BLIND DVD MAGAZINE

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AUSGABE N o 1

SEHNSUCHT.


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Alles beginnt mit der Sehnsucht. nelly sachs (1891–1970)


Inhalt

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008  Editorial 010  Sehnsucht

068  Heldsein

012  freud & hegel   014  sehnsucht nach allem   020  wildpferd   022  sommernacht   024  theater, theater

070  ich bin he–man

026  Fernweh

110  Sehen

028  braunschweig–berlin   030  i can’t relax in deutschland

112  die mystik bestimmter sehsüchte   116  samstag ist selbstmord   130  kaffee & kuchen

032  Heimweh   034  nostalgie für anfänger   036  home is where the heart is   038  fallhöhe

040  Distanz   042  paare über ihre fernbeziehungen

076  Mixtape   078  sehnsucht in der plattenkiste

142  Schluss   144  bermuda-dreieck   148  werter herr werther   154  die säure deiner gedanken   158  je t’embrasse

160  Imprint

058  Fehlen   060  monster   064  i wanna stand with you on a mountain

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Editorial

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Sie erinnern sich: An dieser Stelle eines jeden Magazins steht normalerweise ein Vorwort. Diese Einleitung könnte jedoch genauso gut ein Blindtext sein. Fest steht, dass dieses Vorwort, welches Sie gerade lesen von 130 Millionen Rezeptoren Ihrer Netzhaut erfasst wird. Die Zeilen werden dadurch in einen Erregungszustand versetzt, der sich über den Sehnerv in dem hinteren Teil ihres Gehirns ausbreitet. Von dort aus überträgt sich diese Erregung in Sekundenbruchteilen auch in viele andere Bereiche Ihres Großhirns. Ihr Stirnlappen wird nun stimuliert. Es entstehen Wellenimpulse, die Ihr zentrales Nervensystem konkret in Handlungen umsetzt. Kopf und Augen reagieren bereits. Sie folgen diesem Text und nehmen darin enthaltenen Informationen auf wie ein Schwamm. Gar nicht auszudenken, was mit Ihnen hätte passieren können, wenn dieser Blindtext durch einen echten Text oder ein echtes Vorwort ersetzt worden wäre. Mit Blindheit per Definition geschlagen, dennoch nicht unsichtbar, präsentiere ich mich nun also als unbeachtetes und ungeliebtes Stiefkind zeitgenössischer Literatur. Meine Bestimmung liegt – wie ich selbst – in engen Grenzen und ist rein platzhalterischer Natur. Kann ein missbrauchtes Wortgefüge eigentlich noch Schlimmeres erleiden, als zum Blindtext für ein Magazin Namens Blind erdacht und vor der Öffentlichkeit versteckt zu werden? Blindtext ist von Geburt an Blind. Das schlimme daran: Blindtext macht eigentlich keinen Sinn. Vor allem nicht als Vorwort. Wenn dieses Vorwort nun also Blindtext zu sein scheint, enthält es dann dennoch weitere Informationen, die auf den Inhalt der folgenden Seiten schließen lässt? Oft wird Blindtext gar nicht erst gelesen. Aber ist Blindtext deswegen ein schlechter Text? Blindtext wird niemals die Chance haben, in den wichtigsten Magazinen dieser Welt zu erscheinen. Aber ist er deshalb weniger wichtig? Sei es drum. Vor Ihnen liegt die erste Ausgabe von Blind. Blind hat in diesem Fall nichts mit blind sein zu tun. Ganz im Gegenteil. Blind ist eher als Paradoxon zu verstehen. Blind fordert auf genauer hinzuschauen. Blind ist Print und Video. Nicht dort aufhören wo es spannend wird, sondern weitermachen. Und zwar bewegt. Deshalb gibt es Blind in gleich zwei Formaten: Der cmyk Ausgabe, sowie der rgb Ausgabe auf DVD. So sind die weiterführenden Beiträge auf der DVD als Ergänzungen oder bewegte Illustrationen der Textbeiträge gedacht, denn wer will schon gerne auf der Mattscheibe lesen? Eben. Sie werden für bestimmte Beiträge dieses Heftes dreistellige Farbcodes neben den Seitenzahlen finden, die Sie im Menü der beiliegenden DVD eingeben können. Sie wissen nicht wie? Legen Sie doch einfach die DVD ein und Sie werden schon sehen, es ist wirklich ganz einfach, denn: The colour is the key – and it’s rgb. 9


Sehnsucht

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Freud und Hegel mit freund und kegel. zwei Erlärungsansätze ein Artikel von wikipedia punkt de

Sehnsucht nach Allem kontanktanzeigen im internet. partnerwahl drei, zwei, eins, keins! unkorrigiert, unzensiert Eine zusammenstellung von jan-frederic goltz

Das Wildpferd Long live the quiet , i never needed any sleep all i need is you in my life & wo ist auch egal. von per ole schmidt

Sommernacht ihr letzter freund. ihre erste grosse liebe? er ist jetzt weg. weil es so nicht mehr ging eine kurzgeschichte von katrin nagel

Theater Theater 3 fragen an christian weiss, den gründer des mehrsicht projekt theaters in braunschweig von jan–frederic goltz


FREUD&HEGEL

Im fünften Kapitel seiner Abhandlung jenseits des lustprinzips (192 0) beschreibt Sigmund Freud in der Triebtheorie, dass Triebe eher konservativer Natur sind. Das bedeutet, dass sie den bestehenden Zustand nicht nur erhalten wollen, sondern auch tendenziell zur Rückkehr in einen früheren Zustand führen: Ein Trieb wäre also ein dem belebten Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes... Im dritten Kapitel seines Aufsatzes das unbewusste (1915) erklärt Freud den Zusammenhang zwischen Trieb und Affekten, wie Gefühle und Empfindungen. Die Triebe sind seiner Meinung nach, nie Objekte des Bewußtseins, sondern sie können aber nur in der Vorstellung bestehen. Sie treten aber durch Affekte zum Vorschein. Wenn man sich nun die direkte Relation zwischen Trieben und Gefühlen vor Augen führt, so ergibt sich doch der Gedanke, dass nicht nur die Triebe als konservativ gelten, sondern auch die aus ihnen resultierenden Gefühle einen eher erhaltenden Charakter haben. Deutlich wird dieses bei dem Gefühl der Sehnsucht, die an dem Erlebten, dem Vergangenen haftet. Die Betroffenen empfinden den Zustand, in dem sie sich jetzt befinden, schwieriger als den, nach dem sie sich sehnen.

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Einen abstrakteren Ansatz findet man bei Hegel in seiner phänomenologie des geistes (1807). Hegel spricht im vierten Kapitel von einem unglücklichen Bewusstsein: Dieses unglückliche, in sich entzweite Bewußtsein muß also – weil eben dieser Widerspruch seines Wesens sich ein Bewußtsein ist, in dem einen Bewußtsein immer auch das andere haben, und so aus jedem unmittelbar, indem es zum Siege und zur Ruhe der Einheit gekommen zu sein meint, wieder daraus ausgetrieben werden. Hegel meint damit das ewige Streben nach dem unwandelbarem Wesen, dem letztlich Wahren und Gewissen. In der vom christlichen Glauben beeinflussten Kultur liegt dieses in der Sehnsucht nach dem Paradies. Diese Erkenntnis, deren Symbol die Kreuzigung Christi ist, macht dieses Bewusstsein unglücklich.

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Sehnsucht nach Allem Sehnsucht nach dir in der fremden Stadt Dort wird es mir gefallen einer gesehen Mann 50 Jahre, gebunden und doch alleine, hat sehr große Sehnsucht und Verlangen nach Zärtlichkeiten. Ich bin spontan und habe Tagesfreizeit. Welche Frau will ihre Träume und Fantasien vielleicht zusammen mit ihm leben? Nur Mut. / Ich bin ein intelligentes hübsches bezauberndes Wesen, sehne mich nach einer richtigen Familie mit einem treuen und intelligenten Partner, gerne auch älter, mit Herz und Verstand. / Sind Sie es? Die Frau, die es wagt sich auf eine Affäre mit einem Mann einzulassen, der seit langem in einer schwulen Beziehung lebt und jetzt ausbrechen will? Ich möchte es endlich erfahren und erleben wie es ist, bei einer Frau in den Armen zu liegen, ohne Ihr in die Hände zu fallen, mit Ihr zu kuscheln und Dinge zu tun, die nur ein Mann und eine Frau gemeinsam tun können. Doch wie soll Sie sein, die Frau nach der ich mich sehne? Alter, Figur, Größe und Gewicht sind egal, Hauptsache man mag sich. Ach ja, jetzt komme noch ich: Ich bin 1,90 und wiege 109 Kilo. Heterooptik sehr, sehr

diskret. Sollte die Chemie stimmen, könnte eine lange, lose Freundschaft ohne jegliche Verpflichtung und Eifersucht daraus entstehen. / Ich sehne mich nach einer Frau für eine dauerhafte Zweitbeziehung. Ich bin gebunden, suche jedoch das Kribbeln nebenher. Sauberkeit, Diskretion und Niveau werden erwartet und auch geboten. Ich bin Mitte 30, groß, und sicherlich tageslichttauglich. Ich hoffe auf diesem Weg die Frau zu finden, der es ähnlich geht wie mir. Schreib einfach, dann lernen wir uns kennen und uns weiter austauschen. Was daraus wird, sehen wir dann. Ich bin jedenfalls gespannt. / Eigentlich suche ich nur nach Jemanden der versteht wie es ist in einer Partnerschaft zu sein und doch diese Sehnsucht zu haben. Ich bin 24, neugierig, ehrlich, offen, humorvoll und recht ansehnlich. Falls du dich angesprochen fühlst, melde dich. Ich schreibe auch zurück. / Sehr Sympathischer Single, 46, sehnt sich nach Ihr, plus-minus 7 Jahre für eine Freundschaft, gerne auch für mehr. Trau’ Dich, ich denke es


wenn sie hat

Sehnsucht nach allem & Ich lache mir ins gesicht ich will Dir mir gefallen und dann wieder nicht I: joy ryder ¬ T: Sehnsucht nach allem ¬ A: VA / jetzt und alles ¬ L: Mercury Records 1981

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»wer hier einen brad pitt oder tom cruise sucht ist bei mir falsch, bin eher guter durchschnitt«

lohnt sich. / Sehnsucht nach einem liebevollen und vorallem treuen Partner, der gut zu hören kann und für mich da ist, wenn es mir einmal schlecht gehen sollte, für denn ich da sein kann wenn es ihm einmal schlecht geht. Jemandem, der mit einem durch dick und dünn geht. Ich bin ca. 1,60 groß, habe blonde Haare und blaue Augen. Du solltest treu und erlich sein, romantisch, kinderlieb und zuvehrlässig. / Ich bin 38 Jahre alt, komme aus Ost-Berlin und habe Sehnsucht nach einer netten Frau aus dem osteuropäischen Kulturkreis. Welche Nationalität Du bist ist egal, jedoch solltest Du in Deutschland leben und der deutschen und der russischen Sprache mächtig sein. Diese Anzeige ist nicht als akute Heiratsanzeige oder Affäre etc. gedacht, sondern vielmehr suche ich Dich zwecks Kontakt, netter Freundschaft, Freizeit und Sprache und vielleicht auch mehr. / Sehne mich nach Leidenschaft und Lust. Ich bin nun schon sehr lange in einer festen Beziehung. Wo die Lust und Leidenschaft einfach nachgelassen hat. Wenn Du wie ich auch auf der Suche nach fremder Haut und dem Kribbeln im Bauch bist, melde Dich doch. Ich bin sportlich, gepf legt und humorvoll. Ich antworte aber nur Antworten ohne Telefonhotline. / Ich habe so eine Anzeige noch nie geschrieben, aber irgendwann ist ja immer das erste Mal. Ich will auf diese Weise versuchen, eine nette Frau kennen zu lernen, um nicht mehr so alleine hier zu sein. Ich werde jetzt hier mal ein bisschen was über mich erzählen, und dann mal schauen, ob sich jemand meldet. Ich bin 33 Jahre, 1,73 groß, oder auch klein und schlank, habe braune kurze Haare, und braune Augen. Wer hier einen Brad Pitt oder Tom Cruise sucht, ist bei mir falsch, bin eher guter Durchschnitt. Ich bin spontan, fast immer gut gelaunt und für fast jeden Spass zu haben. Die Frau, nach der ich mich sehne, sollte ehrlich, lebenslustig und treu sein. Sollte dies auf dich zutreffen und du zwischen 25 und 34 Jahren sein, würde ich mich wirklich sehr über eine Nachricht freuen. Ich lasse mich da jetzt einfach mal überraschen, was da so kommt. / Ich, männlich, Jahre, würde gerne erotische Mails mit dir austauschen. Wir könnten uns dann unsere geheimen Sehnsüchte, Sexfantasien oder Abenteuer schreiben. Lass uns Spaß

haben ohne das Risiko, was ein reales Treffen mit sich bringt. Würde mich freuen von Dir zu hören. Versuchs einfach mal. / Romantische Sie sehnt sich nach Dir zwischen 48 und 55, ab 1,75 schlank bis normal. Ich mag keine dicken Männer, ich bin es auch nicht. / Gibt es in Kiel und Umgebung keinen lieben, treuen, ehrlichen, romantischen, tageslichttauglichen Partner für mich? Suche kein Abenteuer, sondern eine ernstgemeinte, dauerhafte Beziehung. Ich bin 1,67 groß, schlank, wirklich nicht hässlich, nicht dumm, nicht zickig, halt ganz normal, total romantisch, mache Sport, fahre gerne Fahrrad, koche gern, auch mit Dir zusammen, gemeinsame Spaziergänge, kuschelige Abende bei einem Glas Rotwein. Ich glaube daran, dass ich Dich finde, melde Dich. / Hallo, Ich bin 24 Jahre alt, humorvoll, ehrlich, nicht ganz schlank und nicht zu dick, 1,73 groß, aufgeschlossen und sehne mich nach ihm für eine feste Beziehung. Er sollte zwischen 24 und 33 Jahre sein und mit beiden Beinen im Leben stehen. Die Singlezeit war zwar ganz nett, aber nun reicht es mir, ich möchte auch wieder Sonntag etwas vorhaben und nicht ständig die Pärchen beneiden. Es muss einfach passen, also meldet euch, bis bald. / Sehnst du Dich nach dem geheimnisvollen Zauber voller Phantasie mit ihm? Romantisch, leidenschaftlich mit dem


Ziel Neuland zu betreten? Endlich wieder begehrt werden und rundum glücklich sein? Wenn du bereit bist für eine romantische, geheimnisvolle Affäre, dann lasse dich doch einfach von mir verzaubern. Ich liebe niveauvolle Kommunikation, emotionale Phantasie, Sinnlichkeit und Optimismus. Bin vielseitig interessiert an Kunst, Kultur, Astrologie, Esoterik, Erotik und Sport, wie Tennis oder Skifahren, relaxen in der Sauna und gute Gespräche mit netten Menschen. / Seit längerem habe ich schon Sehnsucht nach einer Frau ab 40, die wie ich auch, noch mal gerne das Neue, Unbekannte und Prickelnde, entdecken möchte. Bei Sympatie entwickelt sich ja vielleicht etwas. / Ich sehne mich und suche auf diesem Wege eine BiFrau, die sexy, intelligent, durchtrainiert und erfahren ist, um mit mir zusammen schöne Stunden zu verbringen. Bei gegenseitigem Gefallen habe ich nichts gegen spontane Aktionen beim ersten Date, einen One-Night-Stand oder Ähnliches. Ich bin 34 Jahre, 1,80, 62 kg, braune Augen, kurze Braune Haare, sehr weiblich und sexy. Ich freue mich auf Post von Dir. / Furcht und Liebe, verführen oder verführen lassen? Sehnsucht nach Ihr, gerne älter, vollschlank für gelegentliche Treffen und Träumen vom Liebesglück und schmerzlichen Fantasien. Darf ich dein Spielwerk sein? / Fröhliche Optimistin! Sie Mitte 50, normale Figur, 1,60 groß, geboren in der ehemaligen udssr. Ich bin Nicht-Raucher, sehr gepflegt, zuverlässig, locker, spontan, ruhig, humorvoll, unternehmungslustig, hilfsbereit, bescheiden und kann gut zuhören. Sehne mich nach einem lieben sympathischen und ehrlichem Ihm. Was ich nicht mag: Lügen, Misstrauen, Charakterlosigkeit, Egoisten. Mehr dann beim Kennenlernen. / Über sich selbst zu schreiben, ist das Schwierigste. Ich probiere es. Vor 54 Jahren in Kroatien geboren. Mit 20 nach OstDeutschland ausgewandert. Vor 3 Jahren aus einer Ehe, die 22 Jahre angedauert hat geschieden. Aus dieser Ehe gibt es meine Tochter Anne, sie studiert an der Universität und ist 24

jahre alt. Bin als Deutscher in die Schweiz gekommen und sehne mich nach einem neuen Integrationskreis und einer Partnerin. Schätzte Ehrlichkeit und Treue. Bin gern in Gesellschaft, gehe gern tanzen, als Hobby kann ich einen PC nennen. Ich habe auch Diplom an einer Technischen Universität. / Ich suche eine ehrliche Beziehung mit einem lieben Mann. Ich bin Brasilianerin und habe einen 9 jährigen Sohn. Ich bin geschieden. Ich bin sehr liebenswürdig und aufrichtig, ich glaube an Gott und besuche gerne Gottesdienste. Ich arbeite gerne, ich bin eine gute Hausfrau, koche gerne, bin aber auch gerne unterwegs. Ich spreche portugiesisch, spanisch und italiensch, aber zur Zeit noch relativ wenig deutsch. Mein Sohn spricht aber perfekt deutsch. Ich habe Sehnsucht nach einem lieben Mann und ich möchte gerne wieder heiraten, da ich ein sehr familiärer Typ bin. / Sehne mich nach einer aufgestellten, humorvollen Sie, mit der Mann Pferde klauen kann, aber auch romantische Momente erleben darf. Meine Hobbys sind Skifahren, Biken, Reisen, Musikhören, Konzerte, ins Kino gehen und Kochen. Mann mit Herz sucht Frau, die weiß was Sie will. / Ok, du möchtest noch mehr über mich erfahren? Gut, dann lies doch noch ein bisschen weiter. In meiner Freizeit treffe ich mich gerne mit Freunden, mache Sport oder schau auch mal Fernsehen. Einmal pro Woche gehe ich zum Salsatanzkurs, was mir sehr viel Spaß macht. Ausserdem lerne ich noch spanisch oder versuch es zumindest. Arbeiten tue ich als Softwareentwickler bei ner kleinen Firma mit nur drei Leuten. So, dass wars erstmal, wenn du mehr über mich wissen möchtest, dann meld dich doch bei mir / Hallo, ich sehne mich nach einer ehrlichen, treuen, lieben und sexy Freundin mit einem süßen Lächeln und einem gesunden Selbstbewusstsein, die dabei aber nicht eingebildet wirkt. Am Besten solltest Du aus meiner Nähe kommen und in meinem Alter sein, gutaussehend und intelligent. Eine, die mehr auf ihren Bauch hört als auf ihren Kopf und mit der man das Leben einfach genießen kann, weil man Ihr absolut vertrauen kann. Mehr Ansprüche habe ich vorerst nicht. Schreibt mir einfach, dann sieht man, was draus wird. Jede Zuschrift wird garantiert beantwortet. / Hallo, ich bin 38, verheiratet und habe 2 Kinder. Ich würde gern Mails austauschen, um einfach mal zu plaudern. Ich wohne im Elsass,

»ich habe diplom an einer technischen universität«


»ich bin wirklich nicht hässlich, nicht dumm, nicht zickig, halt ganz normal« weit von meiner Familie und von den Freunden entfernt, ich musste ja schließlich mehrmals in meinem Leben weit umziehen. Da ich ein ziemlich schüchterner Mensch bin, fällt es mir schwer, neue Bekannschaften zu machen, ich schreibe sehr gerne Mails und würde mich richtig freuen, wenn es aus Mailaustausch eine Freundschaft entstehen würde. Zu meinen Hobbies gehören unter anderem: Wandern, Radfahren (was mit den kleinen Kindern leider nicht mehr so leicht ist), romantische Bücher lesen, einen schönen Film sehen und Fremdsprachen lernen. Wer hätte denn Lust, mit mir Mails zu schreiben? Ich würde mich auf jede Nachricht freuen! / Hallo ihr da draußen, ich bin lebenslustig, unkompliziert und aufgeschlossen für Neues, deswegen probiere ich es hier mal, ein paar nette Menschen all over the World kennenzulernen. Ich sehne mich danach, mich mit lieben Menschen über die alltäglichen Dinge des Lebens auszutauschen. Es wäre natürlich schön, wenn sich langfristige Email-Freundschaften daraus entwickeln würden. Ehrlichkeit und Humor sind bei mir höchste Priorität! Ich mag sehr: All die Dinge, die das Leben lebenswert machen wie: gutes Essen, gute Literatur, ein guter Wein, gute Musik (Latino), tanzen (gerne Salsa), Städtereisen, gute Unterhaltungen, Shoppen, Joggen, meine beiden Kinder, meinen Mann und ganz besonders meine Haustiere. Haben wir etwas gemeinsam? Dann scheue Dich nicht und schreib mir einfach! Aber bitte nur ernstgemeinte Zuschriften ohne erotischen Hintergedanken. Bin auch nicht an Camchat, Dates oder ähnlichem interessiert! Wie gesagt, schreiben könnt ihr mehr gern. Hoffe, doch bis bald? / Frag mich doch einfach, wenn Du etwas über mich wissen willst. Ich suche einen liebevollen Partner, der mich versteht und mit dem ich in eine positive, gemeinsame Zukunft schreiten kann. Ich bin nicht immer einfach, aber meistens, weil ich Sehnsucht nach Liebe, Unterstützung und Wärme habe. Ich versuche auch zu verstehen, welche Gefühle meine Mitmenschen haben und was dahinter steckt, was wollen sie im Moment und was könnte sie zufrieden und glücklich machen. Das ist eine Lebenskunst, die ich beherschen möchte. / Ich habe schreckliche Sehnsucht nach neuen Kontakten via

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Email. Mein Name ist Pimboli, so heißt nämlich auch mein Meerschweinchen. Wer meint es ehrlich und will mit mir eine Email-Freundschaft auf bauen? Ich schreibe auf jeden Fall zurück. Ich wohne in der Schweiz ganz in der Nähe von Basel. Meine Hobbies sind Sport und Computer, sowie mein Patenkind und meine Haustiere. Ich habe viel Zeit und möchte diese nutzen, um mich mit anderen aus der ganzen Welt auszutauschen. Also nicht zögern und einen kleinen Text an mich eintippen. / Ich bin Studentin (23) für Lehramt an Realschulen und suche aufgeschlossenen, treuen, liebe- und humorvollen, ehrlichen Partner. Ich bin lebenslustig unternehme daher gerne etwas mit Freunden wie z.B. gemütliche Abende mit gemeinsamen Kochen. Ich bin offen für andere Kulturen, wenn es denn das Geld zulässt verreise ich gerne. Ich bin ein sehr ausgeglichener Mensch, der selten schlechte Laune hat. Ich bin gerne unterwegs, hüte aber auch gerne mal die Couch. Manchmal ist das allerdings sehr einsam. Daher sehne ich mich sehr nach jemanden, mit dem ich meine Gefühle teilen kann. Ich bin ein echter Familienmensch und habe immer ein offenes Ohr für andere. Ich werde aus Überzeugung Lehrerin, die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen hat mich schon immer gereizt. Meine Figur ist sehr weiblich und meine Kleidung leger bis elegant, abhängig vom Anlass. Ich lege viel wert auf mein Äußeres. Deswegen erwarte ich auch von einem Partner ein sehr, sehr gepflegtes Äußeres, er muss zwar kein Adonis sein, aber eben eine gesunde Einstellung zu sich und seinem Äusseren haben. Eben ein Typ der weiß was er will und der etwas aus seinem Leben macht, aber auch einfach abschalten und Spaß haben kann! Du solltest es ernst meinen und bereit sein mir Gefühle zu zeigen.

»Ich arbeite gerne – ich bin eine gute hausfrau« Unter einer kontaktanzeige versteht man in der Regel eine Anzeige in einer Zeitung, einer Zeitschrift, oder aber einen Eintrag auf einer Singlebörse im Internet, um andere Menschen für eine Beziehung oder eine Freundschaft kennen zu lernen. Aus diesem Grund werden in einer Kontaktanzeige meistens die Eigenschaften des Verfassers besonders positiv dargestellt. Des weiteren enthält eine Kontaktanzeige oft konkrete Aussagen, welche Art von Reaktion von welcher Art von Person der Verfasser erwartet. Laut einer Umfrage des Instituts emnid im Auftrag der Zeitschrift Reader’s Digest im Jahr 2003 lesen rund 50% der Bevölkerung regelmäßig Kontaktanzeigen. 74% derjenigen, die inserieren oder auf eine Anzeige antworten, treffen sich auch mit dem oder der Unbekannten. Aus 42% dieser Treffen entstand nach dieser Umfrage eine dauerhafte Beziehung. Diese Zitate aus diversen Internet-Partnerbörsen sind unkorrigiert.

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long live the quiet i never needed any sleep / all i need is you in my life / und wo ist ja auch egal

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Wildpferd

Musik ist schön – und dann gehe ich also summend durch die Straßen, aber ich möchte auch gerne wie auf einigen Liedern den höchsten Höhepunkt finden, weil Musik in der Paralellwelt der Missverständnisse eben genau den hat. Aber deshalb: I love Homerecording. Und das ist der perfekt Sound straight from the Underbewußtground. Doch man kann seine Bricolage selber zerstören, breitflächig diffus halten und muss nicht Gefahr laufen nach der in gesellschaftlicher Wechselwirkung zustande gekommenen Hormonausschnüttung durch Assimilation erdrückt zuwerden. Long live the quiet. Well, I never needed any sleep, all I need is you in my life – Und wo ist ja auch egal, solange man weiß, dass der Horizont die Möglichkeit bietet und das Vielgrößere beinhaltet, was zum Glück nicht nur gesellschaftlich determiniert ist, sondern sich erst Gesellschaft durch die Schnittmenge des Wahnsinnshorizonts jedes Einzelnen definiert.

Vgl. quadrophenia: ›We Are The Mods‹, der Film behandelt die Konflikte zweier Subkulturen der frühen 60er Jahre, der sogenannten Mods und der Rocker in Großbritannien. Im Zentrum des Films steht der junge James Michael »Jimmy« Cooper, der Mitte der 1960er Jahre in London einer Clique von Mods angehört. Markenzeichen der Mods sind gute Kleidung und ihre Lambretta- oder Vespa-Motorroller. Sie mögen Soul und britische Popmusik. Die Mods befinden sich ständig in Streitigkeiten mit den Rockern, die ihrerseits Lederkleidung tragen, Motorräder fahren und Rock ’n’ Roll hören. — Demo in Parkern, dann Anzüge bedeutet eine Bricolage der bürgerlichen Ordnung, später dann Rocker verprügeln, dann irgendwie doch lieber bürgerlich sein, dann Polizisten verprügeln also bürgerliche Ordnung zerschlagen und dann in einer Gasse Sex haben. Ein Höhepunkt, ein Feuerwerk, Peng Knall, dann Ernüchterung.

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Sommernacht »…Wenn also die Vorstellung, ›im Raum zu leben‹, auf dem Zusammenwirken der kulturell tradierten Behälterraumvorstellungen und der euklidischen Schulung, gestützt durch eine Vergesellschaftung, die der Vorstellung mit der Erfahrung eines kontinuierlich größer werdenden Raums stärkt, basiert, dann…« Harte Kost für einen Abend, jetzt nicht darüber nachdenken — Weitermachen »…dann stellt sich nun die Frage nach den Veränderungen durch gewandelte Sozialisationsbedingungen. Die Frage stellt sich verstärkt, wenn man berücksichtigt, dass sich die topologische Wahrnehmung, von der ich mit Bezug auf die Phänomenologie annehme, dass sie nicht restlos der euklidischen Konstruktion…« Ihr letzter Freund. Ihre große Liebe? Er ist weg. Es ging nicht. Es war intensiv, genau das, was sie sich immer vorgestellt hatte. Geborgenheit. Gedanken, die auf die Gedanken des anderen passen. Gefühle, die aus ihr raussprudeln, sie beleben. Gefühle, die zusammentrafen. Sie beide belebten. Oft konnten sie gar nichts sagen, sich nur anschauen. In die Augen. Verbunden. Einssein. Für immer. Hat sie gedacht. Hat sie gefühlt. Es tat weh. Es tat weh zu gehen. Und es tat weh zu kommen. Weil man wusste, dass man wieder gehen muss. Schmerz, der sie beide auffraß. Als es so sehr an ihnen zehrte, dass selbst das Zusammensein nur noch Schmerz war, weil sich sehen, sich anfassen, sich begehren auch immer heißt sich bald nicht mehr zu sehen, sich bald nicht mehr anfassen zu können, obwohl sich alles in einem danach verzehrt – Aus. Nicht mehr darüber nachdenken. Licht, Zettel.

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»Desiderate entstehen aber auch dadurch, dass gesellschaftliche Entwicklungen, die offensichtlich eine räumliche Dimension habe, wie Verinselung der Lebenswelten, Globalisierungsprozesse und die Folgen neuer Technologien, auf der Basis einer absolutistischen Konzeption von Raum begrifflich nicht fassbar werden. In der Rede von Zergliederung, Zerfall, Fragmentierung und Auflösung wird die Idee von etwas an sich Einheitlichem reproduziert und dessen Teilung problematisiert.« Das alles steht im Vordergrund, will in den Vordergrund gedrängt werden. Doch dahinter, dahinter versteckt sich immer wieder die Sehnsucht. Die Sehnsucht wieder eins zu sein.

’cause i loved you unconditionally i gave you even more than i had to give i was willing for you to die ’cause you were more precious to me than my own life down on my knees i’m begging you down on my knees i’m begging you please, please don’t leave me i won’t believe That you really really


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Theater Theater mehrsicht ist immer auf der Suche nach neuen ästhetischen Formen und der Auseinandersetzung mit benachbarten Künsten und neuen Medien. Mehrsicht steht für die Zusammenarbeit zwischen Theater- und Tanzschaffenden, Musikerinnen und Musikern, sowie Schaffenden der bildenden und der audiovisuellen Künste. Viele Junge Künstlerinnen und Künstler schließen sich für verschiedene Projekte zusammen und verbinden durch ihre persönlichen Interessensschwerpunkte unterschiedliche Kunstrichtungen miteinander. Blind stellt drei Fragen an Christian Weiß, von Mehrsicht.


blind Christian, wie hat das alles eigentlich angefangen? Die Sache mit dem Theater? christian Ja, so ab 16 bin ich eigentlich fanatisch ins Theater gegangen. Ich denke, ich war fast jeden zweiten oder dritten Tag im Theater. Etliche Inszenierungen habe ich drei-, vier-, fünfmal gesehen. Ich wollte einfach nur gucken, gucken, gucken. Dann kam das Abitur und ich wusste überhaupt nicht, was ich danach machen soll. Da war diese Leidenschaft für Theater und ich entschloss mich, für ein halbes Jahr am Theater zu hospitieren und mir die unterschiedlichen Bereiche und die Entstehung einer Inszenierung anzuschauen. blind Und danach war klar: Theater muss es sein? christian Ja, das Ziel war eigentlich klar. Und trotzdem habe ich mich entschieden, Literaturwissenschaft zu studieren, sozusagen als Grundlage. Und dann die Zulassung aus Freiburg – da war klar: das soll es sein. Und neben dem Studium wurden es dann ganz schnell noch weitere Hospitanzen am Freiburger Theater. Dann habe ich das Studium unterbrochen und als Regieassistent am Stadttheater gearbeitet. Nebenbei noch eine Studententheatergruppe aufgebaut und ein Stück gemacht und dann einen Monolog am Theater Freiburg inszeniert. Und mittlerweile mache ich seit knapp zehn Jahren Theater. blind Was kann deiner Meinung nach das Theater? Was willst du erreichen? christian Bei vielen Zuschauern lösen heutige Inszenierungen Irritation und Unverständnis aus. Die Leute sagen: ich verstehe das nicht! Aber was heißt das denn? Jeder hat in seinem Leben auch eine Menge Dinge gelernt, ohne sie verstanden zu haben. Das gilt auch für das Theater: Es fasziniert einen, es beschäftigt einen, es stößt an oder stößt ab – aber es muss eine Reaktion auslösen. Es ist ganz entscheidend, dass ein Erlebnisvorgang stattfindet. Es geht nicht um ein bildungsmäßiges Verstehen – es geht um Erfahrung! Um die Schaffung einer Sehnsucht, die nicht weiter benannt wird. Der Zuschauer soll mit Intimität, Bitterkeit oder Traurigkeit konfrontiert und auf sich selbst zurückgeworfen werden. Mir geht es überhaupt nicht darum, eine Masse Zuschauer zu haben und ein kollektives Erlebnis zu produzieren. Was im Theater bestenfalls stattfindet ist ein individuelles Erlebnis. Eine Erinnerung an etwas, das mit dem eigenen Leben zu tun hat. Ich mag dieses Bestreben nicht, sich zu Musicalklängen im Rausch der Glückseligkeit mit seinem Sitznachbarn solidarisieren zu müssen. Das Theater ist für mich der Versuch, dass Leute, während sie etwas sehen, eine Erinnerung haben, mit der sie ein paar Momente weiterleben, und zwar fühlbar anders als vorher. Ideal wäre es, wenn für jeden Zuschauer bestimmte Momente der Aufführung zu einem Erlebnis werden, das sich nur auf ihn selbst bezieht. Es ist ein Wunsch, das zu erreichen – das gelingt natürlich nicht immer.

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Fernweh

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Braunschweig—Berlin Berlin—Braunschweig 2004—2006 Ein Protokoll von Ulla-Britt Vogt

I can’t relax in Deutschland wieder mal zu früh zu spät, ich weiSS es nicht ich bin hier und du bist da – das leben nicht Ein gedanke von dennis kirsch


Braunschw eig—Berlin Berlin—Bra unschweig


2004

hin Thomas und Irina zurück Jokes Eltern. hin Mädchen mit roten Haaren und Freund (Konzert) zurück Stefan (eineinhalbstunden) hin Modesignerin mit Kind (Joey) zurück Thea Scholle hin Corinna (Shell Tanke) zurück Maik, Marcus und Maiks Vater hin Rolf Liebeneiner und Freundin. zurück Ramon Baas hin Andreas Berek und sehr schweigsame Biologie-Diplomandin und Thys zurück Mister sap dot com Oliver Hess und Prolltyp und HBK–Typ bei 215 km/h hin mit dem Bus, Oli und Bettina und einem nervigen Sauftypen vor uns, weil mich die Arschigmitfahrgelegenheit Gunther Toffel (›tofgun‹, hahaha) versetzte zurück mit einem irgendwie prolligen Ulli. Ganz klassisch hin zurück mit Nico und ausserdem Heiko, Martin Lepa und Mo hin mit der netten Esther Robles und Freund Christian (0179-7053975) zurück auch mit der netten Esther Robles und Freund Christian und ausserdem Freundin Schoko hin mit Robert HaferkornStarke: ruhig, nett und jünger als ich zurück mit Timo Steinwender und Alice und (Zufall) Schoko hin mit Tabea Ortel (nette Berlinerin, die mich bis vor die Haustür fuhr) und ausserdem dem etwas seltsamen Torsten von der no zurück mit Henning Schäfer und drei anderen Jungs eingequetscht und am Arsch der Welt rausgelassen hin mit Philip Heinemann, einem wirklich netten Maschbauer, der so alt ist, wie ich, aber viel älter aussieht zurück mit Ramon Richter, der ein bisschen seltsam ist, und Autoteile auf den Vordersitz stapelt um sie in Braunschweig mit dem Restauto zu verschrotten und heizt wie die letzte Pistensau und einem netten Typen, der auch so alt ist wie ich, und schon viel rumgekommen ist in Deutschland hin mit Dirk Zickermann einem netten Physiker und einem schwarzen Berliner Luft- und Raumfahrttechniker. Die meiste Zeit geschlafen, aber ansonsten sehr nett. Über den Norden nach Berlin reingefahren, durch Kornfelder mit blauem Himmel: Wunderschön zurück mit Andreas Lohse: Erst vor der Sparkasse am Kottbusser Tor verpasst, dann nach einer halben Stunde Panne, dann noch nach Magdeburg rein um dort eine Frau abzuliefern. Um viertel vor zwei zu Hause hin mit dem ice für 44 Euro (mit Peters Visa-Karte bezahlt), weil Constanzes Freundin Dahlia ein kaputtes Auto hat dann zurück mit Mu Enka einem netten Türken und seinem prolligen Freund Moritz, dem Tauchlehrer hin mit Berit mit einem scheppernden Lattenrost auf dem Dach zurück mit Berit mit Brett im Kofferraum. Leichtes Déja-Vu.

2005

2006

hin mit dem ICE zurück mit dem ice (Winter, Sonnenschein, iPod: herrlich!) hin mit dem ice zurück mit dem ice (oh ja, ich liebe den Zug und die Strecke) Oh nein! Oh nein! Vergessen. ice ice ice zurück dann auch einmal noch mit Bo.

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i can’t relax in deutschla nd

Mit dem Mofa nach italien oiro

2003

Wieder mal zu früh zu spät ich weiß es nicht – Ich bin hier und du bist da doch das Leben nicht Ich suche es und hoffe es zu finden, doch ich finde mich nur im Regen wieder Komm wir fahren heute einfach mit dem Mofa nach Italien Nur ich und du, nur du und ich und der Liegestuhl noch dazu

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Mit dem Mofa nach Italien, sangen schon Oiro auf ihrer letzten Platte ›Andi ist nicht mehr in der Gang ‹. Das es tatsächlich viele Leute in die Ferne zu treiben scheint, haben nun auch die großen Medienmogule der RTL Group und Töchterlein Vox mitbekommen und bescheren uns in den Abendstunden herzzerreißende Abschschieds-Momente von der Heimat inklusive kurzer Werbeunterbrechungen. Alles zum Thema Auswandern im deutschen Fernsehen. Aber mal ehrlich – ich muss hier weg. Ich liebe die Stadt in der ich wohne, ich liebe mein Viertel und nach fast acht Jahren hier, habe ich mich sogar mit dem unfreundlichen Kioskbesitzer angefreundet, der mir nie Hallo sagt. Es liegt nicht an dieser Stadt, vielleicht liegt es am Wetter, ganz sicher aber liegt es an diesem Land. Ich brauche keinen Strand oder Sonnenschein, nein. Darum geht es nicht. Vielmehr habe ich das Gefühl, dass ich etwas sehen muss von dieser Welt. Der Ort ist noch unbestimmt – doch meine Erwartungen durchaus bestimmt. Und Ferien für immer: I can’t relax in Deutschland. Eine Tauchschule werde ich aufmachen. Irgendwo in Thailand. Zehn Uhr morgens, gefühlte fünfunddreißig Grad im Schatten, Blick auf die Surin-Inseln in der Andamanensee. Von Oktober bis April werde ich zwischen Tauschboot und Strandhütte pendeln, um im Sommer nach Asien zu reisen. Vielleicht aber auch Afrika. Oder Norwegen. Mir egal. Hauptsache weit weg. Mit dieser Meinung bin ich jedenfalls nicht alleine. Gut ein drittel aller Deutschen haben darüber nachgedacht, in einem anderen Land ein neues Leben anzufangen. Natürlich gehört eine gute Portion Glück dazu. Denn mit dem neuen Wohnort ändert der Mensch seine komplette Lebenswelt. Doch der Neuanfang in einem fremden Land ist heute nicht mehr zu vergleichen mit dem Schritt, den es noch für frühere Generationen bedeutete. Für ein paar hundert Euro fliegt man jetzt überallhin auf dieser kleinen Welt und als Deutscher eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, ist in den meisten Ländern kein Problem. Wer heute sein Land verlässt, muss viel weniger aufgeben und das Beste ist: Viel, viel weniger riskieren. Auswandern ist in der kleiner werdenden Welt leichter als man denkt. Und darum gehe ich jetzt auch meine Koffer packen. Und ich wünsche mir viel Glück auf meiner Reise.


I HEART HATE D/E/U/T/S/C/H/L/A/N/D


Heimweh

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Nostalgie für Anfänger angst ist, was ihr draus macht. wie sie mit 19 war eine kurzgeschichte von lisa von billerbeck

Home is where the Heart is und in hamburg sagt man tschüSS ein text von jan–frederic goltz und ein lied von heidi kabel

Fallhöhe Das Happy End, das wartet nicht in der StraSSenbahn, das wartet nicht auf dich, das wartet überhaupt nicht. gar nicht. aber Ich warte . ein gedanke von kathrin wessling


NOSTALGIE FÜR ANFÄNGER

angst ist, was ihr draus macht

Kein Zugverkehr leuchtet es mir in augenstechendem Orange entgegen. Ich seufze zum ersten Mal bewusst in meinem Leben, nehme die Stufen hinab und drücke auf Play. Eine aggressive Frauenstimme schreit mir ins Ohr und trotzdem muss ich plötzlich an eine andere Band denken. Ein Lied ging irgendwie: with 19 it all seems like a dream, oder so.

Vielleicht weil es sich gerade so anfühlt. Ich glaube, irgendwann wurden die Sommer immer kürzer und bedrückender. Attraktionen wurden zu Alltag und man verlief sich im Feld. Oder Zitat Daniel Spindler: Ich will überhaupt keine Unterhaltung. Ich will bewegt werden. So oder so ähnlich ist es doch. Unterhalten wird man selten. Bewegt fast nie. Und wenn einem vor Augen gehalten wird, wegen welcher Banalitäten man tagelang seine Wand anstarrt, friert man irgendwann ein. Kalte Hände – kaltes Herz. Ich habe immer kalte Hände, seit ich denken kann. Ein kaltes Herz erst seit einigen Jahren. Die Temperatur stetig sinkend. Dinge, die nicht durch sämtliche Sinne erfasst werden können, sind ja für Homosapiens nicht in den Kopf zu kriegen. Dass Dinge verschwinden, schon gar nicht. Zumindest nicht für mich. Man sagt ja, Alles hat seine Zeit, nur viel zu oft ist diese einfach zu kurz, um alles behalten zu können. Auch dieser Sommer ist kein Sommer. Und zwar nicht nur wetterbedingt. Man muss in diesen Zeiten aufpassen, wo man hintritt, wie man schaut, wem man gegenübersteht. Die Bühne Berlin ist gefährlich. Und Theater spielen ist nicht mein Ding. Ich habe das drei Jahre gemacht, um mich zu fordern, aber wenn ich so darüber nachdenke, war es dort nie anders, als es manche Abende dieses Jahr, auf den Bühnen um die Ecke. Dort wo plötzlich alle zu Darstellern werden. Und Vergangenen den Plot verzwickter macht. Ja, einem sogar die Kehle zuschnürt. Ich weiß, ich hänge ja auch oft Jahre zurück und spiegele mich in schlecht belichteten 9×13-Bildern für ganze 9 Cent das Stück, aber ich wachse, du wächst und die Dinge drum herum. Jeder, mit dem man sich wirklich beschäftigt, schaut doch auf etwas zurück.

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Und die Menschen, die ich meine, haben noch viel vor sich. Diese Menschen sind verdammt jung. Da stapelt einer die Bilder einer dunkelhaarigen Frau in seiner Wohnung, um sie ja nicht zu vergessen, da läuft ein Mädchen Jahre lang in einem zurückgelassenen Pullover aus reiner Baumwolle herum oder hört jede Nacht zum Einschlafen Lieder des vorvorigen Winters. Ich finde das furchtbar, vielleicht, weil ich selbst so bin. Alles andere wäre eine Lüge. Aber ich denke, man kann sich arrangieren, die Nostalgie an die Hand nehmen. Wenn ich nie wieder nach Schweden fahre, fahre ich halt an die Ostsee. So einfach könnte es sein, ist es aber nie. Das ist so wie nicht lieben aber jemanden an seiner Seite haben.

ich finde das furchtbar, weil ich selbst so bin. alles andere wäre eine lüge. aber ich denke, man kann sich arrangieren.

Das ist mir nicht genug. Zufrieden sein ist wie ein Ostseetrip. Eine Alternative halt. Aber vielleicht alles, was ich sein kann. Ich bin dabei, mich vom Gegenteil zu überzeugen. In letzter Zeit klappt das ganz gut. Aber auch ich habe eine Geschichte, an der ich mich wunderbar aufhängen kann, weil sie bewegt hat und nicht nur unterhalten. Manchmal möchte ich nicht aufstehen, nicht rausgehen, nichts sehen, nicht reden. Weil Nostalgie zu Lethargie wird, von Zeit zu Zeit. Zufriedenheit senkt die Temperatur. Ich brauche ein bisschen mehr als das, sonst setzt die Kältestarre ein. Es muss einen Weg geben. Die Furcht vor dem Und, wie geht’s so? – Ganz gut, wie-immer-muss-ja zu verbannen. Vielleicht mal wieder ’ne Platte kaufen, die bewegen einen ja oft länger als zwei Monate. Der Bus fährt an mir vorbei. Es ist Mittwoch, 2:27, es windet, und die Straße scheint kein Ende zu nehmen. Vor mir tröpfelt es – hinter mir nicht. Scheiß Nostalgie. Umdrehen ist irgendwie bequemer, geradeaus gehen notwendig. Und täglich grüßt das Murmeltier.

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HOME IS WHERE THE HEART IS

Zu Hause, was ist das? Ist das wirklich dort wo man herkommt? Da wo man geboren wird, in der Stadt in der man aufgewächst? Kann es nicht sein, dass es da ist, wo man hingehört? Ohne jetzt ganz mies auf die Tränendrüse drücken zu wollen – Tatsache ist, dass ich als Scheidungskind hier, dort und sonstwo gewohnt habe. Schlimm fand ich das jetzt auch nicht. Aber man schämt sich auch im zarten Alter von 10 Jahren in Grund und Boden, wenn man bei der Klassensprecherwahl in der neuen Grundschule – im fremden Ort, eine einzige Stimme bekommt. Wenn man keinen kennt, wählt man sich eben selbst. Das machen Politiker auch so, zwar kennen die viele Leute, aber wenn sie sich nicht selbst wählen würden, wären sie schließlich nicht von sich überzeugt. Das ist schon okey so, meinte meine Schwester damals jedenfalls. Zwischendurch habe ich dann auch mal bei den Großeltern gewohnt. Man hat ja keine Wahl, Geld oder das Alter sich was eigenes zu suchen. Wir könnten zu dir gehen, meine Eltern sind heute leider beide zu Hause. Äh, zu mir? Nach Hause? Du meinst da, wo meine Großeltern wohnen? Da war die Enttäuschung groß. Im kleinen, alten Zimmer meines Vaters dann Matchbox, Lego oder Plemo-Ritterburg spielen, weil Opa im Wohnzimmer den Spiegel las und Oma nebenan strickte. Man fragt sich auch heute noch, wo man jetzt eigentlich hingehört, wenn die Freunde an Feiertagen alle zur Familie fahren. Zurück in die Heimat, sagen sie dann ganz ironisch. Nach dem Rechten sehen oder einfach nur Saufen gehen. Ich für meinen Teil sehe das ganze eher wie eine Art Durchreise. Ähnlich wie es ein Zugvogel macht. Mit seinen Freunden dann in einer schönen Flugformation ab und an in die Fremde, dann wieder zurück zur Basis. Und irgendwann, wenn ich meine Heimat gefunden habe, komm ich an. Egal ob Nord, ob Süd, Ost oder West, ob kalt ob warm – weil home is where the heart is oder eben dort wo meine Freunde sind, ganz klar.

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in hamburg sagt man Tschüss ¬

heidi k abel

Ein Seemann so jung, fuhr weit übers Meer, von Hamburg nach Schanghai Er sagte beim Abschied nicht Lebewohl und auch nicht Adieu oder Good-Bye In Hamburg sagt man Tschüß, das heißt Auf Wiedersehen In Hamburg sagt man Tschüß, Beim Auseinandergehen In Hamburg sagt man Tschüß, das klingt vertraut und schön Und wer einmal in Hamburg war, der kann das gut versteh’n Zu Hause an Land, erwartete ihn ein Mädchen all sein Glück Ihr Tschüß klang ihm nach, wohin er auch fuhr – es trieb ihn nach Hause zurück


F A L L H Ö H E Siehst du, was übrig bleibt – ist das nicht hübsch? Sieh es dir an. Sieh hin. Sieh hin. Sieh genau hin und dann sag deinen Text auf. Der beginnt mit ich weiß nicht... und endet mit Schweigen. Ich kenne das. Ich kenne das nur allzu gut. Ich kenne ja so viel davon. Diese Erwartungen. Immer diese schrecklichen Erwartungen, die morgens schon warten. Kaffee oder Tee, Aufstehen oder Betteln, Anrufen oder Schweigen, ich kenne das, ich kenne das. Es ist schlimm. Es wird immer schlimmer. Alles ist quälend, die Qual ist quälend und lähmend, denn das große Erwarten birgt wider Erwarten nur Einsicht und die teilt man bekanntlich ja nur mit sich allein oder einer klappernden Tastatur oder einem Glas Wein und dem bisschen Einsamkeit, das bisweilen mehr Attitüde ist, mehr selbstverschuldet, als das Fernsehen verspricht. Das Happy End, das wartet nicht in der Straßenbahn, das wartet nicht auf dich, das wartet überhaupt nicht. Ich warte. Text: Das ist schmerzhaft. Räumliche Trennung kreuze ich an und dann mache ich eine Einkaufsliste, da steht: Paprika Joghurt Job Nicht anrufen Nicht anrufen Verdammt: nicht anrufen Würde wieder finden Brot Konjunktive streichen Das Telefon klingelt. Ich ziehe den Stecker aus der Wand, weil das ein bisschen pathetisch ist und lasse es klingeln, weil ein Mobiltelefon auch ohne Strom klingelt und denke nach. Über meine Zukunft. Und über Mobiltelefone, Wale, 38 dvd ———


Mineralwasser und Erdöl und dabei sehe ich dann Manuel, meinem Nachbarn zu, wie er mir zusieht, wie ich ihm zusehe und höre Elisabeth zu, weil sie wieder im Hof telefoniert und von ihren Terminen erzählt, die sie nie hat, über die sie aber immer zu berichten weiß. Vielleicht, denke ich, ist Elisabeth ja auch einsam. Vielleicht, denke ich, ist mir das aber auch völlig egal. Ich bin allein. Das ist nichts Neues. Sieh dir das an. Wir wären wenn wir könnten ja so viel und wenn wir doch bloß hätten. Ich verstecke mich in irgendwelchen Konjunktiven, Entschuldigungen und Ablenkungsmanövern, die Koffer schon gepackt. Ich muss gehen, ich muss los, ich muss hier raus. Ich komme nicht mehr wieder, das habe ich mir geschworen, betrunken und leergeredet im fünften Stock eines Mehrfamilienhauses, in dem an irgendeiner Tür nicht dein Name steht, aber hinter der nun das passiert war, was im Drehbuch steht, gleich hinter dem zweiten Akt und vor der Katharsis, die nur dir zuteil wird, oder keinem, weil das Licht ausgeht in diesem verdammten Treppenhaus, während ich auf den Stufen sitze und hoffe, dass das alles nur der Prolog war und nicht das Ende. Schließlich setze ich mich in einen Nachtbus der Linie 6 und fahre in eine leere Wohnung und schreibe fünfundzwanzig Seiten austauschbaren copyundpasteunsinn, den ich am nächsten Morgen unbeherrscht lösche. Was ich fühle, das lege ich unter die alten Holzdielen, auf denen ich schlafe. Am Morgen regnet es Tiere und Gewitter und verschmierte Wimperntusche und das bisschen Gewissheit, dass es nicht die Worte sind, nicht das Gesagte oder etwa das Gelogene, nicht das Gesprochene oder Gestikulierte, das von nun an Händchen hält mit dem Alltag. Es ist all das, was ich dir nicht sagen konnte, der Epilog meiner wirren Gedankengänge, das Gefühlte und Erhoffte, auf dem ich schwer liege und nun nicht mehr schlafen werde. Gefühle, würdest du vielleicht sagen, sind auch irgendwie überbewertet, das grinse ich in den Badezimmerspiegel, jeden Zentimeter der Fallhöhe spürend. Blaue Flecken auf der Haut und schreibe eine neue Einkaufsliste. Prolog. Ende.

Die paar Tränen mehr im Waschbecken spült der Alltag weg, ich bin mir sicher, ich bin mir sicher.

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Distanz

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Hamburg—Berlin Berlin—Braunschweig Köln—Kiel Paris—Flensburg Braunschweig—Bremen New York—Göttingen Braunschweig—Würzburg Marburg—Braunschweig Braunschweig—Hannover VON PAAREN & ihreN Fernbeziehungen. SO WIE DAS IST von jan–frederic goltz und seinen freunden mit fernbeziehung


Distanz Wenn die räumlichen Lebensmittelpunkte zweier Menschen, die in einer Beziehung leben nicht die gleichen sind, nennt man das schlicht und einfach eine Fernbeziehung. Dies kann freiwillig oder unfreiwillg geschehen. Je nachdem wie die Umstände sind, egal ob Job, die Uni oder immer schon so gewesen. Fest steht, dass es immer eine gemeinsame Zeit und eine Trennungszeit gibt. Freitag von A nach B und dann am Sonntag wieder allein zurück. Das ist Liebe und Sehnsucht auf Distanz – über Paare und ihre Fernbeziehungen. P.S.: Ständig will man teilen, aber zum teilen ist niemand da.


Es ist Freitag. heute sehen wir uns wieder.

A­â€“ B

Es ist Sonntag. Ich muss jetzt wieder los.


Eileen—Stefan Hamburg—Berlin 0 Jahre, 6 Monate, 24 Tage 289km, 2 Stunden, 50 Minuten eileen Ich finde das Thema Fernbeziehung gar nicht so schlimm, wie alle immer sagen. Natürlich fehlt mir Stefan, wenn er nicht da ist, aber es war ja nie anders. Wir haben uns auf einem Konzert kennengelernt, ein paar mal getroffen und sind dann ziemlich schnell zusammengekommen. Stefan ist immer für einige Tage beruflich hier in Hamburg und muss dann wieder zurück nach Berlin. Oft nimmt er mich dann gleich mit. Dadurch, dass unsere Beziehung schon immer so war, haben wir beide kein Problem damit einige Kilometer auseinander zu wohnen. Im Gegenteil: So bleibt es spannend.

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Ellen—Paul Braunschweig—Berlin 1 Jahr, 2 Monate, 15 Tage 241km, 1 Stunde, 46 Minuten ellen Alles ist auf diese drei Tage konzentriert: Freitag, Samstag, Sonntag. So ist auch die Erwartungshaltung wahnsinnig groß und das eben diese erfüllt wird. Wo natürlich niemanden alleine die Schuld trifft. Doch mittlerweile wohnen wir fünf Minuten mit dem Fahrrad auseinander. Das ist toll. Das ist in jeglicher Hinsicht toll, da ich ganz spontan da sein kann, aber ich kann auch ganz spontan abhauen, wenn ich keinen Bock mehr habe und so wie letztens erst passiert: ihn nachts rausschmeissen, weil wir uns gestritten haben.

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anna Als wir uns damals kennen lernten, gingen wir beide noch zur Schule. Das war während des Abiturs. Jens und ich gingen feiern, wir trafen uns regelmäßiger, kamen uns näher und schließlich zusammen. Er trat seine Zivildienststelle an und ich wollte immer schon weg aus der Stadt. Die Illusion mit 19, dass man jetzt ganz dringend raus in die große Weite Welt muss. Ich bekam einen Studienplatz in Köln und zog weg – ohne Jens. Wir waren vorher nicht oft getrennt voneinander, es war ungewohnt. Ich habe nächtelang geheult, weil mir Köln eigentlich gar nicht gefiel, was ich Jens gegenüber jedoch nie zugegeben hätte. Das erste Semester an der Uni war die Hölle, ich konnte eigentlich gar nicht studieren, Jens fehlte mir einfach zu sehr. Wenn er dann an jedem zweiten Wochenende runter nach Köln kam, war es zunächst sehr ungewohnt und gerade wenn man anfing sich wieder aufeinander einzustellen, musste er auch schon wieder zurück nach Kiel. Nach einiger Zeit musste er oft am Wochenende arbeiten, was die Situation nicht gerade einfacher machte. Schließlich verließ mich Jens mit dem Argument, dass es so nicht weitergehen könne und er seinen Alltag einfach nicht mehr in den Griff bekommt. Vor einiger Zeit telefonierten wir das erste mal seit unserer Trennung.

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jens Anna ging nach Köln und ich fiel glaube ich für ein halbes Jahr in eine Art Koma. Es war ein Schock für mich. Wie konnte sie einfach gehen? Einfach so, ohne mich. Die Situation machte mir zu schaffen, ich konnte meinen Alltag wirklich kaum noch bewältigen, da ich immer und ständig an sie denken musste. Natürlich war sie für mich da – nur eben 500 Kilometer weit weg. Sie fehlte mir sehr und dennoch entschied ich mich dazu, mich von ihr zu trennen. Tatsächlich war es in diesem Moment einfach das beste, auch wenn es egoistisch von mir war. Jetzt bin froh, dass wir uns wieder so gut verstehen. Wir sind jetzt beide wieder mit jemandem zusammen.


Anna—Jens Köln—Kiel 2 Jahre, 5 Monate, 19 Tage 511km, 4 Stunden, 38 Minuten

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lars Anique und ich waren nie länger als fünf Tage getrennt. Keine Ahnung wie das wird, wenn sie dann für sechs Monate nach Frankreich zum Studieren geht. Ich verstehe, dass diese Sache wichtig für sie ist, aber der Gedanke daran, dass sie bald weg sein wird, ist ziemlich schlimm für uns beide. Ich freue mich für sie, dass sie diese Chance nutzt, doch auf der anderen Seite, reagiere ich ab und an etwas empfindlich und egoistisch, obwohl das ja eigentlich keine Sache ist, die unserer Beziehung im Weg stehen sollte. Wir müssen abwarten und vor allem durchhalten. Das ist wichtig.

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Anique—Lars Paris—Flensburg 3 Jahre, 4 Monate, 22 Tage 1043km, 9 Stunden, 4 Minuten

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Abfahrt: Fr 7. M채rz 2008, 15:20 Braunschweig, Hauptbahnhof Gleis 5, RE 14212 Ankunft: Fr 7. M채rz 2008, 16:05 Hannover, Hauptbahnhof Gleis 5, RE 142121 Abfahrt: Fr 7. M채rz 2008, 16:21 Hannover, Hauptbahnhof Gleis 12, RE 4424 Ankunft: Fr 7. M채rz 2008, 17:39 Bremen, Hauptbahnhof Gleis 2, RE 4424 50


Ole—Syelle Braunschweig—Bremen 7 Jahre, 5 Monate, 28 Tage 174km, 1 Stunde, 41 Minuten ole Ich bin mit Syelle seit 2000 im Sommer zusammen, da

Rückfahrt nach Bremen erich fried (1921–1988)

Spätherbst – Der erste Schnee Die Nachtstraßen Eisglatt Aber zu dir hin Dann im Morgengrauen Die Bahn monoton Ermüdend Aber zu dir hin Quer durch dein Land Und quer Durch mein Leben Aber zu dir hin

haben wir uns das erste mal geküsst und uns schließlich nicht mehr in Ruhe gelassen. Als wir uns zufällig zusammen auf eine Reisefreizeit mit einem Wohnmobil gemacht haben. Meine anderen Spießer Freunde hatten keine Lust, Zeit oder Geld, aber wir sind nach Frankreich ans Meer gefahren. Und am zweiten Abend war ein Reggea-Konzert am Strand, und wir haben hinter der Bühne geparkt und auf dem Bus getanzt. Dann ist Syelle durch die Gegend gelaufen und ich habe sie voll vermisst, obwohl sie nur 10 Minuten weg war – verstehst du: Fern-Beziehung. Wir könnten auch schon ein Kind in der 3. Klasse haben. Obwohl, weil es natürlich hoch intelligent wäre, stände die Kleine kurz vorm Abitur. Ach und deshalb ist mein Kommentar so: Wir könnten ja auch nebeneinander wohnen und uns vermissen. Und außerdem, ich denke, dass was uns am meisten verbindet, ist so ein diffuses Gefühl Visionen zu teilen, also Momente, wenn man merkt, dass man in die gleiche Richtung denkt, Sachen die am Horizont nicht genau scharf zu stellen sind. Und das verwebt sich dann mit so Magnetismus, das man die andere Person für alles was sie sagt-tut-denkt an sich drücken und einverleiben oder genaust möglich erleben will. Aber man kann gar nicht aneinanderwachsen, deshalb habe ich oben die Begründung geschrieben, warum eine Fernbeziehung gar nicht so schlimm ist. Und das ist eigentlich totaler Scheiß, aber da ich sowieso immer Sehnsucht und Begehren mit mir rumtragen werde, ist das schon okey im Augenblick.

Zu deiner Stimme Zu deinem Dasein Zu deinem Dusein Zu dir hin 51


GTM -5 40° 43' N, 74° 00' W

new york

Maike—Jan Göttingen—New York 4 Jahre, 6 Monate, 21 Tage 6237km, 8 Stunden, 45 Minuten

goettingen

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Abflug: Mo 25. Okt 2007, 10:15 Frankfurt, Airport / Terminal 1 Ankunft: Mo 25. Okt 2007, 12:50 New York, John F. Kennedy Intnational Airport / Terminal 1 Flug: LH400 / Economy Basic+ Fluggesellschaft: Lufthansa Flugzeugtyp: Airbus Industries A391

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Sebastian—Cathrin Braunschweig—Würzburg 8 Jahre, 2 Monate, 13 Tage 368km, 3 Stunden, 14 Minuten

sebastian & cathrin Die Sehnsucht hört nicht auf. Und der Moment der dann am schwierigsten ist: die Freude über die gemeinsame Zeit wird von den Gedanken an die nahende Abreise langsam verdrängt und schließlich findet man sich in einem Auto oder in einem Zug wieder, dabei ist die Sehnsucht bei der Rückreise nicht angenehm aber mindestens genauso stark wie die Sehnsucht und Vorfreude der Hinfahrt. Doch jetzt wohnen wir beide seit einem guten Jahr zusammen in Hamburg. Das ist auch gut so.

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Simon—Christine Braunschweig—Marburg 2 Jahre, 2 Monate, 17 Tage 237km, 2 Stunden, 28 Minuten

simon Göttingen, Kassel dann rechts runter noch ’ne Stunde durch Dörfer, die eine Verlängerung der Autobahn auf selbstgemalten Schildern fordern. Das schlechte Gewissen ein Mitschuldiger des regen Nur-Durchfahr-Verkehrs zu sein stellt sich ein. Dann bin ich da. Freitag Nachmitag. Die Müdigkeit der Woche ist weg und ich verfahre mich wie immer in dieser Stadt, die halb auf einem Hügel liegt und deren beleuchtetes Schloss mein Orientierungspunkt ist. Nach zwei bis drei Wochen sehen wir uns wieder und irgendwie ist erstmal alles vertraut fremd. Die Stimme, die ich die letzten Wochen nur vom Telefon kannte ist echt und hat wieder ein Gesicht. Es ist ein kurzer Urlaub, weit weg vom früh Aufstehen, von der Arbeit und vom Alltag.

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Sebastian—Bettina Braunschweig—Hannover 1 Jahre, 11 Monate, 13 Tage 68km, 0 Stunden, 47 Minuten

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Es war ein wenig so wie in den Urlaub fahren. In den Regionalexpress rein und Zeit haben, um den Alltag zu verlassen. Sich schon auf der Reise freuen, gleich die Treppe hoch zu gehen, und den ersten Kuss zu erwarten. Manchmal frag ich mich, ob es eine Art Vorspiel für uns war. Kurz vorher noch telefonieren: »Ja, geht klar, bin in einer Stunde dann bei dir!« Auflegen, anziehen, losgehen und dann: Die Vorfreude. Zugfahrt. Endlich da und dann: Die Begrüßung, als hätte man sich die letzten Jahre nicht gesehen. But – now it’s over. Wir haben uns getrennt. sebastian


Fehlen

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Monster du musst etwas sagen. sag etwas. den ganzen tag schon windest du dich – sag jetzt etwas. ein text von kathrin wessling

I wanna stand with you on a Mountain sie ist eingeschlafen und ich sitze jetzt hier. ein kleines zimmer in einer mir fremden stadt eine kurzgeschichte von benjamin kroeger


R E T S NO


ONSTER


MONSTER Du musst etwas sagen. Sag etwas. Sag jetzt endlich etwas. Bitte. Den ganzen Tag schon windest du dich, also sag jetzt etwas, schließ deine Bahn aus Sinnlosigkeit, tanz doch deine Sätze, aber sag etwas, du muss etwas sagen, sprich!

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Ich h/a/s/s/e dich, Ich hasse dich, wenn du glaubst, wenn du glaubst, ich würde ich würde bleiben b/l/e/i/b/e/n

Ich sitze im Regen. Es gibt Schöneres. Ich sterbe ein bisschen. Das ist gelogen. Beides. Ich sitze auf deiner Bettkante und zähle blaue Flecken. Deine, meine, meine Spuren auf deiner Haut, deine auf dem Laken. Ich hasse dich. Ich hasse dich ein bisschen, kein bisschen, ich hasse dich, wenn du glaubst, ich würde bleiben. Ich bleibe nie. Du bettelst wieder, deine Augen betteln Heiterkeit und meine schließen sich und dann stehe ich auf und seufze deinem nackten Körper entgegen. Ich suche nicht mehr. Gar nichts. Ich laufe durch Straßen voller Brei, Menschenbrei, und stolpere über meine Gleichgültigkeit. Am Abend wanke ich dann nach Hause, die neun Schritte in das ungemachte Bett, das noch nach dir riechen könnte. Das Fenster steht offen, die Tür ist zu. Morgen ist auch ein Tag und immerzu sind irgendwelche Tage und niemand lebt so, als sei irgendeiner dieser Tage der letzte. Das steht bloß in deinen Märchenbüchern, die du für die Mädchen, die du mit nach Hause nimmst, neben dem Bett stehen hast. Wie der Stapel Schallplatten mit Musik, die Mädchen gut finden und die klugen Magazine, in denen schöne Menschen inhaltsloses Gewäsch von sich geben. Einmal habe ich mich auf diesen Stapel Sinnlosigkeit erbrochen und du hast gelacht und dich zur Seite gedreht. Ich könnte dich lieben und wir würden am Fluss spazieren gehen und uns schöne Lügen erzählen. Ich könnte dich nicht lieben, nie. Dein Körper liegt manchmal schwer auf dem meinem, in den Nächten, in denen wir uns haltlose Versprechen geben, die wir schon im nächsten Augenblick wieder brechen. Deine schlaflose Zunge, deine müden Hände und dein gieriger Atem, all das widert mich manchmal an, aber nie genug. Nie könnte ich gehen, nie könnte unsere Würdelosigkeit unsere Unfähigkeit zu Scheitern schöner verbergen als in diesen Momenten, in denen dein Stolz meinen erdrückt und meine Finger deine suchen und ins Leere greifen. Du bist schon lange gegangen. In den Nächten spreche ich mit deinen Geschichten und spiele mit deinen Worten, die ich auf den Teppich vor das Bett lege, um am Morgen mit dem falschen Fuß. über deine richtigen Worte auf den Mund zu fallen. Stille Tage und das bisschen Regen, ein Fluss, der nach Süden fließt und Flaschenpost am falschen Strand. Du musst etwas sagen. Du musst.

monster lat. ›monstrum‹, Mahnzeichen, wie lat. ›monstrare‹, zeigen und von lat. ›monere‹, mahnen, warnen, ist ein Ausdruck für Dinge, die sich durch Größe, Stärke oder auch Hässlichkeit hervorheben. Im engeren Sinn bezeichnet der Begriff Monster ein meist (im Verhältnis zu einem eher idealtypisch gesehenen Menschen) ungestaltes Wesen, dessen Missgestalt seinen einzigen Zweck zunächst im Verweis auf das Maß, ein Ideal (in körperlicher wie ideeller Hinsicht) findet. Monster in diesem Bildbereich konnten Tiere, mythologische Mischwesen, aber durchaus auch menschliche Wesen sein: »monstra sunt in genere humano« (augustinus; »Monster sind Teil des Menschengeschlechts«).

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I wanna stand with you on a Mountain Sie ist eingeschlafen und ich sitze hier. Ein kleines Hotelzimmer in einer mir völlig fremden Stadt. Langsam beginnt es zu dämmern und ein wenig Hell dringt durch die Jalousien herein. Kälte. Wie schön sie ist im Schlaf. Ihre Brust hebt und senkt sich gleichmäßig, ihre Haut ist von blassen Sommersprossen übersät und die hellen Härchen schimmern gegen das Licht. Ich könnte für immer hier sitzen und sie anschauen. Ich liebe sie so, wie ich noch nie einen Menschen zuvor geliebt habe.

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Gestern Abend haben wir uns wieder gesehen – nach 6 Jahren. Ich bemerkte sie zuerst. Bei ihrem Anblick durchfuhr es mich wie ein Blitz. Sie hatte sich kaum verändert und alle Erinnerungen, von denen ich hoffte, sie erfolgreich in mein Unterbewusstsein abgedrängt zu haben, schwemmten an die Oberfläche. Ich wollte sie nicht ansprechen, doch dann hatte sie mich gesehen und kam auf mich zu. Sie lächelte und ihre Grübchen traten hervor. Wir schauten einander in die Augen und sagten nichts. Sie küsste mich. Es schien endlos zu sein und vor meinem geistigen Auge lief der Film unserer gemeinsamen Zeit, live und in Farbe. Ich hätte so viele Fragen gehabt. Warum sie mich so lange belogen hat. Wieso sie uns eigentlich keine Chance gegeben hat, indem wir gemeinsam über diese Situation sprechen. Warum sie mir nie in die Augen sehen konnte, um mir zu sagen, dass es vorbei ist. Und warum ich mich immer schuldig fühlen musste. Wieso sie heimlich abgehauen ist, an jenem Dienstag im Herbst, ich in unsere gemeinsame Wohnung kam und alles was von ihr übrig geblieben war: Es tut mir Leid, geschrieben mit einem rosa Filzstift auf dem Werbeblock der Müllabfuhr. Es war nicht fair und tat unheimlich weh. Es bleibt immer eine Spur von Erinnerungen die einen im Alltag verfolgen. Es hat Jahre gebraucht, sie aus meinem Leben rückstandslos zu entfernen und nun das. Sie stand wieder vor mir, wie früher und das Gefühl ihrer Nähe war stärker, einfach unbeschreiblich schön. Die wirkliche Liebe gibt es gar nicht, oder höchstens einmal und dieses eine Mal liegt sie vor mir und schläft. Auch ich habe Angst vor der wirklichen Liebe, wie viele andere. Ich habe sie immer versucht zu meiden, sie nie aktiv gesucht und mich immer mit weniger zufrieden gegeben, weil es nicht so schmerzt. Menschen verletzen, Menschen verlassen aus unterschiedlichsten Gründen. Vielleicht weil es woanders schöner, jünger oder einfacher ist. Man muss stark sein, wenn man sie kennen lernt, die Liebe, sonst bringt sie einen um. Sie macht, dass man sich auf löst. Ich denke an den Tag als ich sie zum ersten Mal traf, im Zug, weil ich meinen verpasst hatte. Sie setzte sich auf den freien Platz neben mich, obwohl der halbe Wagon leer war. Ich würde jetzt gerne sagen, dass ich sie hasse, aber das Gegenteil ist der Fall. Ich sitze hier und sehe wie das Licht ihre Haut streichelt, sie nackt auf dem Bett liegt und ich denke: Nein. Diesmal werde ich es nicht zulassen, dass sie auch nur eine Möglichkeit bekommt, mich zu verletzen. In Wirklichkeit hatte sie es bereits. Ich gehe unter die Dusche, wasche mir die Nacht vom Körper und versuche ihren Geruch zu überdecken. Dann streife ich mir meine Sachen über, gehe zur Tür und blicke noch einmal kurz zurück. Ich gehe. Laufe wie ein angeschossenes Tier durch den Morgen, ziellos, orientierungslos. Den Anblick der fremden Menschen auf der Straße ertrage ich nicht.

Truly madly deeply savage gar den

1998

… I’ll be your hope I’ll be your love be everything that you need. … I wanna stand with you on a mountain, I wanna bathe with you in the sea I wanna lay like this forever, Until the sky falls down over me.

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I wanna stand with you on a Mountain Oh can’t you see it baby? you don’t have to close your eyes — ’cause it’s standing right before you all that you need will surely come

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Heldsein

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Bei der Macht von Grayskull—Ich habe die Kraft! he-man


HE–MAN Als ich ungefähr neun oder zehn Jahre alt war, wollte sich an Fasching jeder Junge unserer Klasse als Batman verkleiden. meine Mutter war tatsächlich die Einzige, die auf ihren Sohn hörte und ihm zu diesem Anlass dieses dämliche Kostüm für einen damals schon ziemlich unverschämten DM-Preis bei Karstadt in der GeorgstraSSe in Hannover kaufte. Doch ich musste leider feststellen, dass die Mädchen unserer Klasse gar nicht auf Batman standen. Batman war nämlich schwarz wie die Nacht und irgendwie düster und unheimlich. Alle Mädels standen, wie sollte es auch anders sein – auf Patrick. Seine Mutter hatte alles richtig gemacht. Sie kaufte ihm nämlich das um 50% reduzierte Superman Kostüm bei Real. Sah er jetzt vielleicht in seinem blau-rotem Anzug freundlicher aus? Oder wussten alle schon damals, dass Batman gar keine wirklichen Superkräfte besitzt und somit kein Held im eigentlichen Sinne ist? Trotz dieser wirklich zerschmetternden Niederlage wollte ich im Jahr darauf schon wieder ein Held sein. Mama kaufte mir das He-Man Kostüm zusammen mit dem leuchtenden Zauberschwert. Ob das nun half, weiss ich nicht mehr genau.



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Mixtape

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Nirgends steckt soviel Sehnsucht, wie in meinen Plattenkisten herr goltz


Dort unten liegt die Stadt da wolltest du immer sein wie du jetzt da hinkommst? Anlauf Alter, Anlauf Und im vierten Stock steht ich liebe Dich— Und das dumme war: Sandra liebt ihn auch




Morning seems strange almost out of place Searched hard for you and your special ways Can you stay— for these days?


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Die stehen dir aber toll— deine neuen Perlencreolen Ist mir doch scheißegal brüllst du lustlos in die Nacht Deine Freunde denken, was ist mit dir nur los? du hast keine Lust auf Kirmes, du hasst das Riesenrad Jungsein ist die Hölle— und zäh wie Kaugummi Nach Cola schmecken: nur für Sekunden

Die Anderen sollen endlich gehen immer schneller wollen sie sich drehen Auf der Krimes, der Gefühle Wirf deine Tränen in den Regen damit deine Freunde sie nicht sehen

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What’s the furthest place from here? It hasn’t been my day for a couple of years What’s a couple more?

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Oh little Stranger Can you bring my baby back to me ?

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Kannst du vor deinen Augen die Explosionen sehen? Ein Feuerwerk in der Nacht

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I love everything about you Aber Rien ne va plus Rien ne va plus


Im Auto hundert fahren Und die Zettel in der Hand Heulend am Hafen stehen und sie war nicht da Gerade als du springen gingst, kam sie schnell angelaufen und schmiss alles weg —fßr ein Leben mit dir

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It gets loneliness at night Down at the liquore store

Hi–Treble Hi–Lites

Beneath the neon light

Decor, Decor Pink Strobes

Our moonlight

Don’t intervene

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Wenn sie dich fragen wo wir waren Sag da wo wir nicht hingehÜren— Sag dort wo die Schiffe fahren



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Container Container der Hafen leuchtet der Fluss ist in Bewegung unter den F端ssen Asphalt und dann das Glas und dann der Sand

Der Ruf der Schiffe war lange nicht so stark wie Heute


Jenseits des Kanals war der weite blaue Himmel Ein verborgenes Geräusch wie eine Fahrradklingel tönte aus der Ferne in die schöne Luft hinein ich stand allein in meinem Garten alles schien erstarrt in einem Warten auf die letzten Sommertage dieses Jahres


Und da steht sie schaut über das Geländer— Rumgelaufen, nachgedacht, nachgedacht Ohne dich ist alles quatsch Gunther das ist alles quatsch Dein Happy–End nimmt uns doch keiner ab


Zieh dich an und geh es wird schon hell, kannst den Müll mitnehmen wenn du gehst Und vergiss nichts dieses mal Es ist viel zu spät— wenn du jetzt gehst Es ist viel zu spät



Kiss me quick, while we still have this feeling



5 Uhr Morgens die eine Stammkneipe da kommt alles wieder hoch 5 Uhr Morgens es wird langsam hell der erste Bus ist fast noch leer Can you kiss me first ?

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Well you still miss me when I’m gone you still kiss me and I’m the one I sent you a postcard to say you hello I still love you You’re the one We could spend all evening in the sun I could taste you slowly with my tongue Watch the sunny sky through the rung Or should I go?



Can’t live with the one I love Can’t live with you

A thousand words in every language Light up the stars for you the size of the universe —Alright!

I’m looking for the last ditch black hole

I’m never coming back to earth

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When you wake you’re still in a dream Not real though I love you unclean I’m telling you you’re a sick mind

When you sleep tomorrow and it wont be long

You come back so fine so fine

Once in a while you make me smile When you turn your long blonde hair



Sehen

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Die unüberwindbare Mystik der Erbschaft bestimmter Sehsüchte Ein Gespräch von Zweien. wir schmiegen uns einfach dazwischen. und jetzt bitte keine fehlplatzierte höflichkeit jetzt. bitte. ein dialog von sebastian neubauer

Samstag ist Selbstmord eine bilderserie vom letzten wochenende, so wie handyfotos eben sind–verschwommen. von jan–frederic goltz

Kaffee und Kuchen Der Unterschied zwischen dir und ihr ist, dass sie alles mit Liebe macht. Tja–und du mit Hass. eine geschichte von fr au k punkt


Die un端berwindbare Mystik der Erbschaft bestimmter Sehs端chte


Ein Gespräch von Zweien. Wir schmiegen uns jetzt einfach mal dazwischen, und keine fehlplatzierte Höflichkeit jetzt, bitte. Die beiden merken sowieso nichts davon. Und wenn die vielleicht gar nichts dagegen hätten? Wäre es dann immer noch Voyeurismus?

oder: Sehenswürdigkeiten und sonstige Gelegenheiten, mich mit ihr zu treffen

R: [...] Es war von Anfang an eine auf brausende und nach Eleganz strebende Sache bei uns. Mit uns. Es geht da ja wirklich immer um das mit und nicht so sehr ums bei. Damals hab ich das noch nicht so ganz verstanden. G: (irritiert) Verstand? R: Naja. Stimmt. Vielleicht auch besser so. Den Verstand dabei mal raus zu halten. Da es ja oft kompliziert wird, wenn du den da auch noch mit ins Geschäft ziehst. G: Was meinste denn damit? R: (ausschweifend und gestikulierend) Ich hab gestern, in einem komischen Film... also komisch heißt hier nicht: lustig. Auch wenn es ein oder zwei Passagen gab, die so lustig waren, dass ich dachte: »Mensch, das ist jetzt aber doch noch lustig gewesen.« Aber eigentlich war es eher so ein gesellschaftskritsiches Drama, was ich da gestern gesehen habe. Ein langes – aber nicht langatmiges – Sozialdrama im Fernseher, sowie ein zweites vor dem Bildschirm. G: Komma zum Punkt. R: Ist ja gut. Da wurde jedenfalls gesagt, es gäbe immer noch Dinge, die du nicht verstehst, auch wenn du alle Bücher der Welt lesen würdest.

G: (schnell) Und ich hab manchmal das Gefühl, dass ich nicht glauben kann, dass es bei euch um Eleganz ging. Das erinnert mich eher an Mode und Laufsteg oder vielleicht auch an rhythmisches Turnen. Leistungssport. Ging es wirklich darum? Als ich euch gesehen hab, da hab ich die Stärke und diese Einheit gesehen, weißt du? Dieses ... R: Beisammensein, ja. Aber Einheit hört sich so romantisch an. Da denk ich gleich an Natur und dass wir alle eins sind. Da hab ich Probleme mit. Eine Zeit lang hab ich gedacht, dass dieses New Age Kram und Hippietum ausstirbt. Irgendwann. Aber nein! G: (eine brise wuetend) Lass Sie doch einfach denken und glauben, was sie wollen. R: (zuruecknehmend) Ja, ja. Solange sie nicht glauben, dass es in Ordnung wäre, mir das glauben zu machen, was sie so im Kopf haben. G: Sie? Wenn du so redest, dann denke ich immer an Verschwörungstheorie. Und realitätsferne Paranoia und Gehirnwäsche. Öffentlich bekannte Foltercamps und vor allem: Bartwuchs. R: Fünf Minuten vor der Zeit, ist der Soldaten Pünktlichkeit. G: Was?

G: Wo wurde das jetzt gesagt. Im Fernseher oder davor? R: (kurz ueberlegend) Ich weiß nicht mehr genau. Ich komm da manchmal durcheinander.

R: Apropos Fernseher. Diese Stimme aus dem televisionistischen Kasten hat mal wieder mit mir gesprochen. Und weißt du, was sie mir erzählte? 113


G: Ich glaub es geht eher um das, was du gehört hast. Nicht darum, was die Stimme sagte. R: (unbeeindruckt) Ich soll Spaß haben. Es scheint, als sei es wichtig – vielleicht sogar am wichtigsten, dass ich meinen Spaß habe. Und was passiert, wenn ich vom Spaß abhängig werde? Eine regelrechte Sucht entwickle? Früher hatte ich mal zu einem ganz anderem Thema gesagt, ich würde versuchen, bis zu meinem 30. Lebensjahr ein Burn-OutSyndrom zu entwickeln. Ich fand, dass dieses Entwickeln ein besonders schönes Wort sei. Eine schöne Prozessbezeichnung. Aber auch ein Wunsch, eine Orientierungshilfe für die Gegenwart.

jetzt ivan ist die rebroff pelzmütze ist als markenzeichen tot wieder frei

G: (unterbrechend) Fängst du jetzt doch mit Romantik an? R: (weiterredend) Und dabei fällt mir ein anderer Freund ein. Nein, eigentlich der Gleiche, dem ich von meinem Burn-Out-Begehren erzählte. Er meinte mal zu mir, dass dieser Spruch von Neil Young von wegen it’s better to burn out than to fade away ja überhaupt nicht seine Einstellung sei und dass er sich gut vorstellen konnte, alt zu werden. Kurze Pause, R. überlegte, was er sagen wollte. G. dachte mal wieder, R. hat eigentlich nichts zu sagen. G: (uebernimmt den staffelstab namens ›alter und zeitlichkeit‹) Ivan Rebroff ist tot. R: Wer? G: Der Rebroff. R: Was geht mich das an? G: Jetzt ist die Pelzmütze als Markenzeichen wieder frei. Wenn du wolltest, kannst du nun eine Pelzmütze tragen, in der Öffentlichkeit, im Fernsehen, in der medialen Welt, und es etablieren, dass du derjenige bist, mit der Pelzmütze. Es geht da um Wiedererkennungswert und Gewohnheit. Ist doch total interessant, dass du als Konsument oder Zuschauer stets eine Konstante haben willst. R: (vertraeumt) Ja, ich hätte auch gern mal wieder eine Konstante. G: Und dass das Sehen vereinfacht wird. Du siehst und verstehst besser durch solche Hilfsmittel. Auffälliger Bart, schäbiger Hut, natürliches Blond, verrückte Brille, eloquenter Gang, exotische Augenfarbe. Es gibt Leute, die suchen lange nach ihrem individuellen Markenzeichen. Du kannst sogar Andere engagieren, damit die dich dann beraten und mit dir ein Image kreieren.

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R: Imagine all the people. G: (aufgeregt) Ja, genau. Wenn du einen Traum hast, dann musst du ihn beschützen.

Durch die Schwere des letzten Satzes kam es zu einer entspannenden Pause. R. sah auf seine Finger hinab und wie durch eine vom Körper losgelöste Bewegung tippte er die Zahlen in die Tastatur, die Telefonnummer, die er auswendig und im Schlaf herunterbeten konnte. Und noch immer kann. Manchmal fielen sie ihm zu ganz seltsamen Situationen und Momenten ein. Diese Reihe an Zahlen, die ihn, wenn er sie zusammensetzte, in einen Zustand verschob, der mehr mit Angst, Verlassensein und Trauer zu tun hatte, als er ertragen wollte. Dennoch dachte er jetzt wieder an ihre Wangen und ihre Bewegungen beim Lachen. Nicht nur im Gesicht, der ganze Körper bebte mit. Ein großes Spektakel für die Augen. Und dazu noch das wohltuende, leichte Glucksen, wenn sie glücklich war und Spaß hatte. Als sie zusammen Spaß hatten. Er hatte gehofft, dass ihre gemeinsamen Kinder dieses fröhliche Gnickern erben würden. Oder sich aneignen würden. Ihm war egal, ob nun Gentechnik oder soziale Vererbung verantwortlich gewesen wäre. Solange die Kleinen das mitbekommen hätten, wäre es unwichtig gewesen, was die Ursache hätte sein können. Umringt und umzingelt von dieser Fröhlichkeit zu sein, keinen Ausweg zu wissen, dort gefangen zu sein; das war sein sehnlichster Wunsch gewesen. Noch einmal war er kurz aber heftig verliebt und lehnte sich genüsslich zurück in das kleine Sofa, das schräg in seinem Wohnzimmer stand. Es knarrte ein wenig so wie eine alt gewordene und verbrauchte Matratze. Unaufgeregt und vertraut. R. vergas, dass ihm G. gegenüber saß. In diesem einen Moment genoss er das Sie-Ansehen und streichelte dabei seine eigenen Haare, so wie sie es gemacht hätte.

G: (streng beobachtend) Hast ja wieder richtig lange Haare bekommen, was? Geh mal zum Friseur! Oder tu zumindest so, als würde es dich interessieren, dass es so was gibt wie Frisur.

ich hätte auch und dass das gerne sehen mal wieder eine vereinfacht konstante wird

R: (zurueckhaltend & doch bestimmt) Nein, bei meinen Haaren bin ich komisch. Da lass ich nur meine Schwester ran. G: (erregt) Aber ich bitte dich! Du musst doch mal nach linke oder rechts gucken! R: Weißte, was meine Freundin damals immer gesagt hat? Wenn ich nicht mehr weiter wusste und ich sie nach einem Rat fragte: Mach dir nicht so ’ne Rübe. [...]

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SAMSTAG IST SELBSTMORD














Halt mich fest, ich glaube ich brauche das jetzt, kauf mir ein Bier, ich trink es dann bei mir. Ich steige ein und bin dann gern allein, nach Bahrenfeld im Bus allein. tocotronic


K

affee & UCHEN

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Der Unterschied zwischen dir und ihr, erklärt er, ist, dass sie alles mit Liebe macht und du mit Hass. Ich denke, dass sich darüber eine hübsche Geschichte schreiben lieSSe. eine dieser Geschichten, die voller billiger Metaphern ist und sich immer zwischen diesen beiden Polen hin- und herbewegt, gerade so, als sei das irgendwie eine Tatsache, dass sich Hass & Liebe gegenüberliegen. In Wahrheit, Hannes, liegen sie übereinander und ficken sich die Seele aus dem Leib.

Hm, sage ich und Hannes schaut mich wütend an, weil Hannes Erklärungen und Statements möchte und weil Hannes diese Erklärungen und Statements von jedem möchte und heute will er sie von mir. Ich habe aber keine. Weder die Erklärungen, noch die Statements und deshalb sage ich: Hannes. Nein, das ist scheiße. Hannes weiß nicht was er sagen soll und blickt durch den Raum, der ein Café ist und sieht die Frau zwei Tische weiter an. Ich habe das bemerkt und vermutlich sollte es mir nicht egal sein, aber der Satz muss weitergehen und er sollte nicht bei scheiße aufhören. Hannes. Du bist scheiße. Ich bin scheiße. Und die ganze Welt ist voll scheiß Menschen und alle hassen sich. Und alle hassen dich und du dich auch noch und ach, das ist alles ganz grausam hier und überall und auch, dass ich deinen Namen am Anfang so gesagt habe, so, als hätte das jetzt ganz viel Bedeutung. Jedenfalls, ja, Hannes. Sie ist voll Liebe und ich bin es nicht und vermutlich würde ich nicht mal so reden, wenn ich nicht wüsste, dass ich das alles irgendwann mal aufschreiben werde und dann soll es ja schön klingen und nicht so trivialliteraturmäßig, deshalb streue ich hier auch dauernd so Sachen wie „Trivialliteratur“ ein, denn normale Menschen, also alle anderen, also auch ich, also die jedenfalls würden einfach „scheiß Buch“ sagen, aber man kann ja auch nicht dauernd „scheiße“ sagen, gerade in so hübschen Prosa-Texten nicht, da kommen die ja gleich wieder an und wollen sich beschweren, weil „ficken“ und „scheiße“ ja nun auch echt irgendwie nicht mehr provokant oder provokativ genug ist, ich weiß da nie den Unterschied und Hannes, Hannes, du bist einfach wirklich vom Leben bestraft, denn du ... Jetzt weiß ich nicht, wie der Satz weitergeht. Jedenfalls, heute ist Mittwoch und morgen ist ein anderer Tag und ich hatte lange keinen Sex mehr und von der Liebe wollen wir mal gar nicht sprechen, davon reden ja auch immer alle und keiner schämt sich, ich mich schon, aber jetzt hab ich es schon gesagt und lieber Hannes, ich weiß keine bessere Antwort als „hm“, das wollte ich die ganze Zeit schon sagen, aber dann... 131


Die Kellnerin beugt sich über unseren Tisch und wischt Kaffee und Krümel fort und ich kann nicht weitersprechen, denn ich schäme mich jetzt für meine holprigen Worte und Hannes zündet sich eine Zigarette an, weil das gut ist für eine Geschichte, auch wenn man hier nirgendwo mehr rauchen darf und Hannes eigentlich das Lokal verlassen hat um es draußen zu tun. Derweil sitze ich vor einem Stück Kuchen und ekle mich vor der Schokolade, vor dem Café und vor Hannes und eigentlich nur vor mir, aber Projektion ist alles. Ich denke über seine verstörten Augen nach und die zittrigen Hände, während er die Anwesenheit der Kellnerin an unserem Tisch für seine Abwesenheit nutzte und nach draußen lief. Ich liebe Hannes. In jedem bösen Wort und jeder Tragik meines inszenierten Dramas liebe ich Hannes. Außerhalb davon hasse ich ihn. Ich ficke Hannes und Hannes versucht das gleiche mit mir. Ich ertrage Hannes. (Er mich nicht) und ich bete für ihn. Er soll es mal besser haben als ich. Amen. Als ich Hannes das erste Mal sah, war er zweiunddreißig und ich zweiundzwanzig und das war vor sechs Monaten. Ich verbrachte viel Zeit damit, nicht gerettet werden zu wollen und noch mehr damit, auf der Suche zu sein nach jemandem, der mich davor rettet. Ich fand ihn. Hannes ist nicht schön, aber wenn Hannes lacht, wollen alle mitlachen und weil ich nie mitgelacht habe, wollte Hannes herausfinden, was mit mir schief läuft. Während er Gitarre spielte, spielte ich an ihm herum und das war Grund genug, um mich dann und wann herauszufordern. Das Spiel, das wir beide nicht beherrschen, wird uns nun langweilig. Ich bin müde und er ist es auch und die tiefen Furchen in seinem Gesicht erscheinen mir an Tagen wie diesem noch tiefer und die Schützengräben sind es auch. Der Stellungskrieg, den wir bei Kaffee und Kuchen austragen, nennt sich bestimmt nicht Liebe. Ich habe es schon wieder gesagt. Hannes betritt das Café und sieht wütend aus. Seit wir uns kennen, wird Hannes immer wütender und ich immer ausgeglichener und würde ihm jemand unsere Geschichte erzählen, würde er meine Rolle darin sicher nicht mögen. Das Problem an fremden Geschichten ist aber, dass man sie immerzu in gut und böse einteilt und wenn man sie selber erlebt ist plötzlich alles grau und gar nichts gut und gar nichts böse und man selber sowieso nicht, weil man nichts dafür kann. 132


Er setzt sich zu mir an den Tisch, fummelt an seinen Händen herum und lacht plötzlich. Ich sehe ihn nur an, ohne etwas zu sagen, denn ich weiß, dass das die Gesten sind, die erwarten. Erwartende Gesten sind: plötzliches Lachen, plötzliches, lautes Stöhnen, hm-sagen, lautes Räuspern, plötzliches Vorbeugen usw. Diese Gesten erwarten eine Frage und eine Reaktion, aber ich bin müde und angeekelt und ich hätte jetzt gerne Sex, aber nicht mit Hannes und auch nicht mit mir und das ist ja dann irgendwie auch schon wieder eine so unmögliche Erwartungshaltung, dass ich mich frage, ob es auch innerliche Erwartungsgesten gibt, als Hannes sagt: Das Problem ist... und ich lache so laut, dass er nicht zu Ende spricht, sondern mich anstarrt. Baby, das problem gibt es nicht. Es gibt den Kosovokonflikt, die Armut der Dritten Welt, dass Bianca keine Kinder kriegen kann, dass alle nur noch dieses Biozeug essen, dass die Miete so teuer ist, dass Kinder sterben, dass mein Konto überzogen ist, dass Koks mein halbes Monatsgehalt kostet, dass du nicht Bundeskanzler bist, dass ich nicht Julie Zeh bin, dass ich mehr Geld für Bücher als für Essen ausgebe, es gibt da noch das Problem von Peter und das von Michael und manchmal ist es auch das Problem von beiden und dann gibt es noch die Problematik und keiner kennt den Unterschied, ach Hannes, es gibt so viele Probleme, aber glaube mir: das problem gibt es nicht.

Er sieht mich wieder mit diesem verstörtem Blick an und ich beginne zu begreifen, dass ich kein guter Umgang für ihn bin, dass die Kleine den Jungen zu Spielchen überredet, die der Junge besser nicht spielen sollte und dass er jetzt gleich mal aus dem Kinderland abgeholt werden sollte und ich aus der Hölle. Hannes hasst mich. Hannes hasst mich nicht. Er hasst meine Augen, weil sie nie so schauen werden, dass sie Dinge sagen wie: Du hast mich gerade wirklich glücklich gemacht. Hannes erwartet so was von Frauen. Er hasst meine Unordnung und meine Aschenbecher überall und er hasst meine Wut und meine Schamlosigkeit. Er nennt das frech. Er hasst meine Angst und meine Unfähigkeit zu scheitern und er hasst die Würdelosigkeit, mit der ich genau das dauernd geschehen lasse. Hannes liebt mich nicht. Es gibt Dinge und Momente, die er mag, die er möchte, die den Drang zu möchten in ihm zu einem Wollen und sogar einem Werden wachsen lassen, aber es gibt keine Momente, in denen aus dem Werden eine Unabdingbarkeit wird, ein universales Wollen, das alles andere egal sein lässt. Er empfindet in meiner Gegenwart nie das Gefühl von einer runden Zeit, einer, die sich um einen Punkt dreht und dieser Punkt bin ich. Für ihn bin ich ein Punkt, aber einer auf einer geraden Linie, die sich Zeit nennt und dieser Punkt ist ein bisschen größer als ihm lieb ist, aber er wird vorübergehen und die Linie ist noch lang. Manchmal wünsche ich mir, für ihn die Zeit rund zu machen, so, als sei es Schicksal, dass wir uns begegnet sind, so, als hätten wir aufeinander gewartet. Aber diesen Wunsch hege ich bei jedem, weil ich sicher eine schwere Kindheit hatte und sich jeder um mich kümmern soll, ich bin das Universum, ich bin der Mittelpunkt, ich bin Gott, Halleluja. 133


Das Problem ist, dass du nie genug bekommst. Aber ich. Ich habe genug von dir. Er hat sich also entschlossen, dass es doch das problem an sich gibt und das universelle, über allem stehende Problem ist also, dass er genug hat. Darauf weiß ich keine Antwort. Ich könnte das vorherige wiederholen, aber er hat zugehört, ich sehe es an seiner abwehrenden Haltung, denn er erwartet nun von mir, dass ich es tue, dass ich es wiederhole und er Dinge sagen kann wie: Siehst du, genau das meine! Jetzt wiederholst du das Ganze einfach, so als sei ich blöd, ich bin aber nicht blöd, höchstens schön blöd, dass ich so viel Zeit mit dir verschwende (Er wird im Präsens reden, denn er wird mich nicht verlassen.) und schön blöd, was ist das überhaupt für eine Redewendung, das ist ja gerade so, als sei man schön, wenn man blöd ist, dabei ist man sicher alles, nur nicht schön dabei! Du machst mich so wütend in deiner ganzen, in deiner..., in deiner, ach! Und wenn Hannes wütend ist, braucht Hannes ein Ventil dafür und das Ventil ist ein winzig kleines Loch in der Mitte seines Körpers, aus dem kommt Sperma und das Ding, das an dem Loch dran ist will gestreichelt werden, wenn Hannes wütend ist. Deshalb sage ich: Mach dich nicht lächerlich und da ist er dann, der Ausdruck in seinem Gesicht, den ich so gut kenne. Ich weiß, dass er sich jetzt vorstellt, mich zu erwürgen, zu zerhacken, zu zerschneiden und an wilde Tiere zu verfüttern und weil ihn das alles so wütend gemacht hat regt sich das Ventil und im nächsten Moment stellt er sich vor, mich an die Wand zu pressen und mir eine Hand zwischen die Schenkel zu schieben. Der Sex mit Hannes ist wild und wütend, schmutzig und schnell. Weil wir uns nicht lieben können, werden wir auch niemals Liebe machen und wüsste Hannes von diesen Gedanken, er wäre sicher traurig. Denn manchmal versuchen wir es mit Zärtlichkeiten, manchmal mit halbherzigen Bekundungen genau dieser und ich sehe in seinen polnischen Augen, dass er sich genau danach sehnt. Hannes ist Pole und heißt eigentlich Alexandr, aber ich habe nie gehört, dass ihn jemand so genannt hätte. Er spricht nicht über die Zeit in diesem Land und ich frage nicht, denn ich will nichts darüber wissen. Ich weiß, dass es Frauen gab, die er geliebt hat und ich weiß, dass es Frauen geben wird, die er lieben wird. Aber in der Gegenwart liebt Hannes niemanden und das ist eine Tatsache, über die wir nie gesprochen haben, die wir uns aber zeigen, in den heißen Nächten in der kalten Stadt, nein, Moment, das war jetzt eine schlechte Metapher für eine traurige Angelegenheit.

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Der Sex mit Hannes jedenfalls ist nicht bloß wild und schmutzig und schnell. Er ist auch brutal und manchmal gefährlich, aber er ist nie respektlos. Manchmal ist er traurig oder wehmütig, ach, alle Adjektive dieser Welt finden sich zwischen den Laken seines Doppelbettes, nur das eine nicht und das ist: befriedigend. Wenn Hannes mich berührt, dann steigt eine Gier in mir den Körper hinab, die mich zwingt, ihn anzufassen, ihm die Kleider vom Leib zu reißen, ihm schmutzige Dinge zu sagen und wie eine Hure zu stöhnen. Aber egal wie oft seine Zunge zwischen meinen Beinen nach Halt sucht und egal wie oft er in mir kommt: ich tue es nie. Vielleicht liebe ich ihn doch. Das denke ich, während ich doch den Kuchen esse und doch den Kaffee trinke und doch nach seiner Hand greife, obwohl ich mir geschworen hatte, es nicht zu tun. Ich will ihn nicht beschwichtigen, ihn nicht zähmen, ihn nicht einsperren und ihn nicht sanft werden lassen. Ich will sein Tier, das nur bei mir so wütend wird, das es herauskommt und ich will, dass er vor mir sitzt und für mich Gitarre spielt, weil das die wenigen Momente sind, in denen mich eine Zärtlichkeit für ihn überkommt, die mich noch immer nicht lachen aber manchmal lächeln lässt. Dann fühle ich mich wieder wie sechzehn, als alle Mädchen große Jungs aus einer Band haben wollten und die großen Jungs eine Band, damit sie die kleinen Mädchen kriegen konnten. Ich wollte immer nur den Sänger und habe doch immer bloß den Gitarristen geküsst. Bis heute. Ich seufze. Hannes sieht mich an und seine Hand legt sich auf mein rechtes Knie. Ich seufze noch mal. Und noch mal. Immer öfter, bis es ein Stöhnen wird und er mich irritiert ansieht und ich beginne hysterisch zu lachen und sage dann zu laut: Ja, Baby, genau so, du Hengst! und lache noch mehr und er zieht seine Hand zurück und dann weine ich. Hannes, Hannes, Hannes. Wie oft ich deinen Namen in die Nacht gerufen habe, wie oft ich so kitschige Dinge über dich sage, wie Wie oft ich deinen Namen in die Nacht gerufen habe und wie oft ich dann wütend werde und deine Sachen in der Badewanne verbrennen will. Er sieht mich müde an und nun seufzt er. Ich weiß, er wird nicht gehen, weil er es nicht kann. Er hat mich hundert Mal verlassen und hundert Mal bin ich ihm hinterhergelaufen, weil es noch zu früh ist, um wieder verlassen zu werden. Einsamkeit ist eine hübsche Attitüde, aber nur in den Geschichten, nicht in dem grauen Gesicht, das mich jeden Morgen im Spiegel ansieht. Wenn er wieder fort war, hat mich die Panik gepackt, es war, als streifte ich meine Persönlichkeit und mein Äußeres ab und plötzlich war ich nur noch eine Kugel, ein Kugelblitz auf dem Weg zu Hannes und es gab nur eine Richtung, nur ein Ziel und das war, ihn nicht gehen zu lassen. Ich stand nachts vor seiner Tür, ich habe ihn geschlagen, ich habe ihn angefleht, ich habe ihn beschenkt, beraubt, betrogen, beschimpft und bekniet, ich habe es nicht ertragen, ohne ihn zu sein. So, wie ich der Punkt auf der Linie der Zeit für Hannes bin, so ist Hannes mein Punkt in der Mitte eines feindlichen Universums und der Feind, das ist die Kälte, die wieder da ist, wenn Hannes fort ist. Ich habe gelernt, dass das keine Liebe ist, denn diese Art Liebe heißt jetzt Obsession und Abhängigkeit und kann therapiert werden und deshalb hasse ich Hannes und liebe ihn und eigentlich stimmt nichts davon, denn mein Hass auf ihn ist mein Hass auf mich und meine Liebe ist Obsession und damit bleibt leider nichts übrig für den polnischen Jungen, der an meiner Seite das Hungern gelernt hat. Hannes ist sehr dünn und niemand weiß, warum. Er isst nicht viel, aber er isst und er liebt das Trinken und das Essen gleichermaßen und deshalb gibt es keinen Grund, warum er so dünn ist, außer den, dass er neben mir verhungert, aber eigentlich ist das ein ganz anderer Hunger, den er nicht stillen kann.

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Ich muss jetzt etwas sagen, denn er lässt sich nicht weiter beirren, auch meine Tränen ändern das jetzt nicht, ich weiß das nur zu gut. Deshalb sage ich: Ich könnte jetzt sagen, dass es mir leidtut, aber das stimmt nicht. Ich bin arm. Ich habe keine Schönheit, jedenfalls nicht genug, als dass man mir irgendwas verzeihen würde und Geld habe ich auch nicht und diese ganzen anderen Sachen auch nicht. Vielleicht meine Jungend, aber dass das ein Besitz von Wert wäre glauben auch nur die Alten, die in ihrer Glorifizierung der Jahreszahlen immer übertreiben. Du darf st also nicht gehen, denn ich habe nichts außer dir und dass ich solche Sachen sage, das müsste genügen. Ich weiß, dass es nicht genügen wird. Ich verlaufe mich in dieser Geschichte, wie in jeder anderen. Ich weiß den Anfang und das Ende, aber nicht das Dazwischen. Ich weiß nicht, wie ich vom Anfang zum Ende komme und die Worte fehlen mir und die Zeit und alles muss sehr schnell gehen, weil ich sonst nicht weiterkann und plötzlich auf Seite drei stehen bleibe und nie wieder weitermache. Von welcher Geschichte ich da rede ist mir selber nicht klar, vielleicht ist es diese, vielleicht sind es schwarze Pixel auf weißem Hintergrund, vielleicht geht es auch nur um den Kontext der Geschichte, mich im Kontext der Geschichte, die Weltgeschichte, die unendliche oder um das Geschichtenerzählen an sich. Aber vielleicht ist das auch völlig gleichgültig, denn egal welche dieser Geschichten ich mir ansehe, in allen bin ich nur fähig der Boden und das Dach zu sein, den Anfang und das Ende zu sehen, dazwischen ist nur Vakuum. Meine Hände zittern jetzt und ich denke, dass das ganz schön pathetisch ist und einen Augenblick später spielen sie Massive Attack und der ganze Pathos dieser KaffeeundKuchenSituation läuft mir bitter durch den Hals. Ich weiß nicht, wie viel Hannes und ich hergeben. Für eine Geschichte oder für uns oder für ihn oder nur für mich. Ich weiß nicht, ob man aus den Worten zwischen uns eine Geschichte schreiben kann, die nicht bestimmt ist von gestotterten Halbwahrheiten. Ich weiß nur, dass ich will, dass Hannes das Dazwischen ist, jetzt, jetzt in diesem Augenblick. Morgen vielleicht schon nicht mehr. Er sieht mich an. Ich kann ihn nicht ansehen. Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie er mich betrachtet, dann seine Hände, den Tisch, den schalen Kaffee und dann wieder mich, immer wieder mich. Ich bin nackt vor ihm und das war schon immer so. Wir haben uns nicht kennen gelernt. Als ich ihm vor sechs Monaten begegnete, wollte ich imponieren und springen und rennen und schreien, aber ich habe mich nur auf die Stufen zu ihm gesetzt, während er Gitarre spielte und manchmal innehielt, um mich etwas zu fragen. Er hat nie gefragt, was ich bei ihm will und er hat nie gefragt, warum ich bei ihm sein will. Ich habe ihm gesagt, dass ich irgendwer bin und dass ich eigentlich gar keiner bin und dass ich eigentlich gerade unsichtbar werde und er hat gesagt: So wie Pumuckl und ich habe gesagt, dass das ein lächerlicher Vergleich ist und dass er nicht Meister Eder ist und er hat nur gelacht und weiter irgendwelche Jazzlieder gespielt. Damals, vor dieser Ewigkeit, habe ich ihm alles gesagt und er hat es nicht gemerkt. Ich habe meine Worte nicht mehr gewählt, ich habe nicht nach schönen Worten für hässliche Wahrheiten gesucht, weil ich ohnehin nicht wusste, was die Wahrheit ist und weil meine Wut mir die Ohren zugebunden hatte und die ganze Welt in Mono an mir vorübereilte.

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Deine Wut macht mich krank. Dass du nie stehen bleiben kannst. Dass du nie atmen kannst und dass du immer noch glaubst, dass das irgendwie heroisch ist. Ist es nämlich nicht. Ist halt bloß Leben. Ich habe meine Musik und du hast deine Wut. Und wenn du das endlich einsehen könntest, müssten wir hier nicht mehr sitzen und du könntest auch mal lachen. Du schrecklich ernstes Unglücksmädchen. Deine Seele läuft die ganze Zeit barfuß. Zieh ihr was an und schick sie mal nach draußen. Er lächelt. Ich nicht. Ich kenne diese Reden. Gleich wird er sagen, dass ich mal wieder lachen sollte, das würde alles viel leichter machen. Dann werde ich sagen, dass das Unsinn ist und es eben auch unglückliche Menschen geben muss, damit die Glücklichen sich noch ein bisschen besser fühlen können und dass die Unglücklichen die Glücklichen damit eigentlich noch glücklicher machen und dass sie dafür einen verdammten Orden verdient hätten. Dann wird er sagen, dass ich es mir viel zu schwer mache und ich werde natürlich sagen, dass er es sich viel zu leicht macht und dann wird er sagen, dass das nichts bringt und ich werde sagen, dass gar nichts irgendwas bringt und er wird gar nichts mehr sagen. Also sage ich nichts und warte. Hannes wartet auch. So sitzen wir eine lange, stille Zeit in diesem Café und warten. Draußen laufen Menschen vorüber und manchmal kommt jemand herein oder geht hinaus und mitten in dieser ganzen Bewegung sitzen zwei Menschen, von denen sich der eine wünscht, dass er ein Punkt wäre, um den sich das Universum des anderen dreht und der andere sich wünscht, dass alle viel mehr lachen. Weil ich die meiste Zeit auf den Boden sehe, wusste ich lange Zeit nicht genau, wie Hannes aussieht. Ich kannte seine Augen von flüchtigen Blicken und seine Hände, die ich angestarrt habe, während sie über die Saiten seiner Gitarre glitten, ich kannte seinen Hals und seine Schuhe und seine Beine und auch seinen Bauch, aber bevor wir das erste Mal miteinander schliefen, fehlte mir der Gesamteindruck seines Körpers, weil ich mich nie getraut hatte, ihn anzusehen. Das war nicht seine Schuld und nicht meine, es war bloß eine Macke, ein Tick, meine Macke, mein Tick, die dazu führten, dass ich lange brauchte, um ihn ganz zu sehen. Manchmal sagte jemand, dass er sehr dünn sei, aber ich fand das lächerlich, denn „dünn“ kann man auch nur in Relation sein, im Vergleich zu einem Kind war Hannes sicher nicht dünn und im Vergleich zu einem Übergewichtigen war er eigentlich gar nicht mehr existent. Jetzt, in diesem Café, sehe ich Hannes vor mir und weiß nicht mehr, wann ich aufgehört habe, diesen Jungen zu mögen und wann ich angefangen habe, überhaupt niemanden mehr zu mögen. Jaja sage ich deshalb und stochere in dem Rest des Kuchens und Hannes sieht jetzt wütend aus, noch viel wütender als ich und Wut ist ganz schön hässlich, das weiß man ja, aber bei anderen ist sie noch viel hässlicher. Gerade bekomme ich eine Ahnung davon, warum er möchte, dass ich damit aufhöre, als er sich erhebt und sagt: Arschloch. Ich kann kein Arschloch sein, weil ich ein Mädchen bin. Ein Mädchen, das ist auch Unsinn, ich bin eigentlich eine Frau und du ein Mann, gerade du bist ein Mann und ich vielleicht gerade erst eine Frau, dieses ganze Niedlichkeitsgetue geht mir sowieso total auf die Nerven, aber Hannes, ich bin kein Arschloch weil ich keines sein kann und ich wollte eigentlich sagen, ja, was wollte ich eigentlich noch mal sagen, genau: geh jetzt bitte nicht, das wäre ganz schön dramatisch und wenn hier einer geht, dann gehe sowieso ich, weil ich die Dramatische von uns beiden bin! und ich stehe auf und so stehen wir uns gegenüber und starren uns feindselig an. Es gab einen Tag, an dem kam ich zu spät zur Arbeit und er sah mich lachend an und befahl mir, mich umzudrehen. Ich tat es und er trat mir in den Hintern.

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Er sagte: Das brauchst du. und ich war entsetzt und fasziniert, weil er mich gedemütigt hatte und das machte ihn sehr scharf für mich. Damals war ich zweiundzwanzig und er zweiunddreißig und er war irgendein Junge und ich irgendein Mädchen und wäre alles ein bisschen besser gelaufen wäre das vielleicht der Anfang einer großen Liebe gewesen. Während ich hoffe, dass man das nachträglich vielleicht so hinbiegen kann, so hinschreiben kann, verlässt Hannes das Café und ich sehe ihm hinterher. Ich setze mich wieder und seufze in meinen Kaffee. Er wird zurückkommen, denn er kommt immer zurück. Weil ich es so will. Drei Wochen später sitze ich noch immer in dem Café. Natürlich saß ich nicht die ganze Zeit dort, obschon das eine hübsche Idee für einen dieser jungen Filmemacher wäre, die stehen ja auf Nahaufnahmen und Verfall und Selbsthass. Ich warte. Hannes kommt nicht. Hannes kommt nicht wieder. Hannes kommt nicht wieder zu mir zurück. Jetzt fällt mir kein Superlativ mehr ein. Ich habe ihn angerufen und er ist nicht drangegangen. Ich habe ihm Dinge auf die Mailbox gesprochen, die Art Dinge, die man am nächsten Morgen sehr bereut. Ich habe nichts davon bereut. Ich bereue Hannes. Ich bereue, ich gestehe, ja, ich bin ein schlechter Mensch und Superhannes hat mir das endlich klar gemacht. Ohne Superhannes hätte ich vielleicht erst eine Therapie machen müssen oder in die Kirche gehen oder mich opfern müssen um das zu begreifen. Ich hätte vermutlich erst Modedesign studieren oder schlechte Texte über Hannes und mich und Kaffee und Kuchen schreiben müssen, damit ich verstehe: Ich bin es nicht. Ich bringe es nicht. Ich bin so was von abgesagt. Dank Hannes habe ich das verstanden und musste nicht mal drogensüchtig werden. Ich habe geraucht, ich habe getrunken und ich habe Drogen genommen. Dabei habe ich mich nach dem Schoß meiner Mutter gesehnt und meinen jedem Kerl, der ihn haben wollte, hingehalten. Ich habe dabei an Hannes gedacht und war sehr traurig, aber wohl eher, damit ich eine gute Entschuldigung für den schlechten Sex habe. Hannes fehlt mir und ich weiß, ich fehle ihm auch. Die Tür öffnet sich und jemand setzt sich zu mir. Hätte diese Geschichte ein Happy End, wäre es Hannes, der zu mir zurück kommt. Hätte diese Geschichte ein modernes Ende, wäre es Markus, dem ich eigentlich die ganze Zeit gegenübersaß und Hannes wäre eigentlich seit Jahren tot und jetzt endlich würde der Leser verstehen, dass das alles nur ein listiger, literarischer Trick gewesen wäre, damit alle sehen, was ich für eine listige Literatin bin. Hätte die Geschichte ein Prosa-Ende, hätte ich einfach vor sechs Zeilen aufgehört und im Deutschunterricht können sich dann die pubertären Gelangweilten fragen lassen, warum die Autorin wohl genau da aufgehört hat.

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Es ist bloß meine Mutter, die da jetzt vor mir sitzt und sie sagt auch nicht: Hannes, dein Bruder, hat mich angerufen..., denn das ist auch keine griechische Tragödie, sondern sie sagt: Du bist fett geworden und dann zündet sie sich eine Zigarette an und bevor die Kellnerin (die gleiche) sie in zwei Minuten darauf aufmerksam machen wird, dass hier Rauchverbot herrsche und bevor meine Mutter der Kellnerin in zwei Minuten und drei Sekunden sagen wird, dass ihr das scheißegal sei und bevor die Kellnerin meine Mutter eine Minute und fünf Beleidigungen später rausschmeißen wird, jedenfalls, bevor meine Mutter all die Dinge tun wird, die sie immer tut, sage ich ihr, dass ich schwanger bin und der Vater ist ein Pole und er hat mich verlassen und sie sagt: Wann lässt du es wegmachen? und ich sage: Gar nicht und daraufhin zündet sich meine Mutter eine Zigarette an und als ich sehe, dass die Kellnerin zu uns herüberschaut und dann nicht mehr nur herschaut, sondern herkommt, sage ich: Weißt du, das Problem ist, dass nicht mal das Kind aus Liebe gemacht wurde und damit hat der Drecksack Recht gehabt, und dann fange ich an zu weinen und höre damit die nächsten sieben Jahre nicht mehr auf.

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Schluss

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Bermuda–Dreieck von gespenstern, löchern & love means never having to say, you’re sorry — darauf erstmal einen liter tequilla, bitte. von katrin wessling

Werter Herr Werther der werther-effekt — der emotionaler suizid als einzig richtige lösung? tagebucheinträge des leidenden jungen werthers. von jan–frederic goltz, Christian weiss & j. w. goethe

Die Säure deiner Gedanken schmeckt der sommer immer nach schwülen nächten & versprechen, die niemand mehr im oktober weiSS? oh, i could be so much more... von katharina wessling

Je t’embrasse Loslassen heisst auch neustart. Irgendwie. von christian weiss




Bermuda–Dreieck ALLES NUR EINE ORDINARY T/R/E/N/N/U/N/G

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Da sind andere Männer, andere Gespenster, die gut riechen und fremd schmecken und nur am Tag zu sehen sind. In der Nacht drehen die Stimmen dein Drehbuch und ich habe tatsächlich nicht mal eine Statistenrolle abbekommen. Und wenn ich dann Fremden von dir erzähle, verstehen sie nicht, wie sowas ist, vom Meer im Bermuda Dreieck verschluckt zu werden und nur höhnische Stimmen zu hören, die sagen, dass man das doch gleich hätte sehen... und das war doch klar und Selbstmitleid ist auch nur die Einbahnstraße und sowieso und überhaupt: Andere Mütter haben auch… Darauf erst mal EInen Liter Tequilla zum mitnehmen, drei Tempos & eine Woche Urlaub. Am Meer bitte. Ich habe immer noch nicht zugegeben, dass du fehlst. Die Augenränder von den Drogen, die Tränen von der Allergie und die miese Stimmung kann ja jedem mal und sowieso geht dich das jetzt nichts an und genau, jeder hat mal einen schlechten… Alles nur eine ordinary Trennung, alles nur ein Rausch und ein wenig Zeit und dann irgendwann verzeihen und gut übereinander sprechen. Passiert eben. Stillstand statt Resignation und Tiefkühleuphorie ist auch nur ein schönes Wort und vielleicht nicht mal das. Und deine Stimme sagt guten Abend und gute Nacht, eine Statistenrolle bis zum Morgengrauen und ein paar Worte, die etwas von Tut mir leid, du weißt, ich musste... sagen und das fehlende Boot im Bermuda Dreieck, während die Gespenster mein Herz jagen und ein wenig über die Filme lachen, die angeblich irgendwas von uns erzählen. Während ich in der Kiste, auf der dein Name steht, den Volumenknopf für mein Herz noch immer nicht gefunden habe. Love means never having to say you’re sorry.

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mein werter herr wertHer


die leiden des jungen werthers Ich will das Gegenwärtige genießen, und das Vergangene soll mir vergangen seyn! werther Mit diesem Vorsatz will sich der junge Werther von der Erinnerung an eine unglückliche Beziehung befreien. Ein Ortswechsel, Wanderungen in die Natur, neue Bekanntschaften sollen ihm helfen, den Schmerz zu überwinden. Doch dann begegnet er Charlotte und plötzlich ändert sich für ihn alles. Verzaubert von ihrem Wesen kreisen bald all seine Gedanken nur noch um sie und taub gegenüber allen Warnungen gibt er sich voller Leidenschaft seinen Empfindungen hin – bis seine Traumwelt von der Realität eingeholt wird. Lotte ist bereits einem anderen versprochen.

Die Handlung erstreckt sich im Zeitraum von Mai 1771 bis Dezember 1772. Als junger Mann, noch ohne festen Lebensplan, entflieht Werther dem Stadtleben und siedelt sich in dem idyllischen Dorf Wahlheim an. Er genießt es, in der Natur umherzustreifen, und verarbeitet seine Eindrücke hin und wieder durch Zeichnungen. Sein vages Lebensziel ist, einmal Künstler zu werden. Eines Tages lernt Werther den Amtmann kennen, der ihn einlädt, ihn doch einmal zu besuchen. Werther schiebt den Besuch auf und hat ihn bald vergessen. Auf der Fahrt zu einem Tanzvergnügen zusammen mit anderen jungen Leuten macht die Kutschgesellschaft beim Haus des Amtmanns halt, um dessen Tochter Lotte abzuholen. Werther sieht sie, umringt von acht jüngeren Geschwistern, denen sie ihr Abendbrot von einem Brotlaib Stück für Stück abschneidet. Der junge Werther ist tief beeindruckt von der Szene und ihrem Mittelpunkt, dem schönen Mädchen, welches eine Mutterrolle übernommen hat. Der Amtmann ist verwitwet. Während des Balls, dem Ziel des gemeinschaftlichen Ausfluges, schlägt Lotte mit der liebenswürdigsten Freiheit von der Welt Werther vor, einen bestimmten Tanz, den Deutschen, mit ihr zu tanzen. Es ist hier so Mode, fuhr sie fort, dass jedes Paar, das zusammengehört, beim Deutschen zusammenbleibt. Als Lottes Freundinnen das glückliche Einverständnis, das Lotte und Werther beim Tanzen zeigen, bemerken, erinnern sie Lotte an Albert. Auf Werthers Frage erklärt ihm Lotte, indem sie ihm die Hand zur Promenade bot, Albert sei ein braver Mensch, mit dem sie so gut wie verlobt sei. Das Wetter stellte dann ein gewisses Problem dar, denn im Verlaufe des Abends entsteht ein Gewitter. Werther und Lotte betrachten danach vom Fenster aus die noch regenfeuchte, erfrischte Natur. Beiden kommt das gleiche Gedicht in den Sinn, eine Ode von Klopstock. Ergriffen wird ihnen ihre Seelenverwandtschaft bewusst. Von nun an sucht Werther die Nähe dieses außergewöhnlichen Mädchens, die ihm nicht verwehrt wird.

Für Werther ist es gerade die Unmöglichkeit, Lotte zu besitzen, die den Reiz ausmacht. Ohne es offen zuzugeben, genießt Werther den Schmerz angesichts seiner vergeblichen Liebe zu ihr. Werther ist mehr in seine eigenen Gefühle, als in Lotte verliebt.

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Als Albert, Lottes Verlobter, von einer geschäftlichen Reise zurückkehrt, ändern sich Werthers Gefühle allmählich. Die Anwesenheit des Verlobten macht ihm die Hoffnungslosigkeit seiner Liebe bewusst. Obwohl Albert ein sympathischer, gutmütiger Mensch ist, bleibt das Verhältnis zwischen ihm und Werther gespannt. Als Werther bemerkt, dass er seine starken Gefühle für Lotte aufgrund der problematischen Konstellation nicht ausleben kann, verlässt er das Dorf, um Abstand zu gewinnen. Werther arbeitet eine Zeit lang bei einem Gesandten, aber die Geschäftspedanterie und die Enge der Etikette lassen ihn erkennen, dass er sich mit der oberen Gesellschaftsschicht und dem Leben der Adligen nicht identifizieren kann. Enttäuscht kehrt er nach Wahlheim zurück.

16. juni 1771 j . w. goethe : › die leiden des jungen werthers ‹, leipzig : weygand

1774

Ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht. Ich habe – ich weiß nicht. Unsere jungen Leute hatten einen Ball auf dem Lande angestellt, zu dem ich mich denn auch willig finden ließ. Ich bot einem hiesigen, schönen, überdies unbedeutenden Mädchen die Hand, und es wurde ausgemacht, daß ich

Inzwischen sind Lotte und Albert verheiratet. Werther besucht Lotte dennoch immer wieder, bis es ihr schließlich zu viel wird und sie ihm beteuert, ihn erst Weihnachten wiedersehen zu wollen. Als Werther vor Ablauf dieser Frist in Alberts Abwesenheit Lotte besucht und ihr aus Ossians Grabgesängen vorliest, wird Werther von seinen Gefühlen übermannt, umarmt sie und sie küssen sich. Lotte reißt sich dann aber los. Nach diesem Ereignis verzweifelt Werther endgültig. Er schreibt einen letzten Abschiedsbrief, den er bereits vor seinem letzten Treffen mit Lotte angefangen hat, leiht sich von Albert unter dem Vorwand einer Reise zwei Pistolen und schießt sich um Mitternacht auf seinem Zimmer in den Kopf. Am nächsten Morgen wird er in seiner charakteristischen blau-gelben Kleidung schwer verwundet aufgefunden. Gotthold Ephraim Lessings emilia galotti liegt aufgeschlagen auf seinem Pult. Gegen zwölf Uhr mittags erliegt er seiner Schussverletzung. Ein christliches Begräbnis bleibt dem Selbstmörder verwehrt.

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eine Kutsche nehmen, und mit meiner Tänzerin und ihrer Base auf dem Weg Charlotten S. mitnehmen sollte. Sie werden ein schönes Frauenzimmer kennen lernen, sagte meine Gesellschafterin, da wir durch den weit ausgehauenen Wald nach dem Jagdhause hinfuhren. – Nehmen Sie sich in acht, daß Sie sich nicht verlieben! – Wieso? sagte ich. Sie ist schon vergeben, antwortete jene, an einen sehr braven Mann, der weggereist ist. Die Nachricht war mir ziemlich gleichgültig. Die Sonne war noch eine Viertelstunde vorm Gebirge, als wir vor dem Hoftore anfuhren. Es war sehr schwül, und die meine Begleiterin äußerte ihre Besorgnis eines Gewitters wegen, das sich in weißgrauen dumpfichten Wölkchen rings am Horizonte zusammenzuziehen schien. Ich ging durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich in die Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe.


„Ja, wer ist denn Albert?“ sagte ich zu Lotte, „wenn’s nicht Vermessenheit ist, zu fragen.“ – „Was soll ich’s Ihnen leugnen“, sagte sie, indem sie mir die Hand zur Promenade bot. „Albert ist ein braver Mann, dem ich so gut als verlobt bin.“

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Ach diese Lücke!

Diese entsetzliche Lücke, die ich

hier in meinem Busen fühle! Ich denke oft, wenn du sie nur einmal, nur einmal an dieses Herz drücken könntest, diese ganze Lücke würde ausgefüllt sein.

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1. juli 1771

10. September 1771

Was Lotten einem Kranken sein muß fühle ich an mei-

Das war eine Nacht! Wilhelm! Nun überstehe ich alles.

nem eigenen kranken Herzen. O der Engel! Um deinet-

Ich werde sie nicht wiedersehn! O daß ich nicht an deinen

willen muß ich leben! Lotte... Lotte... Ich weiß nicht, wie

Hals f liegen, dir mit tausend Tränen und Entzückungen

ich mich ausdrücken soll. Charlotten S. Meine Lotte.

ausdrücken kann, mein Bester, die Empfindungen, die mein Herz bestürmen. Hier sitze ich und schnappe nach

Die alberne Figur, die ich mache, wenn in Gesellschaft

Luft, suche mich zu beruhigen, erwarte den Morgen, und

von ihr gesprochen wird, solltet ihr sehen! Wenn man

mit Sonnenaufgang sind die Pferde bestellt.

mich nun gar fragt, wie sie mir gefällt? - gefällt! Das Wort hasse ich auf den Tod. Was muss das für ein Mensch sein, dem Lotte gefällt, dem sie nicht alle Sinne,

Lotte, sagte ich, indem ich ihr die Hand reichte und mir

alle Empfindungen ausfüllt!

die Augen voll Tränen wurden, wir werden uns wiedersehn. Hier und dort wiedersehn!

Nein, ich betrüge mich nicht! Ich lese in ihren schwarzen Augen wahre Teilnehmung an mir und meinem Schick-

Ich konnte nicht weiter reden – Wilhelm, musste sie mich

sal. Ja, ich fühle, daß sie mich liebt. – und wie wert ich

das fragen, da ich diesen ängstlichen Abschied im Herzen

mir selbst werde, wie ich mich selbst anbete, seitdem sie

hatte.

mich liebt! Ach wie mir das durch alle Adern läuft, wenn mein Finger unversehens den ihrigen berührt, wenn unsere Füße sich unter dem Tische begegnen! Ich ziehe zurück wie vom Feuer, und eine geheime Kraft zieht mich wieder vorwärts – mir wird’s so schwindelig vor allen

24. dezember 1772

Sinnen. – O! und ihre Unschuld, ihre unbefangene Seele fühlt nicht, wie sehr mich die kleinen Vertraulichkeiten peinigen. Wenn sie gar im Gespräch ihre Hand auf die

24. Dezember. Es ist beschlossen, Lotte, ich will sterben.

meinige legt, und im Interesse der Erzählung näher zu

Es ist nicht Verzweif lung, es ist Gewissheit, daß ich mich

mir rückt, daß der himmlische Atem ihres Mundes

opfere für dich. Wenn du hinaufsteigst auf den Berg,

meine Lippen erreichen kann. Meine Lotte!

an einem schönen Sommerabend, dann erinnere dich meiner... Lieber Albert! Ich habe dir über gelohnt, Albert, und du vergibst mir. Ich habe den Frieden deines Hauses gestört, ich habe Mißtrauen zwischen euch gebracht. Lebe wohl! ich will es enden. O daß ihr glücklich wäret durch meinen Tod! Albert! Albert! mache den Engel glücklich! Und so wohne Gottes Segen über dir! Tschüß, Albert! In diesen Kleidern, Lotte, will ich begraben sein. Ach, ich dachte nicht, daß mich der Weg hierher führen sollte. Sie ist geladen – So sei es denn! Lotte! Lotte, lebe wohl! Lebe wohl! Tschüß, Lotte.

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Die Säure deiner Gedanken Riecht altes Holz immer so und nie anders? Warum scheint die Sonne immer nur an den schlechten Tagen und warum regnet es passend zum Novemberlied? Warum ist der Kaffee zu schwarz, die Zigaretten wieder leer, die Buchstaben wieder sinnlos und mein Herz ein bisschen Schreien und Hoffen und Beben und Zittern und warum ist das Bett immer noch leer?

Schmeckt der Sommer immer nach schwülen Nächten und Versprechen, die niemand mehr im Oktober weiß? Bekomme ich jetzt einen Orden der Gutmenschen und wann war noch mal das Happy End? Und gibt es eigentlich auch einen Happy Start und die Garantie, dass aus einem Singular bald endlich ein Plural zum anfassen und mitnehmen wird? Die Gänge sind grau. Der Boden spiegelt die hallenden Schritte und ich zähle die Quadrate auf dem Boden. Einatmen, ausatmen. Noch drei Türen. Noch zwei. Wie viele Menschen sind heute hier gestorben? Wer hat heute erfahren, dass es wieder da sei, aber kein Grund zur Sorge bestehe? Wie viele Tränen sind heute auf den alten Gummiboden getropft und wie viele Vasen sind heute für Blumen gesucht worden? Werden ihr die Blumen gefallen? Hätte ich lieber die gelben nehmen sollen? Hätte ich besser nicht herkommen sollen? Sehe ich dich bald wieder? Denkst du auch manchmal an mich? Liest du die Worte, die eigentlich von anderen Dingen erzählen? Weißt du, wieviel da in mir ist? Kennst du die Geschichten? Es sind drei. Was tust du gerade? Wo bist du gerade? Darf ich jetzt wirklich hoffen, oder heißt ein one-night-stand ohne stand nichts? Hätte ich dich küssen dürfen? Hätte ich deine Hand nehmen dürfen? Hättest du sie weggezogen? Wirst du dich melden? Wirst du mir wehtun, verschwinden, dich auf lösen, ein paar Pixel werden auf schwarzem Hintergrund, die irgendwas von einer alten Liebe erzählen, die schon gestorben ist, bevor ich dir all das sagen konnte? Bevor ich dir sagen konnte, dass deine Worte Stürme sind, die den Alltag mit sich reißen und nur noch verbrannte Erde bleibt, in die ich mit einem alten Zweig deinen Namen male. Kommst du mit in meinen Alltag? 156 dvd ———

Noch drei Schritte. Noch eine Tür Noch zwei Atemzüge & kein Zurück

Ich binde um mein Herz drei Tonnen Watte und fünf Pflaster. Ich sitze mit einem leeren Kopf vor vollen Büchern, ich schreibe hohle Worte auf weiße Blätter und die Sehnsucht kann nicht mehr still sein. Ich schreibe dir nicht. Ich reiße mich zusammen. Gegen die Angst und gegen die Wand. Ich warte nicht mehr. Ich zähle die Sekunden. Ich zähle die Tage. Jeder Tag hat vierundzwanzig Stunden. Tausendvierhundertvierzig Minuten. Sechsundachtzigtausendvierhundert Sekunden.

Sie haben null neue Nachrichten Die Türklinke runter drücken, einfach reingehen, kein Klopfen, einfach reingehen und lächeln. Sich nichts anmerken lassen. Stark sein. Groß sein. Lächeln. Lächeln. Lächeln. Nicht denken, sondern fühlen. Nicht laufen, sondern schreien. Die Türklinke runter drücken. Ich möchte irgendwas für dich sein. Dein Atem auf meiner Haut, die Sehnsucht im Bauch. Warum kannst du nicht hier sein? Hast du dich gefreut? Hat es geklappt? Hast du jemanden kennengelernt? Konntest du schlafen? Wie lange hast du wach gelegen? Hast du an mich gedacht? Dein Atem auf meiner Haut? Wird es weh tun? Wirst du wieder verschwinden? Weißt du, was ich sagen will? Weißt du, dass es mich gibt?


Weißt du, dass Zynismus Angst in Spiegelschrift ist? Weißt du wie lang zwei Sekunden Ewigkeit sein können? Wirst du ja sagen? Rufst du mal an? Kennst du meine Nummer? Deine Hände, dein schöner Rücken, drei Sekunden Ewigkeit, ich wünschte, du würdest wissen, dass… Sie sitzt auf dem Bett und lächelt. Sie sagt, es ginge ihr gut. Lächeln, lächeln, lächeln, nicht umdrehen, nicht wegrennen, einatmen, ausatmen, ihr in die Augen sehen. Sie fragen, wie es ihr geht, wie der Tag war, ob es noch weh tut. Sie sitzt da und lächelt. Es ist bösartig. Hast du mal an mich gedacht? Weißt du, wie spät es ist, wie schnell sich die Erde dreht und wie lang vier Tage sind? Weißt du, wie das ist, wenn es so ist, wie es jetzt ist, wenn die Zweifel viel größer sind als das Herz und wenn der Kopf nur Error sagt und die Beine nicht mehr wollen? Hast du jemals einen Moment erlebt, der niemals wieder vergangen ist? Dein Leben, ein Film aus Momentaufnahmen und schlechten Dialogen, die du nie verstanden hast. Ein Cut. Ein Abspann. Dieser Moment, die erste Szene und alles ist neu geschrieben. Und dieser Film ist eine Nahaufnahme im Dauerrepeat. und immer hörst du diese Stimme und immer riechst du diesen Geruch und immer diese Augen, dieser Atem, den Pulsschlag dieser einen Nacht. I can’t believe life’s so complex, when I just wanna sit here and watch you undressed. Schwarz oder weiß, alles auf rot, alles verloren? Vierunddreißig Worte und ein leises vibrieren. Keine Satzzeichen. Eine Flasche Rotwein und deine Worte, die von Dingen erzählen,

die ich nicht mehr verstehe. Dreißig Briefe, dreiundvierzig Seiten, vier Geschichten, die du niemals lesen wirst. Sieben Tage Warten, sechs Tage beben, tausend Stunden toben, eine Sekunde zittern. Und der andere hört von alldem immer nur das nein. Und der andere, das bin ich. Und so endet unsere Geschichte mit schönen Worten über hässliche Wahrheiten mit einer Kurzmitteilung ohne Satzzeichen und einem es tut mir leid, ich musste, das sich versteckt zwischen vierunddreißig Worten, die ich nicht mehr verstehe.

I could be so much more than this. 157


JE T’EMBRASSE

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Ich möchte neben dir schlafen und mit dir für deine Prüfungen lernen und dir sagen wie sehr ich dich liebe und deine FüSSe wärmen wenn du frierst und deine Hand halten wenn du zitterst vor Angst und dir Geschichten zum Einschlafen vorlesen von denen du immer nur den ersten Teil mitbekommst und mit dir spazieren gehen wenn der erste Schnee gefallen ist und mit dir im Park in der Sonne liegen und deine weichen Lippen auf meiner Haut spüren und dir Kassetten mit geheimen Botschaften aufnehmen und Fotos von dir machen wenn du schläfst und dir sagen wie sehr ich deine Augen liebe, deinen Mund, deine Haare und deinen Nacken und dir sagen dass ich dich vermisse wenn du nicht da bist und viermal am Tag mit dir telefonieren, nur um deine Stimme zu hören oder einfach am Telefon schweigen und wissen du bist da und mit dir durch den Regen laufen und in Pfützen springen und gemeinsam mit dir Filme sehen und lachen und gemeinsam mit dir Filme sehen und weinen und für dich kochen wenn du erledigt vom Tag nach Hause kommst und mit dir schlafen am Morgen und hoffen, dass das alles niemals enden wird. das Klingt super, nicht wahr? ger ade zu Perfekt. Ist es aber nicht. ich habe lange geglaubt es sei perfekt, aber es war nur ein Zustand, der einem ein Sicherheitsgefühl gibt. ein ich-bedeute-jemandem-wirklichetwas-Gefühl. und dann, wenn du es nicht erwartest, bekommst du die volle Ladung in die Fresse. und dann heiSSt es: Es ist einfach passiert. Ich habe mich in jemand anderen verliebt. doch DAS IST NICHT EINFACH PASSIERT. denn Da gibt es ein Gefühl dem kannst du nachgeben oder du kannst ihm widerstehen. und zieh dich nicht einfach so feige aus der Ver antwortung. und ich? Ich fühle mich schuldig. Warum eigentlich? Ich bekomme dieses gr ausame Bild nicht mehr aus meinem kopf.


Imprint

ausgabe no1 blind magazin THEMA ›sehnsucht‹ konzept & gestaltung Jan–Frederic Goltz videos (ausser ›wildpferd‹ von Ole Schmidt), montage & dvdauthoring Jan–Frederic Goltz audio & musik: Jan–Frederic Goltz (ausser ›hansesalat‹, eniac, von der Single ›experimental dental school / eniac split‹ © Copyright by X–Mist Records, Nangold, Germany 2006, und ›decor d’accord‹, i might be wrong, © Copyright by Sinnbus Records, Berlin, Germany 2008, vom Album ›it tends to flow from high to low‹) texte Lisa von Billerbeck, Simon Bötjer, Sebastian Egert, Jan–Frederic Goltz, Dennis Kirsch, Benjamin Kröger, Katrin Nagel, Sebastian Neubauer, Per Ole Schmidt, Christian Weiß, Kathrin Weßling, Rafael Steeb, Ulla-Brit Vogt druck Papierflieger Verlag GmbH verwendete schriften Adobe Garamond Pro, Helvetica Neue Bold betreuende professoren Prof. Klaus Paul, Prof. Uli Plank, Dr. Rolf Nohr tausend dank Friedemann Bezner, Axel Brötje, Benedikt & Simon Bötjer, Margarete Diedrich, Meinen Eltern, Julian Faudt, Irmgard Goltz, Natalie Hanslik, Felix Jeiter, Rico Brutalo Lützner, Stefan Mückner, Sebastian Neubauer, Lea Rochus, Per Ole Schmidt, Ulla-Britt Vogt, Sascha Weidner, Christian Weiß, Sebastian Weiß, Kathrin Weßling, Grzegorz Zgraja danke sehr Dennis Bettels, Lisa von Billerbeck, Stefanie Bischoff, Chris Blank, Lotte Rosa Bucholz, Kathrin Burghardt, Jane Büring, Büro Büro, Ellen Druwe, Sebastian Egert, Eniac, Inga Glander, Gärtner, Gunther Doom Gräfe, Florian Hardwig, Prof. Ute Helmbold, Christine Henschel, Laura Knauer, Jan Willy Oberdieck, Uli Lier, Markus Losleben, Tobias Maring, Dr. Rolf Nohr, Katrin Nagel, Nadine Nolting, Chris Nowak, Prof. Klaus Paul, Prof. Uli Plank, Ulrich Pester, Oliver Popke, Daniel Pušelja, Chris Rank, Ulrich Reinhardt, Steffen Rhode, Ralf Schuster, Oliver Steinert, Rafael Steeb, Tobias Tank, Liv Merle Theeß, Veronika Ruschweski, Thomas Steen, Anna Skrollan Virnich, Hendrik Will, Julia & Florian Wöhrle mit Tom & Bela, Raum Zwei Zwei Drei auflage: 15

rgb | cmyk magazin © Jan–Frederic Goltz 2008

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Immer ist im Herzen Raum für mehr, für Schöneres, für Größeres nelly sachs (1891–1970)


Sehnsucht


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