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Lieber Herr Leo

„Jedes Ereignis auf der Welt hat seine Stunde“: Geborenwerden und Sterben, Weinen und Lachen, Umarmen und Loslassen, Reden und Schweigen …“ Diese jahrtausendalte Erkenntnis mussten wir als Familie wieder neu lernen. Ganz selbstverständlich lebten auch wir in der Annahme, alles planen und über alles frei verfügen zu können.

Plötzlich war alles anders und der gewohnte Alltag stand Kopf. Der Tag des Abschiedes von dir, geliebter vierbeiniger, pelziger Freund, Herr Leo. Der Tag, an dem dein Weg dich über den großen Regenbogen führt, ohne Leine und ohne deine Weggefährtin Frau Emma. Oft habe ich in den letzten Monaten gedacht, wenn du schwer atmend unter meinem Schreibtisch gelegen bist, woher weiß ich, wann du wirklich nicht mehr leben kannst und willst. Ich wollte dich auf keinen Fall leiden lassen, aber auch nicht zu früh loslassen. Du warst die letzten Jahre stocktaub, halb erblindet und konntest dich nur schwer bewegen. Doch auch wenn es dir nicht gut ging, hast du es verstanden, die schönen Momente des Tages auszukosten: Du hast alle Mitglieder deines Rudels stets freudig bellend begrüßt, bist unserem treuen Hausgeist Conny und deiner „alten Büro-Liebe“ Margit stets freudig entgegengelaufen, warst der CoChef, wenn es darum ging, die Enkelkinder zu beaufsichtigen und vor Gefahren zu schützen. In letzter Zeit sind die Pausen bei unseren Spaziergängen immer länger geworden, die Spaziergänge selbst immer kürzer. Bis zuletzt hast du es geliebt, wenn ich deinen Rücken gekrault habe. Du wolltest immer nur Eines: Bei uns, bei deiner Familie sein. Und so war es auch. Einen Tag vorher konntest du nur mit großer Kraftanstrengung aufstehen, hast nichts mehr gegessen, bist mir aber auf wackeligen Beinen gefolgt und mitten im Wohnzimmer bei einer großen Familienfeier gelegen. Du wolltest teilhaben und schauen, was wir, dein Rudel, machen. Deine großen, müden Augen haben versucht, alles unter Kontrolle zu halten. Du wolltest dabei sein und uns beschützen. So wie früher, wenn wir deinen Beschützerinstinkt oft nicht verstanden haben. Wenn die Buben mit ihren Rädern zu schnell unterwegs waren und Gefahr gedroht hat, bist du ihnen nachgelaufen und hast sie mit einem gewagten Sprung vom Rad geholt. Bei Spaziergängen, wo du jeden entgegenkommenden Artgenossen eifersüchtig angeknurrt hast, weil du mir scheinbar nicht zugetraut hast, dass ich alleine die Begegnung auch im Grif habe. Mit lautem Gebell hast du stets Haus und Hof verteidigt und uns oft vor drohenden Gefahren bewahrt. Dein Instinkt hat dich dabei selten getäuscht.

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Auch als dein Herrl, mein Mann Franz gestorben ist. Da hast den Kopf auf meine Füße gelegt, mich unendlich traurig aus deinen bernsteinfarbenen Augen angeschaut und mich mit deiner Pfote immer wieder ganz vorsichtig angestupst. Ich weiß nicht, ob du es gerochen hast oder einfach nur gespürt hast, aber du wusstest, was passiert war. Du bist nicht von meiner Seite gewichen. Du hast mir Bescheid gegeben, wenn Kinder und Enkelkinder Hilfe brauchten. Wenn ich dich in einer bestimmten Tonlage bellen hörte, wusste ich: Da stimmt etwas nicht!

Unvergessen bleiben aber auch deine Streiche, vor allem, wenn es ums Fressen ging. Da hast du dich stets mit deiner Hundefrau Emma gegen mich verbündet, beide auf frischer Tat ertappt, kein noch so kleiner Hinweis, wer von euch beiden der Anführer, wer der Mitläufer ist. Unvergessen bleiben ausgehöhlte

Geburtstagstorten, blitz-blank geleckte Butterdosen, im Garten liegende Rührschüsseln … Dazu meist dein schuldbewusster Blick mit Schlagsahne in den Barthaaren. Wenn wir alleine waren, hast du dich oft genüsslich zu mir auf die Bank gesetzt und auf den gedeckten Frühstücks- oder Mittagstisch geschaut, in der Hofnung, zumindest ein kleines Stückchen meines Essens zu erhaschen. Da warst du auch nicht wählerisch.

Und dann kam der Tag des Abschieds, an dem du nichts mehr gegessen und getrunken hast, auch nicht mir zuliebe. Du konntest dich nicht mehr selbst auf den Pfoten halten. Du lagst nur heftig hechelnd unter dem Küchentisch und hast mich angeschaut wie nie zuvor. Mein Sohn Max hat dich vorsichtig aufgehoben und zum Tierarzt gebracht. Noch während das Narkosemittel foss, hast du deine guten Augen geschlossen. Die Zerbrechlichkeit des Lebens wurde schmerzhaft spürbar. Max hat dich wieder nach Hause gebracht, wir haben dich in deinem Körbchen auf deinen Lieblingsplatz im Garten gelegt. Frau Emma hat vorsichtig an dir geschnüfelt und sich dann respektvoll zurückgezogen.

Ich habe mich ein letztes Mal auf dein weiches Fell gelegt und versucht, dich auf deiner Himmelsreise zu orten – bis du von Mitarbeitern des Tierkrematoriums abgeholt wurdest. Wir waren alle bei dir, ich glaube, das hätte dir gefallen. Herr Leo, du fehlst mir. Du fehlst uns. Jeden Tag. Am Morgen weckt mich kein vorsichtiges Stupsen deiner kalten Schnauze. In der Küche habe ich keinen Vorkoster mehr. Im Wohnzimmer putzt sich keiner auf dem frisch gesaugten Teppich sein Fell. Alles hat seine Zeit, ich schreibe diese Worte auch als Mahnung. Wenn ich so darüber nachdenke: Mit niemandem habe ich die letzten 15 Jahre mehr Zeit verbracht. Wir waren nur an ganz wenigen Tagen getrennt. Du bist noch immer bei uns. Nicht nur in unseren Gedanken und Herzen. Wir haben deine Urne im Garten beerdigt. Du hast uns so viel gegeben. Und jetzt? Dein Körbchen steht vor der Haustür, neben dem von Frau Emma. Deine Leine hängt an der Haustür. Heute hat Frau Emma sie geschnappt, damit gespielt und dann in deinen Korb gelegt. Wie ein Gruß, wie eine Botschaft: Hallo, Herr Leo, du fehlst … Ingrid Gady

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