichten begrüssen die Leute die Journalisten mit offenen Armen, da sie lange von der Aussenwelt abgeschottet waren. Kugler und Peterhans hingegen wurden jedoch mit Leuten konfrontiert, die von Erlebnissen mit anderen Journalisten eingeschüchtert und zum Teil erst bereit waren, Auskunft zu geben, nachdem ein Vertrauensverhältnis aufgebaut worden war.

Die meisten Menschen fühlen sich geschmeichelt, wenn sich jemand die Zeit nimmt sie zu zeichnen. Diese Tatsache nützen die drei Reportagezeichner auf verschiedene Arten aus. Peterhans vielleicht am direktesten, da sie vollkommen auf die Verwendung von Fotografien verzichtet und den Leuten ausschliesslich mit ihrem Skizzenbuch und ihrem Handy (für Audio-Aufnahmen) gegenübersitzt. Kugler und Sacco kommunizieren deutlich, dass die geschossenen Fotografien lediglich als Vorlage für Zeichnungen dienen. Doch sicherlich beeinflusst die Verwendung der Fotografie den Charakter und die Glaubwürdigkeit der gezeichneten Reportagen.

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Hauptteil Empirie

Die untersuchten Arbeiten unterscheiden sich stark in Stil und Komposition der Bilder.

Sacco benutzt für seine Reportage einen eher filmischen Stil, der dem Leser immer wieder vor Augen führt, dass der Autor auch eine Art Regisseur ist. Szenen werden in verschiedenen Perspektiven gezeigt und die Komposition der einzelnen Seiten ist sorgfältig geplant. Saccos Ausbildung zum Journalisten wird vor allem dann sichtbar, wenn der Schwerpunkt mehr auf dem Skript und den ausgearbeiteten Geschichten als auf «Momentaufnahmen» liegt. Das Gegenteil ist in der Reportage von Isabel Peterhans der Fall, die vom spontanen «unausgearbeiteten» Stil lebt, dem man ansieht, dass an Ort und Stelle gezeichnet wurde. Dies beeinflusst auch Geschichte und Auswahl der Perspektiven und die Kompositionen der Zeichnungen. Da die Zeichnung ein arbeitsintensives und daher langsames Medium ist, besteht die Reportage eher aus stilleren Bildern und Porträts, frei von Überflüssigem, auf das Wichtigste heruntergebrochen. Kuglers Arbeit wiederum ist eine Mischung aus den Vorgehensweisen der anderen beiden Gestalter. Er geht zwar von Fotografien aus, behält aber einen spontaneren, imperfekten Stil bei. Bei ihm geht der Aufbau in eine ähnliche Richtung wie bei Peterhans, die Bilder sind meist Momentaufnahmen der Interviewsituation, doch sind sie bei Kugler Komplexer, detaillierter und beinhalten eine viel grössere Textmenge.

Letztlich beweisen jedoch alle drei in ihren Arbeiten die Subjektivität der Zeichnung.

Die individuelle Vorgehensweise beeinflusst Stil und Inhalt der Arbeiten, doch der Verzicht auf Fotografien oder das ausschliessliche Zeichnen vor Ort sind beides noch lange keine Voraussetzung für glaubwürdige Reportagen. Je nach Vorlieben des Zeichners und der behandelten Thematik kann sich die eine oder andere Praxis besser oder schlechter eignen.

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Im letzten Teil dieser Arbeit wird die ganze Arbeit zusammengefasst und ein Ausblick formuliert.

3

Fazit

3.1 Zusammenfassung In diesem abschliessenden Text möchte ich die Eigenschaften gezeichneter Reportagen und deren Stärken und Schwächen zusammenfassen.

In der gezeichneten Reportage fliessen die inhaltlichen Anforderungen des Journalismus mit der zeichnerischen Umsetzung des Comics zusammen. Es sind zwei Medien, die sich gegenseitig ergänzen. Eine Reportage sollte, basierend auf subjektiven Eindrücken des Berichterstatters, die Wahrheit so gut wie möglich darstellen. Dafür eignet sich die Zeichnung, gepaart mit Text, sehr gut, da sie unter anderem die augenfällige Handschrift des Gestalters in sich trägt und somit dem Leser die Subjektivität nicht vorbehalten kann. Auf Grund vieler Varianten und fliessender Übergänge der Definitionen in diesem Bereich, sind die Vor- und Nachteile der gezeichneten Reportage relativ zu betrachten.

Die visuellen Eigenschaften können, wie im Comic üblich, stark variieren: Ob vor Ort oder im Studio gezeichnet, analog oder digital ausgeführt, mit grosszügig gefüllten Seiten oder kleineren Panels. Je nach Vorlieben des Gestalters können verschiedene Formen der Bildebene entstehen. Diese mit der Textebene zu verflechten, spricht die Sinne auf vielen Ebenen an.

Der Autor hat die Möglichkeit, die Lebensumstände interviewter Leute oder Eigenschaften eines Ortes im Bild einfliessen zu lassen, ohne solche Informationen in Worten wiederholen zu müssen.

Ein konkretes Merkmal der Reportage ist die Interaktion. Je nach Lage der besuchten Orte kann es von Vorteil sein, den Leuten mit einem Skizzenbuch zu begegnen, um einen persönlicheren Zugang zu den Menschen aufzubauen, statt sich hinter einer Kamera zu verstecken. Zur Genüge belegt ist jedenfalls, dass sich die meisten Leute darüber freuen, gezeichnet werden.

Entsprechend der Vorkenntnisse und Vorlieben des Autors kann die Arbeit eher emotions- oder faktenbasiert erscheinen. Der Inhalt der gezeichneten Reportage muss aber nicht zwingend von einem Zeichner alleine erarbeitet werden, sondern kann auch durch die Zusammenarbeit mit einem Journalisten entstehen. Dadurch verringert sich die Gefahr, die akkurate Wiedergabe der Fakten zu vernachlässigen.

Ein Nachteil der gezeichneten Reportage ist sicher der dafür benötigte Zeitaufwand, der es zu einem teuren Medium macht. Dennoch werden die Autoren meist schlecht bezahlt, was daran liegen könnte, dass Vorurteile gegenüber dem Medium Comic existieren, dass man gezeichnete Arbeiten als nicht glaubwürdig einschätzt. Mit der Langsamkeit des Zeichnens kann auch die Aktualität verloren gehen, was die Verbreitung und Nachfrage negativ beeinflusst. Anders als in Mainstream-Medien besteht der Inhalt gezeichneter Reportagen häufig darin, denjenigen eine Stimme zu geben, die weniger oft gehört werden. Meistens basieren die gezeichneten Reportagen auf einer persönlichen Motivation, und wenn ein Auftragsverhältnis existiert, ist es eher ein frei definiertes, welches Nuancierungen und unkonventionelle Blickwinkel im Thema zulassen.

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3 3.1

Fazit Zusammenfassung

Die Kombination aus den Berufen des Journalisten und des Zeichners ergibt ein Werkzeug der Berichterstattung mit vielen Vor- und wenigen Nachteilen. Die gezeichnete Reportage kann faktuale Themen auf emotionale Weise vermitteln, dennoch ist sie nicht mit der journalistischen Textreportage gleichzustellen, sondern muss als eine andere Form der Berichterstattung betrachtet werden.

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3

Fazit

3.2 Ausblick Während meiner Auseinandersetzung mit den vielfältigen Umsetzungsmöglichkeiten des Mediums und deren Eigenheiten habe ich mir ein grosses Hintergrundwissen angeeignet.

Ich möchte meine praktische Arbeit mit der Frage beginnen, wie ich meine Erkenntnisse der theoretischen Arbeit in die eigene Umsetzung einer gezeichneten Reportage einfliessen lassen kann. Charaktere von Leuten und Orten zeichnerisch detailliert umzusetzen, sind Anforderung dieses Mediums, denen ich mich besonders widmen möchte.

Ursprünglich wollte ich für meine Reportage ein Alters-/Pflegeheim besuchen, doch durch die weltweite Ausbreitung des Coronavirus (COVID-19) wurden meine Absichten zunichte gemacht, da gerade ältere Menschen – jetzt auch in der Schweiz – zur Risikogruppe gehören. Innerhalb von nur wenigen Wochen haben sich die Massnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus verstärkt. Verkaufsstätten, die nicht der Grundversorgung dienen, wurden geschlossen, es wird empfohlen, das Haus nicht zu verlassen, und als ich diese Zeilen schreibe, wird sogar von möglichen Ausgangssperren gesprochen.

In den untersuchten Reportagen spielt der Aufenthalt an den thematisierten Orten und der Austausch mit den dort lebenden Menschen eine grundliegende Rolle. Infolge der aktuellen Restriktionen werde ich keinen Ort besuchen geschweige denn mich mit Leuten von Angesicht zu Angesicht austauschen können. Aber ich werde versuchen, mein Thema an die Notlage, in der wir uns befinden, anzupassen.

Von meinem Zimmer aus werde ich mithilfe der digitalen Kommunikation den Orten und Leuten virtuell begegnen, um Informationen zu erhalten und die unterschiedlichen Ansichten in meiner Reportage festhalten. Ich möchte auf einer Bild- und Textebene darüber berichten, wie mit der aktuellen Krise umgegangen wird. In den Medien ist es ein ständiges Thema, doch wie reagieren Schweizerinnen und Schweizer auf die Einschränkungen und die ungewisse Lage? Was sind die Konsequenzen?

In Labors werden Corona-Tests am Laufband durchgeführt, die Einkaufszentren und Friseursalons sind leer, «social distancing» und «home-office» sind in aller Munde, die Wirtschaft lahmt, und in den sozialen Medien sind viele Fake-News und Verschwörungstheorien zur Herkunft des Virus zu lesen.

Ich setze mich mit der Frage auseinander, wie ich die Zeichnung nutzen kann, um Bilder wirken zu lassen und den von mir befragten Leuten eine Stimme zu verleihen, ohne ihnen in Fleisch und Blut begegnet zu sein. Um mich in verschiedene Orte hineinzuversetzen, brauche ich nebst einer Auseinandersetzung mit dem Thema fotografische Vorlagen und die Imagination aus Erzählungen.

Auch wenn die praktische Arbeit nicht meiner ursprünglichen Vorstellung entspricht, dünkt es mich die Aufgabe einer Reporterin, für alles offen zu sein, was sie erwartet, und sich den Umständen anpassen zu können.

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Anlage 1 Mailkorrespondenz mit Isabel Peterhans, Illustratorin 04.03.2020 Hat dir Caritas Vorgaben gemacht, wie deine Reportagen aussehen soll?

Die einzige Vorgabe war, das Wiederaufbauprojekt als Schwerpunkt zu behandeln. Da Caritas aber keine ausgearbeitete Reportage wollte, liessen sie mir die Freiheit, mit dem Material so umzugehen, wie ich wollte, es sollte einfach nicht rufschädigend wirken.

Hast du vor der Reportage noch zum Thema Haiti recherchiert?

Ja, ich habe viele Bücher über Haiti gelesen im Vorfeld und auch danach noch. Haiti hat eine wahnsinnig reiche und komplexe Geschichte. Ebenso hat dies die Entwicklungsarbeit auf der Insel.

Mit welchen Utensilien hast du vor Ort gearbeitet?

Ich habe ausschliesslich mit Buntstiften gezeichnet vor Ort. Zudem hatte ich ein grosses, rotes Skizzenbuch dabei, das ich extra für diese Reportage besorgt hatte. Aber dann liess ich es doch zuhause, weil es mir zu auffällig vorkam vor dem Hintergrund der Armut, die mich umgab. Danach habe ich in kleine Skizzenbüchlein, die meine Schwester per Zufall zuhause hatte, gezeichnet.

Wie hast du die Interviews aufgezeichnet?

Ich habe die Interviews und Gespräche mit dem Handy aufgenommen. Das half mir sehr, um entspannte Gespräche zu führen, ohne nebenbei noch Notizen machen zu müssen.

Posierten die Leute für die Zeichnungen?

Die Haitianer haben nicht viel - dafür haben Sie Zeit. Das heisst, wenn ich Gespräche geführt habe, nahmen sich die Leute gerne Zeit und setzten sich mit mir irgendwo hin.

«Posiert» haben sie nicht direkt, ich habe sie einfach gezeichnet, während sie am Erzählen waren. Wenn ich eine Zeichnung beendet hatte, zeigte ich sie jeweils den Porträtierten.

Das ergab oft lustige Kommentare, wie: «Da hast du mich ja wie eine grosse Kuh gezeichnet» oder «In Wirklichkeit bin ich viel schöner. Natürlich habe ich aber auch - was mir sehr wichtig ist - Menschen während ihrer Alltagsbeschäftigungen gezeichnet.

Am liebsten zeichne ich die Menschen, wenn sie sich gar nicht um mich kümmern und so tun, als wäre ich gar nicht da. Bei den Gesprächen kam mir vor, dass sie meine konzentrierte Aufmerksamkeit sehr genossen haben.

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Hast du auch später, in deinem Atelier, noch an den Zeichnungen gearbeitet?

Bei dieser Reportage und auch bei den Flüchtlingszeichnungen sind meine Zeichnungen ausschliesslich vor Ort entstanden. Ich mag die Direktheit der Zeichnungen. Beim Zeichnen vor Ort fliessen jeweils auch Emotionen in die Arbeit, das Zeichnen geschieht viel intuitiver. Die Zusammenstellung der Reportage geschieht dann im Atelier.

Hattest du fotografische Vorlagen?

Nein, in diesem Fall nicht. Auf Haiti zu fotografieren ist schwierig. Ich hatte ein wenig Fotomaterial, habe es aber nicht verwendet. Die Menschen auf Haiti sind sehr kritisch gegenüber klassischen Journalisten und Fotografen. Sie sind der Ansicht, dass diese ins Land kommen, ihre Armut fotografieren und damit reich werden. Daher musste ich oft erklären, dass Zeichnen etwas Langsames ist, dass man eine Zeichnung nicht «stehlen» kann, wie man das von Fotos manchmal sagt. Und reich wird man damit auch nicht.

Hast du mit anderen Leuten zusammengearbeitet, zum Beispiel beim Redigieren der Texte?

Ja, mit meiner Schwester, die ja Expertin auf dem Gebiet der Hilfswerke ist. Ich arbeite immer mit seriösen Leuten zusammen, die sich gut auskennen und meinen Text gut redigieren können. Es ist mir sehr wichtig, dass auch der Textteil stimmt, der ja eh schon viel kürzer ist, als der visuelle Teil. Zudem sind Texte meiner Ansicht nach viel schwieriger zu produzieren, da man viel konkreter, sachlicher sein muss als in den Bildern. Deshalb bin ich froh um Unterstützung.

Konntest du die Reportage - abgesehen von Strapazin - noch in anderen Magazinen oder Zeitungen veröffentlichen?

Die Reportage habe ich nur im Strapazin veröffentlicht. Es gibt leider nicht so viele Medien, die sich für gezeichnete Reportagen interessieren. Die Skizzen von Haiti habe ich jedoch am Fumetto in Luzern und an einer Ausstellung in Hamburg zeigen können.

Mit was für Schwierigkeiten musstest du dich sonst noch auseinandersetzen?

Zuerst wurde die Reportage viel länger, als ich geplant hatte. Aber für ein Buch hätte das Material nicht gereicht. Die Schwierigkeit lag dann für mich darin, das ganze Material auf so wenigen Seiten zu vereinen. Ich musste wahnsinnig viel weglassen, was mir schwer gefallen ist.

Was war dein Beweggrund, diese Reportage zu machen?

Pure Neugierde, die Welt zu entdecken und Neues zu lernen.

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Kannst du mir Tipps geben für meine eigene Reportage?

Vor Ort zu zeichnen ist grossartig, du kannst den Interviewten an Ort und Stelle deine Arbeit zeigen, womit du ihnen eine Freude machst. Es ja doch etwas Aussergewöhnliches, gezeichnet zu werden. Abgesehen davon rate ich dir, die Leute ausreden zu lassen und sie nicht zu schnell in eine bestimmte Richtung zu lenken. Und verbringe möglichst viel Zeit an dem Ort, über den du die Reportage machst, damit eine Beziehung zu den Menschen entsteht. Ich schicke dir zu diesem Thema ein paar Sätze von Ilija Trowanow, dem bulgarischen Schriftsteller, der schon viele Reportagen verfasst hat: «So nahe an die Menschen kommen, dass man aus ihrer Perspektive die Welt betrachten kann. Sich Zeit lassen, tatsächlich ankommen. Der Moment, an dem die Leute akzeptieren, dass man da ist, das heisst, wenn sie anfangen, sich normal und unverstellt zu unterhalten, wo man zwar nicht einer von ihnen wird, aber auch kein Fremdkörper mehr ist - in diesem Moment wird es interessant.»

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Anlage 2 Mailkorrespondenz mit Isabel Peterhans, Illustratorin 16.03.2020

PRODUKTIONSBEDINGUNGEN Wurdest du für die Reportage bezahlt?

Nein, ich wurde nicht bezahlt, aber die Reisespesen wurden von Caritas übernommen, also Flug, Unterkunft und ein bescheidenes Taschengeld.

Hast du von Strapazin ein Honorar erhalten?

Ja, das bei Strapazin übliche Honorar von Fr. 50.- pro Seite.

Wo siehst du einen Unterschied zwischen Reportagezeichnern und Journalisten?

Ich denke, ein Zeichner ist nicht unbedingt ein Journalist, man kann diese Jobs also nicht vergleichen. Dafür haben Reportagezeichner andere Qualitäten! Zeichnungen können vielleicht weniger Fakten vermitteln, dafür besser Emotionen, Atmosphäre, Humor etc. transportieren. Es geht also nicht darum, dass Zeichner dieselbe Arbeit leisten wie ein Journalist, sondern ergänzende Arbeit oder eben eine andere Form der Berichterstattung, welche nicht weniger Wert haben sollte, als die Arbeit eines Journalisten. Leider ist es trotzdem noch häufig so, dass Zeichner schlechter bezahlt werden als Journalisten.

EINFLUSSNAHME DER AUFTRAGGEBER Du hast ja gesagt, dass es keine grossen Einschränkungen seitens des Auftraggebers gab.

Hast du trotzdem das Gefühl, bei Caritas in deiner Arbeit beeinflusst worden zu sein?

Das ist eine gute Frage, aber da Caritas nicht mein Auftraggeber war, sondern «nur» Unterstützer, war ich sehr frei in der Gestaltung meiner Reportage. Natürlich wollte ich mich aus Respekt gegenüber der Caritas mit Kritik zurückhalten, aber ich konnte meinen Fokus frei wählen und habe auch subtile Kritik angebracht. Meine Reportage wurde auch nicht zensuriert oder gegengelesen von Caritas.

Ich denke, wenn man im Auftrag eines kommerziellen Unternehmens irgendwohin geschickt wird, ist es etwas anderes, da macht man dann eher eine «Werbereportage» und verkauft dafür seine persönliche Handschrift.

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Ehrenwörtliche Erklärung Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig angefertigt habe.

Die aus fremden Quellen direkt oder indirekt übernommenen Gedanken und Aussagen wurden als solche gekennzeichnet. Diese Arbeit wurde bisher weder einer anderen Prüfungsbehörde vorgelegt, noch veröffenlticht.

Thun 25.03.2020

Celine Künzle

Impressum Theoriearbeit BA Visuelle Kommunikation Hochschule der Künste Bern März 2020 MENTORAT Christoph Schuler TYPOGRAFIE Suisse Sign (Swiss Typefaces) SangBleu Republic (Swiss Typefaces) TEXT Celine Künzle

Abbildung 5: How we have to work, Melton Prior