Game - Leseprobe

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Game Rainer Nemetsch zweifelte zu keinem Zeitpunkt daran , ein guter Vater zu sein. Er hatte nach seinem Abitur alle Sprossen einer Karriere als Bankkaufmann erklommen und war inzwischen Filialleiter einer Hypothekenbank der linksrheinischen Kreisstadt Rheingrotenau. Er fand, dass er es recht weit gebracht habe und sah hier und da Veranlassung, seinen zwei Kindern Anna und Simon genießerisch den Erfolg mit der Bemerkung zu präsentieren, dass es nicht ohne Ehrgeiz im Leben gehe, dass man auch gegen Widerstände durchhaltend kämpfen müsse und dass man sich und seiner Familie eine gut situierte Existenzgrundlage schaffen müsse. Aus seinem eigenen Erfolgsweg schloss er zielgerecht auch auf die Forderung an seine zwei heranwachsenden Kinder mit Namen Anna und Simon, eine ebenso solide Bildungsgrundlage zu schaffen, um auch eines Tages vor sich selbst, der Welt und der Familie ein Zeugnis von Verantwortung abzulegen, das für die kommende Generation tragfähig sei. Diesen moralischen Appell trug Rainer Nemetsch gelegentlich seinen Kindern vor, besonders dann, wenn die Erziehungserfolge in eine Schieflage kamen und er der Meinung war, diese müssten wieder zurechtgerückt werden. Anna und Simon sahen in der Regel keine Veranlassung für derartige, fast im Wortlaut gleichbleibenden Ansprüche an ihr Leben. Mit der bei wachsendem Alter sich verstärkenden rebellierenden Gegenwehr äußerten dann beide die in diesem Punkt gemeinschaftliche Bemerkung, die Zeit habe sich geändert und sie wüssten schon selbst, was zu tun sei.

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Die Geschwister waren eigentlich nur in diesem Punkt einer Meinung; aber sie waren der Überzeugung, genau hier zusammen halten zu müssen. Getrennt denken, vereint kämpfen. Nur eine geschlossene Reaktion führe zum Erfolg, bei dem der Vater langsam mürbe werde. Aber genau das hatte Vater Rainer nicht vor. Er war durchaus über weite Zeiträume in der Lage, in seiner Meinung um kein Jota nachzugeben. Das sicherte ihm einen dauerhaften Erfolg im Berufsleben, das sicherte ihm letztlich auch Erfolg bei seiner Nachkommenschaft. In dieser Hinsicht konnte Rainer Nemetsch ein vorbildlicher Vater genannt werden. Man konnte sich auf ihn voll und ganz verlassen. Seine zwei Sprösslinge allerdings sahen darin ein Zeichen aufregender Sturheit. Der vierzehnjährige Simon hasste ihn deshalb bisweilen. Zumeist aber war das Bild von seinem Vater von Respekt bestimmt, ein Respekt allerdings, der ihn nicht daran hinderte, seinen Kopf durchzusetzen. Anna resignierte eher als dass sie hasste. Sie lehnte sich verbal zwar auf, zog sich aber, wenn es ernst wurde lieber zurück und schmollte. Anna war siebzehn und ein rassig aussehendes Mädchen mit langem dunklem welligem Haar. Sie war dynamisch und burschikos in ihren forschen Auftritten, die ein eher schüchternes und ängstliches Naturell verbargen. Mutter Karin Nemetsch, geborene Haverkampf kannte ihren Mann bereits aus einer gemeinsamen Schulzeit. Das hatte auf der einen Seite den Vorteil, dass man durch eine gemeinsame Biografie emotional zusammengewachsen war und den anderen kannte, bevor man sich mit ihm in einer Lebenspartnerschaft auf ewig verband, mit seinen

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Schwächen und Stärken, mit seinen Wortspielen, seinen Reaktionen und seinen Einschätzungen. Es hatte den Nachteil, dass es kein Geheimnis für Überraschungen mehr gab. Beschönigende oder nicht genügend ausbalancierte Äußerungen waren häufig Anlass, den anderen wieder zur Sachlichkeit zu zwingen. Man konnte sich nichts vormachen. Jedes Täuschungsmanöver wurde schon im Keim erstickt. Wenn Vater Rainer seinen Kindern plakativ die Bedeutung von Moral und Verantwortung vorhielt, war die Mutter und Gattin fair genug, sein Denkmal nicht zu demontieren. Im Hinterkopf blieb mit stillem nachsichtigen Lächeln die Erinnerung an einen Jugendlichen, der in den aufsässigen Siebzigern genau das Gegenteil von dem war, was er seinen Kindern mit einigem Pathos predigte, nämlich ein Chaot, der seine aufmüpfige Geisteshaltung in einigen höchst dubiosen politischen Aktionen demonstrierte und dies mit der Bemerkung verteidigte, er sei links, obwohl er zu diesem Zeitpunkt gerade mal in der Lage war topographisch rechts von links zu unterscheiden. Er legte sich in aufreizend antiautoritärem Gehabe, das einen höchst autoritären Charakter offenbarte mit jedem Lehrer in der Schule an, den er nicht respektierte, und das waren nahezu alle. Er kam zur Schule, wann immer er es für sinnvoll hielt und war auf diese Weise ein ständiger Ordnungspunkt bei Konferenzen. Schließlich musste er gar die Schule verlassen, so dass er den Rest seiner Bildungskarriere in der Schule der Nachbarstadt absolvierte. Rainers sinnvolle kreative Aktivitäten beschränkten sich auf den Raum der Freizeit, den er für sich so definierte, wie er es

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für richtig hielt. Er gründete eine Rockband, die je länger sie übte und spielte nach Ansicht Karins immer schlechter wurde. Dazu hatte er ungepflegte, lange Haare, kiffte, was das Zeug hielt, trieb sich in Diskotheken rum und machte ein Mädchen nach dem anderen an. Karin war allerdings die erste. Er lernte sie, als sie sechzehn war auf der zweiten Schule der Nachbarsstadt kennen. Zu Hause trieb er es auch mit anderen, kehrte aber immer zu Karin zurück. Karin war von Anfang an in Rainer "verknallt". Er war für sie der Inbegriff eines "Reißers". Genau das, was Erwachsene an Jugendlichen für bedenklich halten, schätzte sie an ihm. Er war so anders als viele seines Alters. Sie fühlte sich geschmeichelt, dass er sie mochte. Karin war damals ein Ebenbild ihrer Tochter, gut aussehend, rassig, mit langer bis an die Schulter reichender, dunkelblonder Mähne. Sie war temperamentvoll, ein bisschen verrückt und aufgedreht, so dass sie die Macken ihres Rainers nicht nur ertrug sondern genoss. Als Mutter war sie bisweilen, zumal in Augenblicken scharfer erzieherischer Auseinandersetzung der Meinung, der Vater würde besser dran tun, seinen Kindern einmal deutlich zu machen, was für ein Kaliber er damals gewesen sei, damit der Sohn wirklich stolz auf ihn sein könne. Ab und zu hatte sie den Plan, es ihnen zu erzählen. Aber sie wollte keine Wäsche waschen, die nur Rainer für schmutzig hielt. Anders als ihr Ehemann, der immer ein ausgeprägtes Bewusstsein von seinem Wert und seiner Sendung hatte war Karin inzwischen in einem Zustand der Resignation. Sie hatten spät geheiratet, nach ihrer Ansicht zu spät ihre Kinder bekommen, und sie hatte das Gefühl sie komme

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allmählich in die Wechseljahre und das Leben sei ein wenig an ihr vorbeigegangen. Sie missbilligte die autoritäre, nach ihrer Meinung verspießte Haltung ihres Ehemannes, hatte aber nicht die Kraft, sich dagegen aufzulehnen oder sie gar zu steuern. Auf diese Weise erlag sie einer gewissen Melancholie, die sich in häufigen Tränen äußerte, in der Regel grundlos, immer nur kurz und vorübergehend, aber deutlich genug, um Symptome von Depression zu zeigen. Karins weichere Tonart verschaffte dem Familienleben jene Polarität, die für die Kinder wichtig war. Sie brachten ihre Probleme zur Mutter, wo sie kaum gelöst aber zur Kenntnis genommen wurden. Sie erlaubte hier und da auch Abweichungen von den familiären Anordnungen, so dass ihre Inkonsequenz als wohltuend empfunden wurde. In starken Momenten war Karin auch in der Lage, sich demonstrativ auf die Seite der Kinder zu stellen. Im Ganzen gesehen geschahen in der Familie Nemetsch normale Vorgänge, wie sie überall geschehen, wenn Kinder in die Pubertät kommen. Diese Zeit dauert in der Regel nicht lang. Sie kann aber heftig sein und wenn alle Seiten heil daraus hervorgehen, ist die Welt nicht mehr an jenem Abgrund, den man noch einige Zeit vorher bedrohlich auf sich zu kommen sah. Beim Umzug in die rheinische Kreisstadt Rheingrotenau hatten die Nemetschs ein Reihenhaus in einer Siedlung erworben. Die Nachbarschaft war im Ursprung von jungen aufstrebenden Familien geprägt, deren Nachwuchs entweder bereits ausgezogen war oder wie im Fall Nemetsch Kinder im heranwachsenden Alter hatte.

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