Heimfocus #29 - 06/2017

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No 29 • 06 / 2017

© Foto vom Bild RoKa Wirtz

STIMME FÜR MENSCHEN

Verwundete Seelen

Eine Ausstellung mit Bildern von Flüchtlingen weiter auf S.17

Was machen wir da eigentlich? Kritische Beobachtungen und Fragen zur Integration

Hört uns zu!

So könnte es gehen!

Kinder in Syrien teilen uns ihre Geschichten und Träume mit

Gegen Fluchtursachen: Die Eigendynamik in Afrika stärken

Weiter auf S.13

Weiter auf S.29

w w w . h e i m f o c u s . n e t

Weiter auf S.40


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Inhalt Editorial ..................................................................................................................................................................... 3 Das wandernde Ich Perspektiven einer modernen Nomadin ................................................................................. 4 „If you can dream it, you can do it.“ Mit knapp 13 Jahren als Spätaussiedlerin aus der Ukraine nach Deutschland eingewandert .........................................

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Schule in Zeiten des Krieges Interview mit Khaldoun Al Batal, Al Caravan ........................................................ 8 Hört uns zu! Kinder in Syrien teilen ihre Lebensgeschichten, Träume und Gedanken über ihre Rechte mit uns ....... 13 „Das Leben läuft einfach weiter, und wir müssen mithalten – nur so können wir leben“ ................................. 16 Verwundete Seelen Eine Ausstellung mit Bildern von Flüchtlingen in Linnich, Kreis Düren ................................. 17 Seenotrettung im Mittelmeer - und Abschiebung übers Mittelmeer .............................................................. 20 Es wird nie mehr sein, wie es war Mama, meinst du, der Frieden kommt bald? ............................................. 24 „Stoppt die Rüstungsexporte“ Ostermarsch 2017 .......................................................................................... 26 Was machen wir da eigentlich? Und wo wollen wir hin? .................................................................................. 29 „Neu in Deutschland“ Ein Versuch, die Anonymität des Sammelbegriffs ‚Flüchtling‘ zu durchbrechen ............. 32 Ga Ga Land Im Land der „Da-sind-wir-nicht-zuständig“ ............................................................................................. 34 Hürden und Chancen bei der Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt ................................................... 36 Auf Wiedersehen, Europa! War schön mit Dir. Immer mehr afrikanische Migranten kehren in ihre Heimat zurück, um ihr Land aufzubauen .....................................

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So könnte es gehen! Aber dann die deutsche TK-Pizza in Nairobi ...................................................................... 40 Bloß keinen Marshallplan für Afrika! „Kölner Memorandum“ für eine andere Entwicklungspolitik .............. 42 Klartext 06/2017 .................................................................................................................................................. 44 Impressum und Infos .......................................................................................................................................... 47

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06 / 2017

Editorial

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Das eigene Potenzial ist Afrikas Chance Flucht und Migration sind globale Herausforderungen, für Diamanten-Abbau direkt in die die die Weltgemeinschaft bisher keine wirklichen Lösun- Infrastruktur, in das Gesundgen gefunden hat. Europa war und ist davon weit weni- heits- sowie das Telekommuger betroffen als andere Weltregionen, selbst nach 2015, nikationswesen, in Bildung und als viele Geflüchtete aus den Nahen und Mittleren Osten erneuerbare Energien. Das ist und sowie aus Afrika nach Europa eingereist sind. Der ein starkes Signal, um Armut Kontinent findet bisher keine Strategie, wie er damit um- zu bekämpfen. Botswana hat gehen soll. Zu kurz gedacht und nicht gegen die Ursachen sich von einem der weltweit gerichtet scheinen da die Bemühungen. Um die Flucht zu ärmsten Länder zu einem bekämpfen, nehmen die Europäer wieder Grenzkontrollen Vorbild an beeindruckendem auf, errichten Auffanglager und schließen gegen viel Geld Wirtschaftserfolg und positiAbkommen mit Diktatoren ab, damit diese fliehende Men- ver politischer Entwicklung geschen von ihrem Weg zum Mittelmeer abhalten. mausert. Um die Menschen von Flucht und Armutsmigration nach Europa abzuhalten, spielt die Zusammenarbeit mit afrikanischen Staaten eine besondere Rolle. Doch worum geht es da? Fliehende zu bekämpfen oder Fluchtursachen? Mit einem neuen Konzept der Entwicklungshilfe für Afrika? War das bisher etwa eine nachhaltige Strategie? Afrikanische Machthaber freuen sich. Doch sie selbst und ihre Regierungsführung sind oft genug Teil des Problems und nicht der Lösung: Die Gründe für Flucht aus Afrika sind ja auch autoritäre Regime, endlose Konflikte, politische Unterdrückung etc. Sind hier also mehr Entwicklungshilfe und die Bekämpfung von Schleppern der richtige Weg, um Fluchtursachen zu beseitigen?

Kenia ist ebenfalls auf dem Weg zum Wirtschaftserfolg und zu politischer Stabilisierung. Die rasant wachsende Telekommunikationsbranche vernetzt die Landbevölkerung mit den Städten. Finanztransaktionen, viele Dienste und Geschäftsideen über das mobile Internet sind der boomende Wirtschaftszweig des Landes. Dieser Aufschwung erleichtert für Millionen von Einheimischen den Alltag und gibt ihnen die Möglichkeit, voranzukommen. Afrika ist der am schnellsten wachsende Handy-Markt der Welt.

Einige Länder zeigen jedoch, dass es auch in Afrika sehr wohl anders geht: So entwickeln sich Länder wie z.B. Botswana, Ghana und Kenia rasant zu wirtschaftlicher und politischer Stabilität und Stärke. Die Regierung von Botswana investiert einen Teil der hohen Einnahmen aus dem

Addis Mulugeta

Sicherlich haben auch die aufstrebenden afrikanischen Vorzeigestaaten noch viele Probleme zu lösen; trotz ihres Wirtschaftswachstums sind auch in Ländern wie Botswana, Kenia und Ghana Armut, Herausforderungen durch In vielen afrikanischen Ländern erkennen die vielen jungen, HIV/AIDS und die Arbeitslosigkeit vor allem auf dem Land selbst die gut ausgebildeten Menschen für sich keine Pers- immer noch nicht gelöst. Dennoch geben diese Länder der pektive auf Arbeit und Aufstieg. Und ihre Zahl, so Bundes- eigenen Bevölkerung Perspektiven und Chancen, durch eientwicklungsminister Gerd Müller, ist beachtlich: "Jedes gene Anstrengung und Innovationskraft den Aufstieg zu Jahr kommen in Afrika fast 20 Millionen junge Menschen schaffen. neu auf den Arbeitsmarkt.“ ¹ Obwohl Afrika so reich in Rohstoffen ist, sind wirtschaftliche Entwicklung und politische Es wäre vielleicht ein sinnvoller Weg, eben solche Länder Fortschritte für große Teile der Bevölkerung nicht spürbar. bei ihrem eigenen Weg in die Zukunft bevorzugt zu unterDie meisten von ihnen leben auf dem Land und hängen stützen, um die Nachbarn zu ähnlichen Anstrengungen aus von der Landwirtschaft ab. Hier haben seit Jahrzehnten eigenem Antrieb zu motivieren. Als Kriterium für Koopeviele Machthaber wenig unternommen, um die Landwirt- ration wären messbare eigene Wirtschaftsbemühungen schaft zu modernisieren und effizient zu machen. Ebenso und Stabilität von Politik und Rechtsstaatlichkeit geeignet. wenig ist es ihnen gelungen, die Industrie zu entwickeln Das könnte man dann wirklich als eine nachhaltige Strateund eine Perspektive für die junge Generation zu schaffen. gie zur Bekämpfung von Fluchtursachen in Afrika sehen. Der Wandel zur Rechtsstaatlichkeit und zu einer spürba- Und es würde sich für beiden Seiten lohnen: „Jedes Land ren Wirtschaftsentwicklung wird durch endlose Konflikte, Afrikas ist jung. Diese neue Generation nutzt kreativ und hohe Korruption und politische und ethnische Spannun- entschlossen jede Chance, die sie hat und entwickelt einen gen behindert. Perspektivlosigkeit treibt dann Menschen Unternehmergeist, der manchen Unternehmer in Deutschin die Flucht.² land erblassen ließe“, so Entwicklungsminister Müller.¹

¹https://www.boersen-zeitung.de/index.php?li=1&artid=201707880 0&artsubm=ueberblick&r=Banken%20&%20Finanzen ²http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/perspektivlosigkeit-treibt-junge-afrikaner-nach-europa-14517310.html


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Das wandernde Ich

Wo ist Zuhause, wenn du überall gelebt hast, wer bist du, wenn du keinen Anker mehr hast? Perspektiven einer modernen Nomadin.

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Wer bin ich? Eine einfache Frage, auf die wir komplexe Antworten finden. Wir bringen uralte Ethnien ins Spiel; berufen uns auf Propheten, Boten, Lehrer und Heilige, Sprachen und Dialekte. Familien-, Berufsund Klassengeschichte. Bankkonten, Erzählungen, Märchen, Legenden, Klatsch und Affären, Ambitionen und Wünsche.

Aber meine Geschichte ist einfacher. Ich bin die bescheidene Summe meiner kleinen Gewohnheiten. Ich bin die langen Nächte mit meinen Freunden bei leidenschaftlichen Diskussionen über das All, das Bewusstsein, das Konzept der Nationen. Ich bin gemütliches Faulenzen am Sonntag, versunken in mein Buch, oder laut lachend über meine

Lieblingsserien. Ich bin das Tanzen zu Musik nach dem Aufwachen. Die Tasse Kaffee, die ich langsam trinke, auf einem Balkon, an einem Fenster oder irgendeiner Öffnung Richtung Himmel, wo ich glücklich die Wolken verfolge, die vor meinen Augen vorbeiziehen, ganz langsam, ohne Sorgen, ohne Ziel. Ich bin der prachtvolle Sonnenuntergang mit all


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06 / 2017 seiner Chemie und Physik, die den komplexen Gleichungen ihre fantastischen Farben verleihen. Ich bin auch die barmherzige Weisheit des Sonnenuntergangs: „Ich habe heute alles gegeben und morgen werde ich das wieder tun.“

Ich bin der Mut, neue Farben zu wählen, die zu mir passen und mit denen ich mich ausmale. Ich bin die Transparenz, ein Leben zu führen, das so aussieht wie ich, mich an diesem Ort zeigt, mich in diesem Moment zeigt.

Ich bin wilde Gefühlsschwankungen. Melancholische Wehmut gefolgt von euphorischer Freude. Die flammende Frühlingsleidenschaft, die zu sommerlicher Gelassenheit und sorglosem Warten auf eine neue Geschichte verglüht.

Ich bin die Liebe zu den unbegrenzten Möglichkeiten, was wir alles sein könnten, was uns zu dem macht, was wir sind, die Liebe zu den Milliarden Geschichten meines Volkes, die auf der Suche nach neuen Kapiteln jeden Winkel des blauen Planeten durchstreifen. Ich bin jede Menge Liebe für dieses Ich bin das Reisen mit Fahrrad, Bus, Zug oder Flugzeug. Das Leben, für diese Gelegenheit, für jede Sekunde des Lichts, Staunen mit offenem Mund vor all dem Großartigen, das des Herzschlags und der berstenden Leidenschaft, ich Menschen in so kurzer Zeit erschaffen haben, die Ehrfurcht nehme jeden Moment mit Freude entgegen und packe ihn und Demut vor dem Altar der zeitlosen Mutter Natur. sorgfältig aus, wie ein kostbares Geschenk, dessen würdig zu sein ich mir schwöre. Ich bin die Hochachtung vor unseIch bin auch all meine kleinen Besitztümer, die mit et- rer Einzigartigkeit, unseren Unterschieden, der Schönheit was Mühe in einen großen Koffer passen. Ich nehme sie all dessen, was uns zusammenbringt und was uns trennt. mit, wenn ich zu neuen Geschichten, einer neuen Heimat aufbreche. Ich bin das Paar Silberohrringe aus einem der Ich bin ein kleiner Mensch, unvollkommen von außen und traditionellen Geschäfte um die Umayyaden-Moschee in innen, und strebe nicht nach Vollkommenheit. Ich schwimDamaskus; meine Mutter hat sie mir geschenkt. Ich bin me mit den Wellen zu unbekannten Zielen. Ich durchstreife das geflochtene Armband aus weißem, rotem und gelbem Länder, und das Leben der Menschen, denen ich begegne, Garn, das ich von einem Freund habe. Es stammt aus einem streift mich. Ich nehme den Stift heraus, blättere durch uralten, friedlichen Tempel auf dem Koya Berg; die bud- die Seiten meiner Geschichte, ich schreibe, verschiebe, ich dhistischen Mönche dort haben gebetet es möge seinem zeichne und male sie aus, ich umarme sie herzlich: Das ist Besitzer Glück bringen. meine Geschichte, das bin ich, meine einzige Wahrheit, meine einzigartige Wahrheit. Ich bin meine kleinen Abenteuer. Meine Enttäuschungen, Misserfolge und Erfolge. Ich bin die Lektionen des Le- Immer, wenn ich an einem neuen Ort gestrandet bin, in bens, die teuer erkauft werden müssen. Und die, die mir einer neuen leeren Wohnung, in einer fremden Großstadt, am Kreuzweg des Verlusts die Hand halten. Und mir ins leere ich andächtig meine Taschen, breite meine wenigen Ohr flüstern: „Es ist alles gut, hier waren wir schon einmal, Besitztümer aus, gehe meinen kleinen Gewohnheiten nach, weißt du noch? Du hast gedacht, es wäre das Ende, aber lese meine Geschichte, hole einmal tief Luft, mir geht es das war es nicht. Und du wirst es auch diesmal überstehen.“ gut, ich bin zu Hause, ich bin Zuhause. Ich bin die Luft, die ich lang und tief einatme während ich zähle: eins, zwei, drei; ich bin die Luft, die ich in den Lungen halte während ich zähle: eins, zwei, drei; ich bin die Luft, die ich langsam ausatme, während ich zähle: eins, zwei, drei. Und noch einmal, und noch einmal, und noch einmal. Ich wische mir die Tränen ab, flüstere mir selbst zu: „Alles wird gut.“ Ich stehe auf. Gehe weiter.

Ich trage mein Zuhause in mir, wo immer ich hingehe, wo immer ich lande. Ich bin mein Zuhause. Lina Alhaddad

Der Artikel von Lina Alhaddad ist zuerst beim Aktionsbündnis WIR MACHEN DAS erschienen und ist dort unter dem Link http://wirmachendas.jetzt/das-wandernde-ich/ abrufbar.

Lina Alhaddad ist 29 Jahre alt. Nach dem Abschluss an der Damascus University mit einem BA in Psychologie trat sie im Frühjahr 2011 den ersten internationalen Flug ihres Lebens an und flog nach Japan, um mit einem Vollstipendium an der Kyoto University ihren Master in Medical Sciences zu machen. Trotz des Versprechens an Freunde und Familie, im Sommer desselben Jahrs zurück zu sein, sind mittlerweile sechs Jahre vergangen, ohne dass sie zu Hause war. Nach viereinhalb Jahren in Japan kam sie im Herbst 2015 nach Deutschland, um als Psychologin in Flüchtlingslagern zu arbeiten und im wachsenden Kreis der syrischen Exilanten in Berlin Spuren ihrer Heimat zu finden. Mit einem Doktorandenstipendium in Psychologie an der Freien Universität Berlin forscht sie zum Akkulturationsprozess junger geflohener Menschen in Deutschland. Mit ihrem literarischen Schreiben versucht sie, die verschiedenen Stadien des „Seins“ und „Werdens“ aus dem Blickwinkel einer modernen Nomadin zu erfassen.

Übersetzung aus dem Englischen von Sophie Zeitz Wir danken für die Abdruckerlaubnis und verweisen auf weitere interessante und lesenswerte Geschichten unter http://wirmachendas.jetzt/category/stories/


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„If you can dream it, you can do it.“

© PI Lotsen

Es war ein weiter Weg mit vielen Herausforderungen, die vergangenen zehn Jahre: Mit knapp 13 Jahren als Spätaussiedlerin aus der Ukraine nach Deutschland eingewandert, musste ich ganz von vorne beginnen. Doch ich habe es geschafft. Heute studiere ich Rechtswissenschaften an der Uni Würzburg, arbeite für den Landtagsabgeordneten Georg Rosenthal und bin Abteilungsleiterin des Tanzsportvereins Bavaria Würzburg e.V.

Der Tanzsaal ist hell beleuchtet, links am Fenster steht ein Klavier. Mein Lehrer, ein streng wirkender Mann Anfang 30, begrüßt uns zu unserer ersten Stunde im Standardtanz. Nach einem kurzen Aufwärmen lernen wir die ersten Schritte des langsamen Walzers. Danach folgt eine lange, ausgiebige Dehnungsphase. Dabei hat der Trainer keine Scheu vor schmerzverzerrten Gesichtern und Tränen: „Gewinnen werden nicht diejenigen, die am meisten Talent haben, sondern diejenigen, die niemals aufgeben und jeden Tag über sich hinauswachsen.“

Ich schaute daheim meine Sprachzertifikate vom GoetheInstitut an, in denen mir Sprachkenntnisse auf dem Niveau A2/B1 bescheinigt wurden, und mich überkam eine unglaubliche Wut. Konnte es wirklich sein, dass das alles nichts zählte? Doch das Blatt sollte sich bald wenden. Am ersten Tag in der Sprachförderklasse waren wir ungefähr 20 Kinder. Meine Lehrerin war eine nette und zuvorkommende junge Frau, die sich größte Mühe gab, uns zu verstehen und uns neben der Sprache auch die Werte der deutschen Kultur näher zu bringen. Da ich aber das Meiste davon bereits im Einzelunterricht in der Ukraine gelernt hatte, verspürte ich den Drang, möglichst schnell in eine „richtige“ Schulklasse eingeschult zu werden. Vermutlich sah man mir diesen Wunsch sehr deutlich an, denn vier Tage später durfte ich am Mathe- und Deutschunterricht in der 6. Klasse einer Hauptschule teilnehmen. Nachdem sich herausgestellt hat, dass ich diesen Stoff bereits vor mehr als einem Jahr in der Ukraine gelernt hatte, durfte ich einen Versuch in einer Realschulklasse wagen. Doch auch hier hatte ich nicht das Gefühl, dass ich besonders herausgefordert wurde. Ich fragte mich immer wieder, ob die Erzählungen meiner Deutschlehrerin aus der Ukraine, die mich intensiv auf das Leben in Deutschland vorbereiten sollte, einfach nicht stimmten, denn in den letzten zwei Jahren bekam ich ständig zu hören, dass das Schulsystem in Deutschland komplett anders und viel anspruchsvoller ist.

Als ich diesen Satz mit vier Jahren zum ersten Mal zu hören bekam, war mir klar, dass ich für meine Träume und Ziele bis zum Schluss kämpfen würde; damals für den Sieg auf Tanzturnieren, heute für meine berufliche Zukunft als hochqualifizierte Spezialistin für Rechtsfragen. Zu oft habe ich bei meiner Mutter mit ansehen müssen, dass die „kleinen Leute“ in dem komplexen Bürokratie- und Verwaltungssystem in Deutschland alleine dastehen und weder ein Ende der unzähligen Behördengänge noch eine Hilfestellung in Sicht ist. Die Formulare sind unübersichtlich, unverständlich und stellenweise über 30 Seiten lang. Selbstverständlich müssen die Behörden möglichst umfassende Informationen über die Antragsteller bekommen und sich für jegliche Situationen absichern, aber ohne Beratung und Hilfestellung sind viele Menschen damit heillos überfordert. So verbrachte ich damals mit knapp 13 Jahren meine Freizeit eher gemeinsam mit meiner Mutter mit dem Ausfüllen unzähliger Anträge mithilfe eines Deutschwörterbuches, als auf dem Spielplatz. Als ich eine Woche später wieder in die Förderklasse kam, nahm mich meine Lehrerin beiseite und fragte ohne zu zöDrei Wochen nach unserer Ankunft in Ulm im September gern, auf welche Schule ich gerne gehen würde. Innerlich 2006 stellte ich mich in Begleitung meiner Mutter und mei- schrie alles in mir „GYMNASIUM“, aber ich wusste, wie nes Onkels bei mehreren städtischen Hauptschulen vor. Die das deutsche Schulsystem aufgebaut war. Man konnte Antwort war mehr als eindeutig: Ich musste in eine Sprach- nicht von der Hauptschulförderklasse auf ein Gymnasium förderklasse für Kinder, die kein oder sehr wenig Deutsch wechseln. Also antwortete ich, dass ich wenigstens auf eine konnten. Ein komisches Gefühl, wenn man da die Sprache Realschule gehen möchte, wenn ich schon nicht aufs Gymbereits zwei Jahre lang tagein tagaus intensiv gelernt hatte. nasium darf. Sie lächelte mich an und verließ den Raum.


06 / 2017 Zwei Stunden später hatte ich einen Vorstellungstermin beim Schulleiter eines Gymnasiums. Meine Freude war unvorstellbar groß, das Gespräch lief super. Doch dann kam die Antwort, dass der Schulleiter mich sehr gerne aufgenommen hätte, es aber aus Platzgründen nicht möglich sei. Doch er vermittelte mir einen weiteren Vorstellungstermin bei einem guten Freund von ihm, dem stellvertretenden Schulleiter an einem anderen Gymnasium. Am nächsten Tag wurde ich in die 6. Klasse des Hans und Sophie SchollGymnasiums in Ulm eingeschult. Das war eine Art Probezeit für mich; sollte es nicht klappen, dürfte ich die Klasse wiederholen. Von dieser Möglichkeit habe ich jedoch nie Gebrauch machen müssen und beendete meine schulische Laufbahn mit 19 Jahren und der Allgemeinen Hochschulreife in der Tasche.

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Seine Worte haben mich tief getroffen. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte jemand mir auf den Kopf zugesagt, dass ich etwas nicht schaffen würde. Das sollte aber nicht lange so bleiben. Im September 2013 nahm die Herausforderung, Rechtswissenschaften zu studieren, fest entschlossen und mit Freude an. Im Sommer des nächsten Jahres stellte ich fest, dass mein Nebenjob als Bäckereigehilfin und Kellnerin mich zwar ernährte, aber nicht erfüllte. Im Internet las ich die Anzeige über eine Bürotätigkeit in einem Abgeordnetenbüro; mein Wunsch nach einem verantwortungsvollen, vielseitigen Nebenjob schien zum Greifen nah. Büroorganisation und Verwaltung habe ich schließlich von klein auf im Hotelbetrieb meines Onkels und meiner Tante hautnah miterlebt und hatte immer großen Spaß daran, mitzuhelfen. Nach einer kurzen Unterhaltung mit meiner jetzigen Büroleiterin und einem ausgiebigen BewerbungsBereits vor dem Abitur stand für mich fest, dass ich studie- gespräch mit Herrn Rosenthal wusste ich, dass ich diesen ren möchte. Die große Entscheidungsfrage war aber: Will Job unbedingt haben wollte. Heute, drei Jahre später, stelle ich Juristin oder Zahnärztin werden? Da ich in der Familie ich immer wieder fest, dass ich diese Entscheidung keinen zahlreiche Ärzte habe, wurde mir das Medizinstudium von einzigen Tag zu bereuen habe. Einen Vorgesetzten zu haklein auf nahe gelegt. Zwar bin ich handwerklich geschickt ben, der auch eine Art Mentor für einen ist, ist etwas Besonund durfte schon mit sieben Jahren neben meiner Mutter deres. Dass ich heute diesen Artikel über mein Leben und an einer zweiten Nähmaschine nähen, von der Arbeit eines meinen Werdegang verfasse, habe ich in erster Linie ihm Zahnarztes war ich aber nicht besonders angetan. Seit ich zu verdanken und seinem großen Respekt mir gegenüber. denken kann, habe ich mich immer am meisten über Bücher als Geschenke gefreut. In der 9. Klasse habe ein Praktikum Spätestens in zwei Jahren werde ich höchstwahrscheinzur Berufsorientierung am Landgericht in Ulm gemacht; lich nach dem Ablegen meiner ersten juristischen Prüfung danach stand für mich fest, dass ich Strafverteidigerin wer- eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einer den möchte. Eine einfache Entscheidung war es nicht gera- Münchner Kanzlei annehmen. Meine Tanzkarriere habe de für eine Perfektionistin, die an gute Noten gewöhnt war. ich zurückstellen müssen, habe aber dafür meine Liebe zur Traineraufgabe entdeckt und deshalb im Jahr 2015 kurzerMeine erste große Lektion im Jurastudium war es, eine hand die Tanzsportabteilung „TSG Bavaria Würzburg e.V.“ hohe Frustrationstoleranz zu entwickeln und auf die Kraft mitbegründet, um Kindern und Erwachsenen Tanzunterin sich zu vertrauen, nach vermeintlichen Niederlagen wie- richt zu geben. Damals mit vier Jahren waren das alles nur der aufzustehen und weiterzumachen. Am ersten Tag in Mädchenträume, heute, 19 Jahre später, bin ich eine strender Vorlesung zum Bürgerlichen Recht sagte unser Profes- ge Tanztrainerin, die aber trotzdem eine Menge Spaß mit sor, dass wir unsere Sitznachbarn höchstwahrscheinlich in ihren Schülern hat. spätestens zwei Wochen nicht wiedersehen würden. Damals waren wir noch über 900 Studenten und grinsten naiv. Ich habe gelernt, dass sich in jedem Fall der Versuch lohnt, Heute, acht Semester später, sind wir nur noch knapp 200 aus seinem Leben mehr zu machen und dazu auch seine eiStudierende in unserem Jahrgang und kämpfen gemein- gene Komfortzone zu verlassen. Man sollte sein Leben und sam gegen unseren inneren Schweinehund und für das seine Pläne nicht zu sehr von den äußeren Umständen und „Prädikat“ im Staatsexamen. Gegebenheiten beeinflussen lassen. Ich bin mit meiner alleinerziehenden Mutter in einfachen Verhältnissen aufgeEs gab viele Momente, in denen auch ich verunsichert war wachsen und wäre heute nicht da, wo ich bin, wenn ich nicht und an mir selbst und meinen Fähigkeiten zweifelte. Mei- an mich selbst geglaubt hätte. Wenn Sie von ihren Träumen ne größte Angst war es, dass ich für dieses Studium nicht und Zielen überzeugt sind und etwas im Leben gefunden geeignet bin. Denn vor einigen Jahren in der Oberstufe haben, das Sie erfüllt, dann stehen Sie auf und machen Sie konnten wir in einem Berufsinformationszentrum psycho- es - und hören nicht auf andere. Auch die wichtigsten Menlogische Tests machen, die uns bei unserer zukünftigen schen in Ihrem Leben können sich mit ihrem Rat irren. Berufswahl helfen sollten. Ich habe den Test für Rechtswissenschaften gemacht und der Psychologe, der ihn damals „If you can dream it, you can do it“, diesen Satz von Walt ausgewertet hat, sagte zu mir, dass ich dieses Studium Disney nahm ich mir zu Herzen. Er glaubte damals auch an nicht packen würde bzw. es mir sehr viel schwerer fallen seine Träume und ließ sie Wirklichkeit werden; trauen wir würde als meinen Kommilitonen. Seine Einschätzung hat es uns auch und achten wir nicht darauf, woher wir kommen sich in mein Gedächtnis buchstäblich eingebrannt: „Sehen und was andere über uns sagen. Sie es doch positiv, damit habe ich Ihnen die schwierige Entscheidung zwischen Jura und Zahnmedizin abgenomAna Bauder men. Gehen Sie nach Hause, studieren Sie Zahnmedizin und werden damit glücklich.“


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Interview

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Schule in Zeiten des Krieges

Interview mit Khaldoun Al Batal, Al Caravan

Khaldoun Al Batal ist Gründungsmitglied von Al Caravan. Er kommt aus Damaskus, lebt zur Zeit in Beirut koordiniert die Arbeit von Al Caravan. Foto: Susanne Schmelter

Wie habt ihr mit der Arbeit von Al Caravan angefangen und wie sieht sie heute aus?

In welchen Gegenden finden die Projekte statt und an wen richten sie sich?

Den ersten Versuch machten wir 2008 in der Altstadt von Damaskus. Mit einer Gruppe von Freunden haben wir mitten in der Stadt Straßentheater gemacht. Danach hatte jeder seine Arbeit und manche verreisten. 2009 machten wir ein Projekt im Süden des Libanon, aber wir hatten nicht genügend Zeit und es lief nicht so recht weiter. 2011 kam die Revolution und änderte unsere Leben. Nach zwei Jahren, Anfang 2013, taten wir, junge Männer und Frauen, uns angesichts der Situation erneut zusammen, um mit Theater und Kunstprojekten Unterricht und psychosoziale Unterstützung anzubieten. Wir begannen mit einem Team und dann bildeten wir ein zweites, ein drittes und ein viertes Team. Mittlerweile haben wir mehrere Teams in unterschiedlichen Gegenden und unterschiedlichen Städten Syriens.

Dort wo Vertriebene und Geflüchtete sind, und in Gegenden, die besonders stark vom Krieg betroffen sind. Viele mussten ihre Häuser verlassen und bewegen sich ständig, um sich vor den Kämpfen in Sicherheit zu bringen. In Syrien haben wir fünf Karawanen, die von Ort zu Ort ziehen und sechs „community centers“, feste Häuser in Aleppo, Idleb, Hama, Lattakia, Damaskus und Daraa. So haben wir ungefähr zehn Teams, und jedes Team besteht aus drei bis fünf Personen. Sie machen die Touren oder arbeiten in einem der Häuser mitten in der Stadt. Die Häuser haben einen kleinen Garten, Räume zum Spielen und Unterrichten und Schutzräume, die vor Einschlägen schützen. Von Computern, Videoprojektor, einer Musikanlage, Flipcharts, bis hin zu Stühlen ist alles da, was wir für den Unterricht brauchen. In der Türkei haben wir nur eine Karawane und mehrere Zentren und im Libanon haben wir Zentren in der Bekaa-


06 / 2017 Ebene. Dort errichteten wir mit den Leuten aus einem Camp eine Schule und vor ungefähr einer Woche kam eine brasilianische Gruppe, mit der zusammen wir dort ein Graffiti gemacht haben, das jetzt fast fertig ist. So ungefähr, auf diese Art und Weise, arbeiten wir. Insgesamt haben wir zur Zeit ungefähr 100 Freiwillige, die an unterschiedlichen Orten mit uns arbeiten.

9 schrieben werden, solche Sachen. Und ich schicke ihnen ein Programm, das wir dann zusammen bearbeiten und für den Unterricht verwenden. Sie leben in der gleichen Gegend, sie wissen, was um sie herum passiert und können das Programm passend ausrichten. Als ich bei ihnen war, bin ich mit ihnen von Ort zu Ort gezogen und habe beim Unterricht mitgearbeitet. Da ich dann das Land verließ, arbeite ich nun mit ihnen von außerhalb. Ich schreibe zum Beispiel die Projektanträge und kümmere mich, dass wir Geld zur Verfügung haben. Wie finanziert ihr Al Caravan?

Zuerst finanzierten wir die Arbeit von Al Caravan durch Spenden von Freunden und Leuten, die uns unterstützen wollen. Dann habe ich auch fünf Förderungen eingeworben. Darunter auch eine von der Gesellschaft für Internationale ZusamEure Projekte richten sich dabei besonders an Kinder, menarbeit, dem Danish Refugee Council, War Child Holdie nicht wie zuvor zur Schule gehen können... Wie viele land und Search for Common Ground. Kinder kommen zu den Karawanen und Häusern? ... und für diese Geberorganisationen musst du dann wieViele der Kinder verlassen mit ihren Eltern ihre Häuser und der Projektberichte schreiben.. Wohnungen, weil sie sich vor Einschlägen fürchten, sie gehen in ländliche Gegenden. So haben wir die Karawanen ...sicher, das muss dann alles von A bis Z gemacht werden, genommen und sind zu ihnen gefahren, um mit ihnen zu damit das Projekt richtig läuft. Wir haben auch zwei Leute, arbeiten. Wir machen mit ihnen Gedankenspiele, bildende die die Verwaltungsaufgaben übernehmen. Wir arbeiten Künste, Filmvorführungen und anderes. Jede Karawane und kommunizieren dann über das Internet. Wenn eine stellt Angebote für etwa 100 Kinder im Monat bereit, und Gegend in der wir arbeiten belagert ist, verwenden wir das, jedes der Häuser für etwa 300 Kinder. was vorhanden ist. Wir machen nun schon fast fünf Jahre das Al Caravan Projekt. Wir überlegen uns ein Programm, suchen Kinder aus, etwa eine bestimmte Altersgruppe, arbeiten mit ihnen und nach drei Monaten ziehen wir weiter zu einem neuen Ort. Jetzt haben wir fünf Karawanen in Syrien, jeweils in weit auseinander liegenden Gegenden. Manche sind in den Grenzregionen und manche im Landesinneren.

Haben diejenigen, die vor Ort arbeiten, keine Probleme mit dem Regime oder mit Extremisten? Manchmal sind ja die Gemäßigten besonders gefährdet...

Das ist ein wichtiger Punkt, aber wir positionieren uns nicht politisch und haben daher mit keiner der Seiten unmittelbar Probleme. Aber es gibt immer die Gefahr von Bombardierungen. Jemand aus unserem Team starb 2013 unter Wie kann ich mir eure Projekte näher vorstellen, viele Bombenexplosionen. Seitdem ist niemand weiteres von internationale Organisationen arbeiten aus Sicherheits- uns ums Leben gekommen. Es gibt Drohungen, die dann gründen gar nicht in Syrien. Dass ihr mit den Leuten vor meistens mit der Zeit nachlassen. Es sind auch Leute ausOrt arbeitet, ist sicherlich ein Vorteil, aber wie kommu- gereist, weil sie nicht im Land bleiben konnten. Ungefähr niziert ihr zum Beispiel? zehn Leute aus unserer Gruppe arbeiten nun in Deutschland. Es gibt auch immer neue Leute, die mitarbeiten und Die Leute, die zusammen arbeiten, kommen alle aus der viele sind schon lange dabei. gleichen Ortschaft. Sie sind oft verwandt oder befreundet. Ich arbeite mit ihnen wie mit kleinen, lokalen Organisati- Ihr habt auch Projekte in Deutschland? onen zusammen: dabei geht es darum, wie Assessments durchgeführt werden, wie mit Rechnungen umgegangen Ja, letztes Jahr haben wir zwei Monate lang in Zusammenarwird, wie Abrechnungen gemacht und wie Anträge ge- beit mit einem Verein in Freiburg Aktivitäten durchgeführt.


10 Wir haben mit Kindern aller Nationalitäten gearbeitet, mit Deutschen und Migranten, etwa aus Arabischen Ländern, aus dem Iran und aus Afrika. Es waren viele unterschiedliche Leute. Wir haben Aktivitäten zwischen Kindern im Camp (Sammelunterkünften) und den Kindern in den Städten gemacht. Das war sehr schön, die Kinder haben auch eine Ausstellung gezeigt und den Leuten hat es Spaß gemacht.

Aber ihr habt das Projekt nicht weiter gemacht? Das war im Sommer. In Deutschland gehen die Kinder das Jahr über normalerweise in die Schule und den Kindergarten. Wir bereiten etwas für den nächsten Sommer vor, wir können zusätzliche Integrations- und Austauschprojekte anbieten. Dabei verwenden wir die deutsche Sprache, wir bringen sie den Kindern bei, damit sie miteinander reden können. Da sie alle unterschiedliche Nationalitäten haben, haben sie auch ihre eigenen Sprachen. Also ist es am besten, wenn sie schnell die deutsche Sprache lernen, damit sie miteinander reden und mit den Deutschen kommunizieren können.

contact@heimfocus.net Die Geschichten in dem Buch „The Eye Won't Resist The Awl“ fand ich sehr ausdruckstark - wie sehen eure Programme aus, dass die Kinder solche Geschichten schreiben? 2014 machten wir die Kampagne „Hand in Hand“. Diese Kampagne ist spezialisiert auf Peacebuilding, darauf, Frieden zu bilden unter den syrischen Kindern, die aus unterschiedlichen Gegenden und Städten kommen und nun im Camp zusammenleben. Es geht dabei darum, wie sie miteinander reden und miteinander leben. So haben wir ein Festival gemacht mit Karneval, Musik und Theater. 2015 haben wir uns entschieden, mit den Kindern aus Syrien einen Schreibworkshop für Kurzgeschichten zu machen. So entstanden zwei Bücher, in denen sie ihre Geschichten aus Syrien nach draußen an die Welt erzählen. Mittels ihrer eigenen Geschichten erzählen sie über Friedensbildung und Versuche den Krieg zu stoppen. Den ersten dieser Workshops machten wir 2015 und den zweiten 2016. Daraus entstanden zwei Bücher. Das erste Buch war mit ganz kleinen Kindern, das zweite mit größeren Kindern, ungefähr 13, 14, 15 Jahre alt.

Die Geschichten sind in vier thematische Teile unterteilt: Der erste Teil erzählt ihre Lebensgeschichten vor 2011. Der zweite Teil geht speziell auf das Thema des Workshops ein. Beim ersten war das der Übergang vom Krieg zum Frieden. Beim zweiten waren Rechte das zentrale Thema; was Rechte sind, warum wir Rechte brauchen und sie grundlegend im Leben sind. Wir brachten ihnen bei, dass, wenn alle Menschen gegenseitig ihr Rechte achten, es dann keine Notwendigkeit gibt Krieg zu führen, dass es dann Frieden gibt und wir uns gegenseitig verstehen und verständigen Sind die Projekte, die ihr macht, in den unterschiedli- können. Jenseits der Verfassung und den Rechten eines jechen Ländern, im Libanon, der Türkei, Syrien, Deutsch- weiligen Staates gibt es universelle Rechte und wenn alle land ähnlich oder inwiefern unterscheiden sie sich von Menschen ihre Rechte gegenseitig respektieren, dann gibt Land zu Land? es keinen Krieg.

Es gibt gemeinsame Grundlagen, aber dann natürlich auch einige Unterschiede. In der Türkei ist zum Beispiel die türkische Sprache wichtig. Manche der Aktivitäten können wir dort auch auf Arabisch machen, aber für den Unterricht ist das Türkischlernen wichtig, weil es dort keine arabischsprachigen Schulen gibt. Im Libanon kann man auf arabisch unterrichten, aber Englisch lernen ist wichtig, weil das dort dennoch grundlegend ist in der Schule. In Deutschland, mit Leuten von ganz unterschiedlichen Ländern, ist es wiederum anders. So unterscheiden sich unsere Programme von Gegend zu Gegend, sogar in Syrien. In Syrien zum Beispiel wird an manchen Orten Unterricht gebraucht und an anderen psychologische Unterstützung und kein Unterricht. Es hängt also von der Gegend ab, was es dort gibt, was gebraucht wird und wie die Teams arbeiten.

Die Kinder schrieben dann, wie sie die Rechte verstehen und welche Rechte sie wollen. Manche Kinder wollen das Recht auf Lernen, manche das Recht auf Sicherheit, das Recht nicht geschlagen zu werden, mache das Recht auf Rückkehr, manche das Recht auf Familienzusammenführung und Asyl. In dem Sinne, dass sie das Recht auf Asyl wollen - aber auch das Recht auf Rückkehr in ihre Häuser und ihr Land, ohne Krieg. Jedes Buch hat also vier Teile, die sich über den Verlauf der Zeit erstrecken: Von vor 2011 bis 2016 - was sie während dieser Jahre durchleben. Die Bücher bilden dann außerdem eine Brücke zwischen den syrischen Kindern und Jugendlichen und ihren Altersgenossen z.B. in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Amerika und Kanada.


06 / 2017 Wie wird diese Brücke gebildet? Erzählen sich die Kinder gegenseitig die Geschichten? Jedes Buch hat ungefähr 30 Geschichten und auch Zeichnungen. Andere Kinder malen die dann aus und lesen die Geschichten. Die Kinder in Syrien haben es wegen des Krieges sehr schwer, Kinder aus anderen Ländern zu treffen. Mit dem Buch erzählen wir ihre Geschichten von Kind zu Kind. Die Bücher drucken und verbreiten wir in insgesamt vier Sprachen in unterschiedlichen Ländern; in Deutschland, der Türkei, arabischen Ländern.

11 die Leute so arm, dass sie ihre Kinder nicht in die Schule schicken können. Wenn alle Leute genügend Geld hätten oder der Staat die Schulkosten übernehmen würde, würden alle Familien ihre Kinder in die Schule schicken. Zumindest bis sie 15 Jahre alt sind; mit über 15 Jahren gehen manche von der Schule ab, um Handwerksberufe zu erlernen, aber die meisten gehen weiter auf die Schule.

...und das läuft dann nicht als reguläres Schulprogramm? Nein, solche Zeichen- und Malworkshops bieten vielmehr psychologische Unterstützung und Lebenskunde. Sie öffnen auch die Phantasie der Kinder. Doch zur gleichen Zeit, um überhaupt einen Schreib- oder Malworkshop zu machen, geben wir ihnen Unterricht in Arabisch oder einer anderen Sprache, damit sie richtig schreiben können. So unterrichten Müssen manche der Kinder, die von den Angeboten von wir die Kinder auch, aber wir sind dabei eben keine regulä- Al Caravan profitieren, auch arbeiten gehen, weil sie ihre re Schule sondern eine informelle. Wir machen Unterricht, Familien unterstützen müssen? Auch hier in Beirut sieht z.B. für drei oder sechs Monate, da die Kinder, die für eine man in Geschäften und auf der Straße syrische Kinder, lange Zeit nicht zur Schule gingen, informelle Lernunter- die arbeiten. Da frage ich mich oft, was getan werden stützung brauchen. Wir bereiten sie vor, damit sie ein gutes kann, damit sie die Chance haben, zumindest ein bissNiveau haben, um erneut in die Schule zu gehen. chen Unterricht zu bekommen. Unglücklicherweise hat die Hälfte der syrischen Kinder den Wir sind eins von sehr vielen Projekten, die es in Syrien gibt. Zugang zu Schulen verloren. Damit sie nicht ohne Unter- Es ist schwierig, die Kinder, die arbeiten, in die Schulen zu richt aufwachsen, machen unsere Lehrer in den Häusern bringen. Dies ist vor allem aus zwei Gründen schwierig: Unterricht. Wir verwenden die gleichen Unterrichtsmateri- Manche Familien schicken die Kinder zur Arbeit, damit alien wie in der Schule, aber es ist eben kein staatlicher Un- sie Geld heimbringen, das den Familien sonst fehlt oder terricht mehr, weil der Staat nichts mehr macht; er hat die manchmal ist auch ihr Vater gestorben und dann arbeiten Schulen aufgegeben bzw. sie wurden zerstört. 40 Prozent die Kinder und die Mutter, damit sie leben können. Sie brauder Schulen in Syrien sind zerstört. In Syrien gibt es eine chen eine Wohnung, Gesundheitsversorgung, Essen und sehr große Anzahl Kinder, ungefähr acht Millionen unter 18 Trinken. Eine sehr große Anzahl an Zivilisten ist betroffen Jahren von ungefähr 20 Million Menschen. Da braucht man und vor diesem Hintergrund ist es schwierig, allen zu helfen, sehr viele Schulen und sehr viel Unterricht. Wir versuchen, besonders eben, wenn Krieg herrscht. Daher ist die einzige die 15 und 16-jährigen Kinder so vorzubereiten, dass sie die wirkliche Lösung, dass der Krieg aufhört. So kann für die reguläre Reifeprüfung machen können und auf diese Weise Leute wieder Stabilität hergestellt werden, und dann kann ein Zertifikat erhalten. geschaut werden, was ihre Probleme sind und wie Lösungen dafür gefunden werden. Solange der Krieg herrscht, Bei diesem großen Bedarf nach Bildungsangeboten und können wir einer bestimmten Anzahl an Kindern helfen, Schulunterricht kann ich mir vorstellen, dass dies für die aber eigentlich sind viel mehr Kinder da, die Unterstützung Erwachsenen ein sehr großes Anliegen ist und sie gerne brauchen und durch den Krieg werden täglich noch mehr. bereit sind, auf Freiwilligenbasis mit euch zusammenzu- Wenn der Krieg aufhört, kehren die meisten Leute in ihre arbeiten. Häuser und Länder zurück, dann gibt es wieder Ordnung und sie können in die Schulen zurückkehren. Das stimmt, und unsere Arbeit wird ja auch von Freiwilligen getragen. In Syrien wissen alle Leute, dass sie ihre Kinder Ist es auch ein Problem, dass Kinder im Krieg kämpfen ausbilden und erziehen müssen. Sie wollen nicht, dass ihre müssen? Kinder nicht lernen. Aber nicht alle Leute können ihre Kinder unterrichten, weil das Geld kostet, und manchmal sind Unter den 16- bis 18jährigen gibt es Kinder, die im Krieg


12 kämpfen. Sie machen das teilweise, um ihre Familien zu unterstützen, aber auch, weil manche von ihnen glauben, dass sie auf diese Weise ihre Rechte verteidigen können. Es ist ein Teil unserer Arbeit, den Kindern beizubringen, dass Gewalt keine Lösung ist und kein geeigneter Weg, um sich seine Rechte zu nehmen. Gleichzeitig kämpfen sie aber auch, weil es dafür eine Bezahlung gibt und sie damit auch zum Lebensunterhalt für sich und ihre Familien beitragen können. So läuft das alles wieder darauf zurück, dass es Krieg gibt, dass es Staaten und Personen gibt, die diese Menschen als Kämpfer gebrauchen.

contact@heimfocus.net Sicher, schließlich gehören diese Zentren und Karawanen uns und wir müssen keine Miete zahlen. Wir haben sie hergerichtet und dort können wir auf unsere Art und Weise und in unserem Tempo arbeiten. Dann spielt es auch nicht so eine starke Rolle, wie stark die Nachfrage ist und wie viele Kinder pro Monat kommen können. Manchmal stoppen wir die Arbeit auch für einen Monat oder ein, zwei Wochen, wenn zum Beispiel sehr viele Kämpfe in der Gegend sind. Wir wollen das Risiko nicht eingehen, dass den Kindern in einem unserer Zentren etwas passieren könnte. Wir arbeiten dann, wenn es auch Sicherheit gibt.

Als ihr mit Al Caravan angefangen habt, konntet ihr mit Ihr braucht also nur ein relativ geringes Budget um das der Kulturarbeit etwas Zusätzliches anbieten, aber jetzt Projekt Al Caravan aufrechtzuerhalten? arbeitet ihr zu sehr grundlegenden, humanitären Themen? Auch wir brauchen für jedes Programm immer Geld. Wir kaufen Ausstattung und Materialien, so dass die Kinder Ja, wir haben mit Kulturprojekten begonnen, auf friedlichen zum Beispiel für drei Monate am Stück kommen können, Wegen und mit Kunst auch Kritik geübt. Wir machten keine ohne dass Probleme auftreten. Projekte wie etwa psychologische Unterstützung, da es ja keinen Krieg gab. Aber jetzt ist die Situation ganz anders, Möchtest du noch was ergänzen? wir können nicht wie vorher Kulturprojekte machen, jetzt brauchen wir vor allem Unterrichtsmaterialien. Wir heißen gerne neue Leute willkommen, die sich bei uns als Freiwillige einbringen wollen, auch in Europa. Sie könGleichzeitig habe ich diese Geschichten auch als Zeug- nen sich mit den syrischen Freiwilligen austauschen und nisse von Kultur gelesen, in dem Sinne, dass sie davon Sachen zusammen machen. Zum Beispiel in Deutschland erzählen, was ein normales Leben für die Kinder war, in den Camps, in Frankreich oder in Griechenland. In Griewie sie arbeiteten und lebten. chenland gibt es viele Camps und viele Leute. Dort haben wir mit einer befreundeten Organisation vereinbart, ProJa, sie erzählen, wie Leute in die Schule gehen und wie sie jekte zusammen zu machen und auch dort können gut ausin der Landwirtschaft arbeiten, wie sie essen, wie schön ländische Leute dazu kommen, mitarbeiten und helfen. das Leben in der Natur ist, wie sie in andere Städte gehen, wo es andere Konfessionen und Religionen gibt und wie sie ...und für den Sommer plant ihr ja auch wieder ein Promit ihnen reden – und wie das jetzt nicht mehr möglich ist jekt in Freiburg, oder? aufgrund des Krieges. Das waren schöne Geschichten, die sie über ihre Leben geschrieben haben. So sind diese Ge- Ja, wir bereiten für Freiburg ein dreimonatiges Programm schichten auch eine Dokumentation vom Leben der Leute vor. Wenn es zum Beispiel Freiwillige aus deiner Stadt gibt, unter 18 Jahren. Dieses Projekt ermöglicht den Kindern können sie kommen und für ein oder zwei Wochen mitardieses Alters, Geschichten in einem Buch zu schreiben, das beiten. Das ist ja an sich sehr nah und sie können unsere dann auch gedruckt und verbreitet wird. Arbeit besser kennenlernen. Letztes Jahr in Freiburg gab es nicht viel Geld, aber die Leute brachten uns Essen, Obst Du meintest, dass ihr Geld von Organisationen erhaltet und Spiele. Auf diese Weise machten wir die Projekte ohne aber auch Spenden von Privatpersonen... externe Finanzierung. Dieses Jahr versuchen wir wieder eine Finanzierung zu erhalten um dann Aktivitäten mit den Ja, aber jetzt gibt es nicht mehr so viele private Geldgeber, Kindern machen. da die Leute nach fünf Jahren viel gezahlt haben und nicht mehr soviel bleibt. Auch die Förderungen durch Organi- Interview geführt und übersetzt von Susanne Schmelter sationen sind stark zurückgegangen. Zur Zeit arbeiten wir ohne Finanzierung, dieses Jahr haben wir nichts erhalten. Mehr Informationen zu Al Caravan und zu SpendenWas heißt, ihr arbeitet ohne Finanzierung? Aber der möglichkeiten unter Unterhalt von den Karawanen und Zentren kostet doch http://www.alcaravan.org/ Geld. oder Mail an info@alcaravan.org Richtig, aber wenn wir die Räumlichkeiten und Materialien haben, dann arbeiten wir mit den Freiwilligen. Sie bringen Für den Vertrieb der Bücher in Deutsch soll in Kürze ihre freie Zeit ein, auch wenn es keine Finanzierung gibt. ein online-shop eingerichtet werden. Das heißt, ihr könnt die Häuser und Karawanen nutzen, auch wenn ihr eine Finanzierungsflaute habt?


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Hört uns zu!

Kinder in Syrien teilen ihre Lebensgeschichten, Träume und Gedanken über ihre Rechte mit uns Homs – Talbisa – Inas Abdul Latif Qua- Ich arbeitete mit meinen Vater auf einem kleinen Traktor und wir bestellten die Felder und die Erde, denn das war die soon – 14 Jahre Quelle unseres Lebensunterhalts. Meine Mutter bereitete Es ist mein Recht, in Sicherheit zu spielen. uns Essen zu und brachte es aufs Feld. Es gab keine schöneMir wurde das Haus geraubt, in dem wir aufgewachsen sind, ren als diese Tage. und wir wurden der Sicherheit und der Zärtlichkeit beraubt. Ist es nicht mein Recht, zu spielen? Ist es nicht mein Recht, Ich vergesse nicht diesen Tag, an dem mein Vater in Eile heimkam und sagte: Wir müssen fort von hier! Warum denn zu lernen? Papa? Was ist mit der Ernte und unserem kleinen Feld? Mein Vater antwortete nicht. Wir verließen das Dorf unter Idlib – Hayish – Batool Salloum – 13 Jahre heftigem Beschuss und dem Lärm von Bombardierungen und Panzern, und über uns Flugzeuge. Aber wir brachen auf zum Nachbardorf. Ich blieb immer wieder stehen und Es ist mein Recht, in der Schule Lesen, schaute auf das Getreide, das sich in rot verfärbt hatte und Schreiben, Mathematik, Wissenschaft und nicht gelb. Ja, die Ernte auf die wir unsere Hoffnungen gealle anderen Fächer zu lernen, damit ich nicht unwissend setzt hatten, war verbrannt, mein kleiner Traktor war auch bleibe, was die Belange meines Lebens angeht. Später verbrannt und meine Schafe waren gestorben. Ich blieb möchte ich angestellt sein, damit ich meinen Kindern eine stehen und schrie alleine, in der Hoffnung, dass jemand Zukunft gewährleisten kann. Aber leider bombardierten meine Stimme hört. Rettet uns... uns die Flugzeuge und zerstörten unsere Schulen, sodass sich nun Ignoranz und Dunkelheit ausbreiten. Hama - Halfaya - Omar Mohammed Moosa - 16 Jahre

Damaskus - Zahraa Mustafa Haj Salman – 11 Jahre

Mein Name ist Zahraa und ich lebte in einer glücklichen Familie. Wir wohnten in Damaskus. Eines Tages Das Recht auf Freiheit jedoch ist uns etwas trauriges widerfahren, mein Vater und Es war einmal vor langer Zeit, da lebten wir als eine Familie viele meiner Verwandten verschwanden. Jetzt lebe ich mit in einem geeinten Land. Aber unsere Umstände verschlechmeiner Mutter und meinen älteren Brüdern und ich zähle terten sich und es kam der Krieg. Wir begannen zwischen die Tage, Tag für Tag. Wird mein Vater vermisst bleiben? einem Radikalen, einem Extremisten, einem Gemäßigten, einem Muslim und einem Christen zu unterscheiden. Ich bin aus der Stadt Halfaya, in der ich zur Schule ging und Mein Vater ist nun schon seit drei Jahren und neun Monaaufwuchs. Neben ihr liegt die von Christen bewohnte Stadt ten vermisst. Was ist mein Schuld? Was ist die Sünde all der Maharda. Ich ging öfters mit meinem Vater nach Maharda Kinder, deren Eltern verschwunden sind? Ist es nicht genug und sah die Kirche, das war eine ganz normale Angelegen- mit all den Bombardierungen? heit für mich. Die Bewohner waren wie eine Familie für uns, wir kooperierten mir ihnen in allen Bereichen. Bis der Krieg Hama – Sahl Al Ghab – Magda Abbas Hakam und wir begannen sie zu verdächtigen unsere Feinde labi – 18 Jahre zu sein, und sie verdächtigten uns. Wir hoffen, dass der Krieg aufhört und dass wir wieder werden wie wir waren Das Recht auf medizinische Versorgung und uns gegenseitig lieben. Es ist mein Recht, mich um meine Gesundheit und die Gesundheit meiner Familienmitglieder und der Mitglieder der Gemeinschaft um mich herum zu sorgen. Daher errichtete Idlib – At Tahh – Maryam Ziad ‘Arnoos der Staat Krankenhäuser und Gesundheitszentren, aber als 15 Jahre der Krieg ausbrach, verkamen sie alle. Wir waren gewohnt, Wir warteten auf die Erntezeit, die Ähren mit dem Telefon einen Krankenwagen rufen zu können, von Weizen und Geste erfüllten das Dorf. Ich hütete mei- der uns schnell zu einem kostenfreien Krankenhaus bringt. ne Schafe und führte sie auf die Weiden hinaus. Am Abend Jetzt müssen wir ein Auto zur türkischen Grenze mieten. jeden Tages brachte ich sie zurück. Ich blieb immer stehen Wir hoffen, dass wir Zivilisten von diesem fortwährenden und prüfte wann sich die Farbe des Getreides wohl in gelb Krieg verschont werden und dass die Versorgungsdienste verwandeln würde. Damit wir es ernten können, denn wir in unser Land zurückkehren. waren in Geldnot; das ganze Dorf war in dieser Situation.


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14 Idlib – Haysh – Amal Al Khatib – 15 Jahre

mich herum. Ich habe Spaß und verbringe gute Zeiten mit meinen Freunden. Das Spielen mit Wippen, Schaukeln oder jegliches andere Spiel lässt mich Freude und Glück spüren. Ich lerne auch, Kindheit ist dazu da, um zu spielen und Spaß zu haben, nicht für Bomben und Horror.

Das Recht auf Fürsorge Vor ein paar Jahren lebten wir in einer sicheren Atmosphäre und wir genossen medizinische, soziale und familiäre Fürsorge in unserem Land, in Syrien. Bis die Machthaber kamen und alle möglichen Formen von Gewalt gegen unschuldige Zivilisten verübten. Idlib – At Tahh - Raghad Baraa al-Abed Nachdem unsere kleine Stadt bombardiert worden war, 13 Jahre flohen die Bewohner. Sie wurden obdachlos und sogar einfachster Lebensbedürfnisse beraubt. Das kleine Kind verlor Die Morgendämmerung der Freiheit die Gesundheitsversorgung, die jungen Männer griffen zu Wir wachten jeden morgen frohgemut auf und meine Mutden Waffen oder starben. Unsere Familie wurde völlig zer- ter bereitete uns Frühstück zu, bevor es los ging zur Schule. stört und Kinder, nicht älter als zehn Jahre, begannen den In der Schule traf ich meine Mitschüler und spielte mit ihganzen Tag über zu arbeiten, um für die Bedürfnisse der Fa- nen, wir spielten und lernten in der Schule. Dann kehrten milie aufzukommen. wir in unsere Häuser zurück und am Abend trafen sich die Verwandten. In den Ferien besuchten wir meinen Großvater und meine Großmutter, sie bereiteten für uns alle SpeiIdlib - Haysh - Omar Ali - 15 Jahre sen und Süßigkeiten zu, die wir lieben. In unserem schönen Viertel besuchten wir unsere Nachbarn und sie besuchten Das Recht auf Gesundheit uns, wir liebten sie und sie liebten uns. Es ist eines unserer Lebensrechte, sauberes Wasser zu trinken. Nachdem in unserer Ortschaft der Trink- Plötzlich änderte sich alles. Unser Vater teilte uns mit, dass wassertank bombardiert und die Wasserleitungen zerstört wir an einen anderen Ort ziehen müssen, um dort zu leben. worden waren, wurde das Wasser in unserem Ort knapper. Dies war, nachdem die Stimmen, die nach Freiheit riefen, So begannen wir, das Wasser für den täglichen Bedarf zu lauter geworden waren und viele Razzien und Verhaftuntransportieren, wir zogen es aus Brunnen und trugen es mit gen stattfanden. Nach unserer Reise an einen neuen Ort, Eimern. Ich hoffe, dass ich wieder sauberes Wasser trinken wo wir leben sollten, konnten wir den Rest unserer Famikann und dass es wieder aus dem Wasserhahn kommt. lienmitglieder nicht mehr sehen. Wir konnten uns an den Wochenenden nicht mehr treffen, wir konnten nicht mehr dieses schöne Viertel sehen und nicht mehr dieses Lächeln. Idlib – At Tahh – Rama Muhammad Khalil Diejenigen, die wir nun sahen, kannten wir nicht. Wir hör- 13 Jahre ten nichts mehr außer dem Lärm von Geschossen und Explosionen. Eine obdachlose Familie hier und ein krankes Wir lebten ein sehr schönes Leben bevor Kind dort und niemand, der es behandeln konnte. diese fürchterlichen Ereignisse einsetzten. Unser Leben war wunderbar, wir hatten viel Vergnügen in der Schu- Von nun an sahen wir Leute, die unter Bäumen leben und le und im Garten. Wir spielten, wenn wir Ausfüge mit der in Camps, die sie weder vor der Hitze des Sommers noch Schule machten, und wir genossen die bezaubernden Aus- vor der Kälte des Winters schützen. Und es gab dort keinen blicke auf die von Schönheit und Hoffnung erfüllten Bäume Platz mehr für das Lächeln auf ihren Gesichtern. Blässe und und Wälder. Dann gingen wir auseinander nachdem dieser Dunkelheit umgaben alles. Die Menschen in Syrien waren fürchterliche und tödliche Krieg ausgebrochen war. in eine Situation gekommen, in der ihnen niemand mehr Der Park, in dem wir gespielt hatten, war zerstört, die Vö- half außer Gott. gel starben, die Bäume wurden gefällt. Meine Freunde und ich, wir trauerten sehr um den Garten und seine wunder- Aber trotz dieser Dunkelheit und Finsternis sahen wir eine vollen Bäume. Ich hoffe, dass wir all diese Jahre, die wir neue Morgendämmerung, gefüllt von Freiheit, Glück und durchlebt haben und die schrecklichen, dunklen Ereignisse Freude, ohne Ungerechtigkeit und Tyrannei, sondern mit vergessen können. Glaube, Freiheit und Gerechtigkeit für alle. Hama – Al Lataminah – Hana Hassan 14 Jahre

Aleppo – Bayan Sattam Al-Kurdi- 14 Jahre

Geschichte über die Zeit Das Recht, zu spielen In einem jener kleinen Dörfer im Umland von Aleppo lebEs ist mein Recht, im Vergnügungspark zu spielen. Nie- te in einem kleinen bescheidenen Haus eine liebende und mand sollte mich hindern oder mich im Haus einsperren, verständige Familie, die Gott Tag und Nacht dankte und denn ich habe soviel überschüssige Energie in meinem Kör- niemanden seines Lebens neidete. In dieser Familie lebte per, dass ich sie beim Spielen rauslassen muss. Das Spielen ein kleines Mädchen mit dem Namen Haneen, sie war fünf steigert mein Vertrauen in mich selbst und in die Leute um Jahre alt. Haneen liebte ihre Familie sehr.


06 / 2017 Am frühen Morgen wachte die Familie auf, damit der Vater zur Arbeit und die Kinder in die Schulen gingen. Die Mutter bereitete das Essen zu und alle halfen ihr dabei.

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Energie auf fundierte Ausbildung und gute Werte, so dass sie sogar zum Vorbild für kommende Generationen würden. So mühte sie sich, um die Früchte ihrer Anstrengungen zu ernten. Ihr Gesicht strahlte wie der Morgen und das Lachen Aber die Familie wusste nicht, was in den nächsten Tagen wich nicht aus ihrem Gesicht. Der Vater war Arzt, ein nobler auf sie zukommen würde. Am 15. März 2011 schliefen die Beruf, er behandelte Verwundete und Kranke. Seine Arbeit Menschen Syriens in Trägheit und Ruhe, und wachten zu war human und ein wichtiger Einsatz in diesem Land. Seine etwas Anderem auf. Dies war der Beginn der Revolution. Söhne gingen zur Schule und zur Universität und jeder von Am Anfang war sie weit weg von Haneen und ihrer Fami- ihnen hatte einen Traum, den er versuchte zu erreichen. So lie. Nach einer Weile begannen sich die Umstände zu et- war auch das Leben der Mädchen schön. was Schlechterem zu entwickeln. Der Krieg breitete sich zu jenen Dörfern aus, der Horror begann in den Herzen der Dann kam der Krieg, er ließ die Herzen erschaudern und Menschen zu wohnen und der Beschuss ging immer weiter. hüllte die Natur in ein schwarzes Gewand. Kümmernis In jeder Stunde und Minute, und an einem Tag unter den brach über die Familie herein, wie Erdbeben und Vulkane Tagen kam die MIG und pfiff dieses Pfeifen über Haneens und die Eule krächzte ihnen zu. [Eulen gelten in arabischer Haus. Haneen fürchtete sich und schloss ihre Augen. In ih- Kultur als Unheil verkündend.] Ihre Geschichte ähnelt einer rem Inneren sagte sie sich, dass sie sterben würde. Fiktion und kommt keinem Menschen in den Sinn. Der Vater, der das Schiff der großherzigen Familie lenkte, wurde, Eine Weile, nachdem der Lärm aufgehört hatte, öffnete als er von seiner Praxis zurückkehrte, auf dem Weg gekidHaneen ihre Augen. Alles war voller Staub, das Haus war nappt, es blieb keine Spur von ihm. Nun war die Familie zertrümmert. Haneen schaute auf sich selbst und war über- ohne Hirten. Die Sicherheit ging verloren und war nicht rascht, dass einige Steine der Decke auf ihre Füße gefallen mehr zu finden. Die Mutter lebte in Verzweiflung und das waren. Sie hörte ein Auto der Zivilverteidigung kommen. Weinen wich nicht mehr von ihren Wangen. Sie ertrug den Die Männer begannen die Trümmer über Haneens Füßen Verlust ihres Mannes nicht und erlitt einen Schlaganfall von beiseite zu räumen. Haneen konnte nicht laufen und war der Traurigkeit und den Schmerzen. Der Arzt entschied, sehr traurig. Aber währenddessen setzten die Männer ihre eine Operation durchzuführen, doch ihr Leben schied unter Arbeit fort und sie bargen ihre Mutter tot. Da vergaß Ha- der Operation dahin. Die Familie war nun ohne Vater und neen all ihre Schmerzen und begann um ihre Mutter zu ohne Mutter, ein Schiff ohne Kapitän. Nach einer Weile weinen. Es kamen der Vater und der Rest der Familie, um opferte der älteste Sohn seine Zukunft und gab sein Stuzu sehen, was geschehen war. Der Vater umarmte seine dium auf. Er beschloss zu arbeiten, um den LebensunterKinder und sie weinten viel. Haneen zog weg, um in einem halt seiner Geschwister sicherzustellen und um den Traum Camp zu leben, nachdem sie ihr Haus und ihre Mutter ver- seiner Eltern zu verwirklichen. Eines Tages wurde eines loren hatte. der Mädchen als es von der Schule kam, von einer Bande Organhändler aufgegriffen und in Teile geschnitten. Was war die Schuld dieses Mädchens in dem Krieg? Wegen dieHoms - Raghd Tariq Al-Badawi - 17 Jahre ses Unglücks gaben ihre Geschwister ihre Ausbildung auf. Nun blieb kein Ziel und kein Ehrgeiz mehr. Traurigkeit und Vor dem Krieg war das Leben ein Schiff. Sei- Kummer umfassten dieses Haus. Die übrigen jungen Männe Segel waren die Hoffnung, sein Kurs war Frieden, sein ner entschieden sich zur Ausreise aus dem Land und diese Anker war Sicherheit. Syrien glich einer glücklichen Braut, Familie war nicht mehr vorhanden. hoffnungsvoll und schön. Ihre Kinder lebten ein sorgenfreies Leben, wissend und arbeitend. Sie wurde sogar zur Wiege der Zivilisation in der Wissenschaft und der Literatur. Damaskus - Ahmed Osman - 14 Jahre Sie war reich an Wasser, hatte viele Ernten und ihre Erträge stiegen, sie wurde sogar ein vorbildhaftes Beispiel. Die Zu Beginn lebte ich in Damaskus, in al-Hajr Tage vergingen, die Bedingungen verschlechterten sich al-Aswad, aber wegen des Beschusses zogen wir ins paläsund der Lauf der Dinge änderte sich. Der Krieg kam und be- tinensische Flüchtlingslager Yarmouk. Jedoch beschossen schwerte jedes Herz, er brach die Stifte, er tötete Jugendli- sie auch das Camp und ich schloss mein Studium nicht ab. che und Kinder. Armut und Ungerechtigkeit herrschten vor, Doch eines Tages werde ich zurückkehren. Blumen wurden verbrannt und die Vögel wurden traurig, die zuvor fröhlich gewesen sind. Ein großes Beispiel dafür Texte gesammelt von Al Caravan ist eine schmerzhafte Geschichte, die ihre Spuren auf den Übersetzung: Susanne Schmelter Seelen hinterließ und deren Kapitel traurig sind. Es war einmal eine Familie, die auf dem Boden des geliebten Syriens lebte, sie bestand aus einer Mutter, einem Vater, vier Söhnen und drei Töchtern. Sie lebten unter dem Schutz der Mutter, einer Hausfrau, deren ganze Sorge das Wohlergehen ihrer Kinder und die Unterstützung ihrer Ausbildung waren. Sie lebte in dieser Hoffnung und verwendete all ihre


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„Das Leben läuft einfach weiter, und wir müssen mithalten – nur so können wir leben“ Dieses Zitat einer Frau aus Damaskus² aus dem Buch „Out of Syria, inside facebook“ von Dona Abboud bleibt hängen – und unterstreicht die Absicht der jungen Syrerin, in ihrer Abschlussarbeit unzensiert und ungeordnet die ganze Bandbreite der Lebenswirklichkeit im jetzigen Syrien einzufangen. So greift sie zu Facebook-Bildern, die Menschen in Syrien posten, um unser einseitiges Bild © keywordhut.com vom Alltag in diesem kriegsgeschüttelten Land zu korrigieren. „Als der Syrienkrieg 2011 begann, war ich gerade zu Besuch bei meiner Familie in Damaskus. Zurück in Deutschland sah ich mir die Nachrichten an und war irritiert: Die Situation wirkte ganz anders, als ich sie wahrgenommen hatte. Die Medien schien einzig zu interessieren, welcher Kriegspartei was vorzuwerfen sei. Was ist mit den 23 Millionen Syrern? Wie ist der Alltag jener, die nicht kämpfen? Um mir diese Fragen zu beantworten, fing ich an, Facebookfotos zu sammeln und auf meinem Computer zu speichern“, so Dona Abboud in einem Interview mit Sara Geisler im bpb-Jugendmagazin fluter.¹ Sie will die Vielfalt des Alltags von Menschen in einem Kriegsland einfangen: „Ich habe versucht, möglichst unterschiedlichen Leuten zu folgen. Frauen wie Männern, Jungen wie Alten, Usern mit geringem und mit großem politischen Interesse, welchen, die mit den Rebellen kämpfen und solchen, die Assad unterstützen. Das Buch soll keine politische Sichtweise transportieren, sondern aufzeigen, welche Wahrheiten es neben dem Krieg gibt: Was beschäftigt die Syrer? Was machen sie? … Wie geht Alltag, wenn es kaum sauberes Wasser gibt? Wenn man stunden- oder tagelang keinen Strom hat, wenn die Preise für Lebensmittel ständig steigen? Doch die Syrer gehen arbeiten. Wo möglich, besuchen sie Schulen und Unis. Ich selbst habe an einer Hochschule einen Grafikdesign-Workshop geleitet“¹, ergänzt sie im Rückblick auf ihren vierwöchigen Aufenthalt in Damaskus im letzten Winter.

Die Bilder in dieser Dokumentation sind nicht repräsentativ, sie überraschen jedoch mit Einblicken auch in das uns ungewohnte ‚andere‘ Syrien mit seiner A ll t agsnor mali t ät . Dieses Syrien geht bei uns in der medialen Berichterstattung über den Krieg und seine Gräuel unter. Die Autorin beschreibt im fluterInterview das Leben der urbanen jungen Menschen in Damaskus kaum anders als in unseren Großstädten; Facebook-Fotos vom Partyleben in der Hauptstadt verstärken den bizarren Kontrast zu Bildern junger Kämpfer vor ihren zerbombten Häusern und belagerter LKWs mit Lebensmitteln: „Der Kämpfer, der sich mit seinen Waffen fotografiert und zeigen will, wie männlich und stark er ist – er zeigt Realität. Die 22-Jährige, die ihre Maniküre fotografiert – auch sie zeigt Realität.“¹ „Out of Syria, inside facebook“ der seit 2008 in Deutschland lebenden Autorin wird in der Leipziger Zeitung beschrieben als „ein wildes buntes Kaleidoskop aus fast 2000 Bildern, das vielleicht gerade angesichts der explodierenden Bomben und Granateneinschläge das Leben feiert.“² Heimfocus-Redaktion Out of Syria, inside Facebook Dona Abboud, Leipzig 2016 224 Seiten, 20,00€ ISBN 978-3-932865-95-4 Bestellung: www.institutbuchkunst-leipzig.de

¹http://www.fluter.de/facebook-bilder-vom-alltag-in-syrien ²http://www.lvz.de/Kultur/News/Tanz-am-Abgrund-Das-SyrienBuch-der-Leipziger-Typografin-Dona-Abboud


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Verwundete Seelen Eine Ausstellung mit Bildern von Flüchtlingen in Linnich, Kreis Düren

Die Ausstellung Eine Woche lang wurden in der Evangelischen Kirche in Linnich Acrylmalereien auf Leinwand ausgestellt, in denen Flüchtlinge ihre Erfahrungen und Hoffnungen gemalt hatten. Die Ausstellung fand große Anerkennung, wie Eintragungen im begleitenden Gästebuch belegen:

ihrer Flüchtlinge. Die nonverbale und narrative Chance, in Bildern zu sprechen, wurde aufgegriffen. * die tägliche Blamage des mühsamen Stammelns in der schweren deutschen Sprache, ohne ausreichende Begegnung mit Deutsch sprechenden Einheimischen

“So viele laute Fragen nach dem Warum, so viele Geschich- * die seit dem Sommer 2016 wachsende Sorge um Abschieten in Farbe, so viele Ideen von Hoffnung: ich bin berührt.” bung bei Tag und bei Nacht für die jungen Menschen, die kein Aufenthaltsrecht bekommen, die aber auch nicht nach “Diese Bilder sind lauter als meine Stimme. Sie sprechen für Hause können, weil es das für die meisten nicht mehr gibt die Menschen, die keine Stimme in diesem Land haben.” * sie fühlen sich hilflos und entmündigt den oft chaotischen “ Sehr beeindruckende Bilder. Sie regen zum Nachdenken Regelungsversuchen von “Integration” der Behörden ausan. Sie sagen sehr viel aus. Vielen Dank für den tiefen Ein- gesetzt, die sie in Bürokratendeutsch irgendwohin beordern und die selten die Lage der bedrohten, verängstigten, blick.” hoffnungslosen jungen Menschen treffen und beachten Wie kam es zu diesen Bildern? Eine pensionierte Kunstlehrerin hatte mit Flüchtlingen ih- * sie spüren, dass bei uns gilt, was wir verwerten können, res Deutschkurses gemalt und erfahren, wie bereitwillig nicht, ob die jungen Menschen eine Chance für ihre Zukunft und bewegt die jungen Menschen von ihren Erfahrungen, haben Ängsten und Hoffnungen erzählten. Weitere Flüchtlingshelfer, Sprachlehrer und Paten sahen die Bilder und mach- * ihr Sprachvermögen reicht nicht aus, um von sich und ten einen zweiten Versuch in ihrer Gemeinde. Sie alle ihren Irrwegen durch Länder und Kontinente, von ihrem bedrückte die niedergeschlagene Lage und Stimmung Heimweh und ihren Zukunftsängsten zu erzählen; und die,


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contact@heimfocus.net die sie mit Wohnung und Essen versorgen, wissen nichts über sie Der Maltag Um die Tische mit den auf Rahmen gespannte leere Leinwand standen junge Menschen aus Eritrea, Ghana, Guinea, Elfenbeinküste, Burundi, Kongo, Irak, Syrien, Marokko, Palästina, Nigeria, Somalia, Bangladesch. Die meisten von ihnen hatten noch nie einen Pinsel in der Hand gehabt. Unter behutsamer Anleitung und Ermunterung begannen sie mutig in bunten Farben zu malen. Es war großartig zu beobachten, wie Menschen, die zwar in ihren Unterkünften Tür an Tür wohnen, sich aber so gut wie gar nicht kennen, spontan aufeinander zugingen, sich zulächelten und sich gegenseitig ihre Bilder zeigten. Gesichter der in sich verkrümmten, zersorgten, gerunzelten Stirnen junger Menschen veränderten sich. Über der fast meditativen Stille lag ein Lächeln und ein Verstehen. Die Atmosphäre weitete sich, verlor an Angst und Befangenheit, wuchs an Menschsein und Vertrautwerden. Auf einmal waren sie mit uns auf Augenhöhe. Die Stimmung war so gelöst und heiter, dass wir glatt gesungen hätten, wenn es denn ein gemeinsames Liedgut gäbe. So aßen wir miteinander und danach wurde Fußball gespielt. Die Bilder Sie erzählen von den jungen Menschen selbst: von ihrer zerbombten Heimat, den toten Kindern, dem Abschied von liebsten Menschen, der Gewalt von Soldaten und Schleppern, den Gittern, Zäunen und Gefängnissen, den Ertrinkenden im Meer... Aber sie sprechen auch zu uns: M., der als Kind aus Guinea floh, malt die Idylle eines afrikanischen Dorfes mit eng aneinander gereihten, strohbedeckten Hütten und einem Teich und Enten darauf und sagt dazu: die Türen sind bunt, jede hat eine andere Farbe und alle sind offen... eine Frage an uns… Ein anderes Bild: ein Bär füllt fast das ganze Bild. Er ist umgeben von Flammen: Da verbrennt mehr als ein Spielzeug, da verbrennt die Zukunft von Kindern und dem, was sie am meisten lieben. Da schreibt ein Physiker in bunten Farben die Formel der Einstein‘schen Relativitätstheorie auf das Bild, nur das. Das ist das Einzige, was ich retten und mitnehmen konnte aus meiner Heimat. Schule, Friede, Liebe... Nur sie rettet die Welt stand auf Deutsch auf mehreren Bildern. Die Bilder haben uns erzählt von jungen Menschen mit schrecklichen Erfahrungen und noch hie und da wacher Sehnsucht. Sie haben Begegnung auf Augenhöhe ermöglicht und uns gezeigt, wie armselig unsere Empfangsmuster und wie erbärmlich schlecht unsere politischen und wirtschaftlichen Lösungen weltweiter humanitärer Bedrohungen sind. Wir können nicht alle Flüchtlinge der Welt aufnehmen, gewiss. Und nur, wer sich uns anpasst, hat bei uns eine Chance.


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06 / 2017 Das reicht nicht. Es gibt nur wenige Orte unserer Erde, die gänzlich unbewohnbar sind. Manche von ihnen haben wir mit unserer Macht, unserer Habgier und unseren Waffen unbewohnbar gemacht. So lange wir die Bodenschätze Afrikas zu uns abtransportieren, die Fischfilets des Viktoriasees in Europa essen und die Gräten, Schwänze und Köpfe den Fischern in Afrika überlassen und so lange wir mit der Trockenmilch unserer Milchüberschüsse die afrikanischen Kühe umbringen, so lange versuchen junge Menschen, bei uns zu überleben. Wie können wir es ihnen verwehren? Dr. Margret Peek-Horn Fotos der Bilder © RoKa Wirtz

sehenswerte Doku zur Ausstellung: https://www.nrwision.de/programm/ sendungen/ansehen/ausstellung-verwundete-seelen-in-linnich.html


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Seenotrettung im Mittelmeer und Abschiebung übers Mittelmeer

Eines der Bilder in der Ausstellung“Verwundete Seelen” stellt genau diese paradoxe Situation dar: Im Meer, das fast das ganze Bild ausfüllt, ein kopfüber gekipptes Boot, das Menschen ins Wasser gießt. In einer Sprechblase darüber der Ruf: Hilfe, wir gehen unter, Hilfe!! Am rechten Bildrand, am Ufer, durch eine dicke rote Linie getrennt, steht der Text: Wenn sie auch überleben, werden sie abgeschoben. Dieses doppelte Trauma quält viele Flüchtlinge, vor allem Afrikaner aus Ländern der Transsahara. Ich hörte die Äußerung: „Ob man mich nun hier in die Müllverbrennung wirft oder übers Mittelmeer in die Sahara abschiebt, dem Erschießen oder Verdursten ausgeliefert, ist egal.“ Manche tauchen schließlich unter, andere handeln mit Drogen: “Wir müssen unsere Familien in Afrika versorgen. Hier in Deutschland gibt es keine andere legale Arbeit für uns.” In ihrer Ohnmacht könnten sich auch einige radikalisieren.

im Stillen geschlossen, unbemerkt von der Öffentlichkeit und kaum beachtet von den Medien. Dabei stehen sich so ungleiche Partner gegenüber, dass die Interessen und Vorteile dieser Abkommen unübersehbar einseitig sind. Die wirtschaftliche Überlegenheit zielt von Norden nach Süden, die chancenlosen Menschen dann von Süden nach Norden. Ist das wirklich so schwer zu verstehen? Das eine ist gewollt und ‚legitim‘, das andere ungewollt und illegal, so sehen wir das.

Nichts wendet sich dadurch nachhaltig zum Besseren für die vielen jungen Afrikaner, die ihre wirtschaftliche Aussichtslosigkeit als Flüchtlinge und ‚illegale‘ Arbeitsmigranten nach Europa treibt. Die EPAs bringen ihnen kaum Perspektiven auf Arbeit und Auskommen. Denn sie verfolgen das Ziel, uns die afrikanischen Märkte als Absatzmärkte für unsere subventionierten und überlegenen Waren und Dienstleistungen zu erschließen – und nicht, dort heimiIn Sammelunterkünften von uns anderen getrennt, ringen sche Arbeitsplätze und Infrastruktur entstehen zu lassen. sie mitunter jahrelang mit ihrer Ohnmacht und Verzweif- Hinzu kommt die Klimaveränderung, die die ländliche Belung. Hier und da zündet einer in totaler Verzweiflung sein völkerungsmehrheit zur Migration zwingt und damit anBett an; eigentlich meint er sich selbst und gefährdet damit dernorts Verteilungskämpfe, Gewalt und Flucht provoziert. die ganze Unterkunft. Wie sollen sie uns verstehen, wenn wir sie einerseits aus Seenot retten und andererseits wie- In Europa leben nur 14% aller registrierten Flüchtlinge in der in Not und Bedrohung zurückschicken, der sie doch ent- Lagern, 83% dagegen in Afrika. In Subsahara-Afrika leben fliehen wollten? zur Zeit mehr Flüchtlinge als im Nahen Osten und Nordafrika; Europa bildet mit 6,3 Millionen das Schlusslicht “Europa erzeugt die Flüchtlinge selbst” ist der Titel eines bei der Aufnahme von Geflüchteten. Unsere Unterkünfte Artikels in der ZEIT vom Juli 2016. Er beschäftigt sich mit sind meistens keine ‚Lager‘. Sie sind dennoch mangelhafden EPAs (Economic Partnership Agreement), den Freihan- te Lösungen, die zu Abhängigkeit, Frustration und eindelsabkommen zwischen afrikanischen Staaten und der geschränkter Mobilität führen. Ein selbständiges Leben EU. Diese Wirtschaftspartnerschaftsabkommen werden braucht mehr als Versorgt-Werden.


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Wer sollte denn das Ruder herumreißen und sich von der ter Ort, um zu bleiben. Selbstbewusst und staatsmännisch ‚guten alten‘ neoliberalen Manier verabschieden, wenn zeigen sich die afrikanischen Staatschefs bei Gipfeln mit eunicht Europa, das jene ja auch mit entwickelt hat? In den ropäischen Regierungschefs. Mit der gleichen Haltung müsFlüchtlingen bei uns ist uns Afrika näher als irgendwo sonst. sen sie in ihren eigenen Ländern mit all den Stammes- und Wir könnten ihnen Hilfe zur Selbsthilfe anbieten, hier bei Clanstrukturen, mit verkrusteten Traditionen und Animouns, als pragmatische und gut überprüfbare ‚Entwicklungs- sitäten aufräumen, mit Korruption und Vetternwirtschaft, hilfe‘ vor Ort: Durch mit Selbstbereicheeine befristete Ausrung, verkrusteten bildungszeit, in der Verwaltung und sie für ihre HeimatZerstörung von Leländer lernen und bensgrundlagen. sich mit Werkzeug, Sie träfen damit Werkstätten, Erden Nerv so vieler satzteillagern und ihrer urbanen junVernetzungen mit gen Bürger, die sich europäischen Firnichts mehr wünmen rüsten können schen, als einem für einen Neuanneuen Afrika auf die fang in ihrer Heimat. Sprünge zu helfen. Dazu muss aber Die Migrationsauch das Heimatkommissionen land auf eigene der Deutschen BiFüße kommen: s c h o f s ko n f e r e n z Einmal durch faire, und der Evangenachhaltige Wirtlischen Kirche in schaftsbeziehungen, die eine messbare einheimische Ent- Deutschland begründen ihre Kritik an Sammelrückführunwicklung zum obersten Ziel haben. Erlöse aus Rohstoffen, gen nach Afghanistan mit den Worten: “Kein Mensch darf von denen wir in den Industrieländern abhängen, müssen in eine Region zurückgeschickt werden, in der sein Leben direkt in die Entwicklung des Landes investiert werden. durch Krieg und Gewalt bedroht ist. Die Sicherheit der PerHungersnot in Nigeria und die Welt soll wieder mit Spen- son muss stets Vorrang haben gegenüber migrationspolitiden retten? Wieso eigentlich in einem der rohstoffreichsten schen Erwägungen.” ¹ Wieso kann dieses Argument nicht Länder der Welt? Was ist also mit den Regierungen solcher ebenso auf Regionen in Afrika übertragen werden? InnerLänder, wer stützt sie und arbeitet mit ihnen in der Ausbeu- staatliche bewaffnete Konflikte und die steigende Zahl an tung der eigenen Bevölkerung zusammen? Und wer nutzt Binnenvertriebenen lassen dort die Versorgungs- und Sidiese schwache Staatlichkeit und Korruption zum eigenen cherheitslage weiter eskalieren. Martin Gerner gibt in seiVorteil, um in Afrika seine Überproduktion und seinen Müll nem Artikel: „Von Europa geht eine Magie aus.“ ² mit Blick abzuladen, ob als Trockenmilch, Hühnerklein, Altkleider auf Afghanistan das zu bedenken, was wohl auch für weite oder Elektroschrott? Teile Afrikas zutrifft: „So macht es wenig Sinn, Afghanen, die nach Deutschland kommen, in Wirtschafts- oder poliWie gut könnten wir bei den von Abschiebung bedrohten tische Flüchtlinge aufzuteilen. Wirtschaftliche Gründe für Flüchtlingen Praktika oder sogar Ausbildungen anbieten, Flucht und Migration gehen in Afghanistan immer mit fehum ihre hoffnungslosen Wartezeiten sinnvoll zu nutzen. lender Sicherheit einher.“ Wir könnten sie zu Übungen von Einsätzen und Initiativen des Roten Kreuzes oder des THW mitnehmen oder Kurse Für Abschiebungen trägt unser Land Verantwortung. Sie für einfache Solartechnik, für Wasserversorgung und Ab- sind dort zu unterlassen, wo der Aufbau eines menschenwasserentsorgung anbieten. Aber überall wird ein gutes würdigen Lebens für einzelne und ihre Familien nicht Sprachniveau erforderlich. Und fast niemand ist bis jetzt gewährleistet werden kann. Abschiebungen in afrikanidaran interessiert, in sein Heimatland zurückzugehen und sche Länder oder einfach nur mal eben übers Mittelmeer bei seinem Aufbau zu helfen. Man will (muss) hier schnell in unsichere Länder und neue Lager mit der Begründung und richtig arbeiten und Geld verdienen. Hospitieren für “Wirtschaftsflüchtlinge” ist menschenverachtend und kurzwenig Geld ist nicht attraktiv genug. sichtig. Das Mittelmeer bleibt Grab und Hoffnungsort zugleich, solange die Heimat keine Zukunft bietet. Afrika könnte ein Kontinent für neue Gesellschaftsformen, Denkansätze und Lebenschancen werden, vieles davon ist Dr. Margret Peek-Horn schon sichtbar, aber findet zu wenig Unterstützung. Wenn die Regierenden dort endlich ihrer Verantwortung nachkommen und dem Import fremder Muster und Vorgaben ¹ Pressemitteilung der DBK 009 vom 24.1.2017 die Vielfalt an eigenen afrikanischen Möglichkeiten entge- ² Planet der Flüchtlinge, bpb-Schriftenreihe, Band 1756, gensetzen, dann würde ein Land nach dem anderen ein gu- ISBN 978-3-8389-0756-7


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Es wird nie mehr sein, wie es war

© childrendeservebetter

„Mama, meinst du, der Frieden kommt bald? “ Meine Mutter zog ihr Tuch zurecht. Sie schaute mich mit ihren schönen, traurigen Augen an. Wie alt sie in den letzten Jahren geworden ist, dachte ich mir.

Mutter zupfte an ihrem Kopftuch und versuchte, ihre Tränen vor uns Kindern zu verbergen. Ich bemerkte auch die stillen Tränen, die die hageren Wangen meines Vaters hinunter liefen. Er versuchte, sie zu unterdrücken, er wollte nicht, dass seine Kinder ihn weinen sahen, dass sie erkenAls ich auch meinen Vater nach Frieden fragte, wurde ich nen konnten, wie er an dieser Frage verzweifelte: Meinst du, traurig. Was sollte er antworten? Dass ich und meine klei- der Frieden kommt bald? nen Geschwister wahrscheinlich niemals die Süße des Friedens kennenlernen würden? Dass unser Land verdammt Vater griff zur Zigarette. Die Flamme des Feuerzeuges erwar? Dass Allah...? Nein, so etwas durfte man nicht denken. hellte kurz den Raum, die Zigarette fing an zu glimmen und Vater inhalierte den Rauch seiner Zigarette mit geschlosAls Mutter nicht antwortete, griff Vater zu seinen Zigaret- senen Augen und stieß ihn durch die Nase wieder aus, als ten und schaute erst sie und dann mich durchdringend an. ob der Rauch ihm die Freiheit brächte, der ihn das wirklich Mama war offensichtlich auf der Suche nach einer Antwort Leben beraubte. Freiheit. Leben. verloren. Vater spürte, wie ihr bei den Gedanken, Kriegskinder aufzuziehen, Tränen in die Augen stiegen. Um ihr Es knallte irgendwo, wie aus dem Nichts. Der Himmel enteine Antwort zu ersparen, antwortete er für sie: „Inschallah, flammte. Rauch stieg von der Straße auf. Sirenen, Geschrei, mein Sohn.“ Lichterblitze. Wir kannten es schon, doch Mohamed hatte genug. „Mama, Papa, es ist vorbei!“ Er rannte plötzlich zum Ich schaute ihn an. Er war noch jung, doch sein Gesicht war Küchenfenster und rief: „Seht ihr, sie machen ein Feuervoller Falten. Falten, die von einem Leben voller Sorgen werk! Ein Feuerwerk, weil der Frieden endlich da ist! Lasst erzählten. Ich betrachtete ihn: Warum antwortet er mir so uns rausgehen und mit den anderen feiern!“ „Mohamed“ scheinheilig? Meinte er, ich könnte die Wahrheit nicht er- schrie Mutter auf, „Mohamed, das ist doch kein Feuerwerk, tragen? Und warum schwieg meine Mutter? Oder fanden kein Frieden, das sind Schüsse, Bomben...!“ Vater sprang sie das Gespräch vor meinen jüngeren Geschwistern unan- auf und riss meinen Bruder vom Fenster weg. Er sah den gebracht? Wahnsinn in seinen vor Freude glänzenden Augen. Was hatte der Krieg aus ihm gemacht? Er wollte ihn schütteln, Es war Abend, wir saßen zusammen in der Küche beim Tee. schütteln bis… Meine kleinen Geschwister waren heute merkwürdig still.


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Doch da riss sich mein Bruder los und war schon an der Tür und draußen. Vater schrie ihm hinterher: „Bist du wahnsinnig geworden?“ Er wollte Mohamed nachlaufen, ihn aufhalten, aber Mutter klammerte sich an ihn, sie weinte und schrie: “Abdullah, wenn du ihm nachrennst und stirbst: Was wird aus uns?? Wer wird uns beschützen?“ Meine kleineren Geschwister drehten jetzt alle durch. Aref und Serina wollten ihrem Bruder folgen und ihre kleine Schwester, die in ein rotes Tuch gewickelt war, mitnehmen: “Mama, wenn Mohamed rausgerannt ist, dann ist doch Frieden!“

© United to end genocide

Mutter schrie wie von Sinnen, flehte ihre Kinder an, zu schweigen und ihren Mann, nicht zu gehen. Sie wusste, dass Mohamed in der Situation da draußen nicht zu retten war und vier andere Kinder versorgt werden mussten. Sie schrie, solche Schmerzen! Niemand konnte Mohamed aufhalten, heraus zu laufen und den Frieden zu feiern. Er konnte die Schönheit eines Feuerwerks nicht mehr von den Schrecken der Explosionen unterscheiden. Wir sahen ihn noch die Straße hinunter rennen, die sich in ein Inferno zu verwandeln schien. Er breitete die Arme weit aus, fing an sich zu drehen und zu hüpfen, warf den Kopf nach oben und wirbelte in einem Freudentanz über das Feuerwerk, das den Frieden feierte. Als ob er von einer unglaublichen Leichtigkeit der Freiheit berauscht wäre. Als ob die schwere, staubige, von Tod durchzogene Luft da draußen die Brise des neuen Friedens wäre. Des Friedens und der Zukunft. © Engagingpeace

Es wird nie mehr sein wie es war. Noch heute träume ich jede Nacht von meinem tanzenden Bruder da draußen. Was mag ihn berauscht haben, was für Bilder sahen da seine Augen, was fühlte er? Immer schneller und schneller drehte er sich, immer lauter und lauter wurde der Donner des Todes. War es für ihn ein Siegesfeuerwerk, Musik einer Freiheit, in der die Mutter wird wieder lachen können und mein Vater glücklich sein? Wie dunkel der Himmel, doch wie hell und duftend muss ihm da die Hoffnung, wie rosig die Zukunft erschienen sein? Die Familie hatte sich in den sicheren Teil des Hauses zurück gezogen. Es machte „Klick“ und Vater zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an. Er inhalierte den Rauch

und stieß ihn stumm und heftig aus. Stille und Leere. Und plötzlich war alles schwarz und ruhig und vorbei. Mama schaute ihren Mann an: „Es wird nichts mehr sein, wie es war“. Vater nickte stumm. „Mama, Papa, ist jetzt Frieden?“ fragten die Kleinen. Leere, Stille und Leere. Hannah Strauß


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Ostermarsch 2017 „Stoppt die Rüstungsexporte“ Seit 2000 sammelte und analysierte die amerikanische Soziologie Professorin Erica Chenoweth Daten über 250 bewaffnete und unbewaffnete Widerstandsbewegungen zwischen 1945 und 2000. Sie fand heraus: Das Ziel, autokratische Regierungen zu stürzen, erreichten gewaltfreie Bewegungen mehr als doppelt so oft wie gewaltsame. Dasselbe stellten auch Autoren des Friedensgutachtens 2015 fest und darüber hinaus, dass demokratische Strukturen, die aus friedlichem Widerstand von innen hervorgingen, viel stabiler und langlebiger waren als solche, die von oben oder außen herbeigeführt wurden. Offensichtlich hat davon noch nie eine Bundesregierung etwas gehört, denn sonst verstünden sie ja, warum ihre Therapien, nämlich bewaffnete Interventionen und massenhafter Export von Kriegsgerät, nicht wirken - nicht in Afghanistan, nicht im Irak und nicht in Afrika. So aber fällt unserer Regierung und ihren Verbündeten nichts anderes ein, als die Dosis der giftigen Medizin immer weiter zu erhöhen: Erhöhung der Wehretats, mehr Kriegseinsätze und Überschwemmung der Welt mit Waffen.

sind 4-5% des weltweiten Handels, und die bisher bekannten Daten aus 2016 deuten auf einen weiteren Anstieg hin. Insgesamt bringen es die EU-Staaten auf einen Anteil von 23%, macht zusammen mit den 33% des Spitzenreiters Amerika 56% für die NATO insgesamt. Die NATO trägt damit am meisten Verantwortung dafür, dass Gewaltkonflikte nicht eingedämmt, sondern im wahrsten Sinne des Wortes immer weiter munitioniert werden. Dabei wird von Regierungsseite immer behauptet, unsere RüstungsexportPolitik sei sehr zurückhaltend; die rechtlichen Vorgaben auf Bundes-und EU Ebene verlangen das eigentlich auch. Aber in der Realität begegnen wir auf Schritt und Tritt Verstößen gegen die eigenen Bestimmungen.

Über die Jahre ist der Trend: Immer mehr Rüstungsgüter gehen in sog. Drittstaaten, das sind Länder, die nicht zur EU oder NATO gehören und ihnen auch nicht gleichgestellt sind, z.B. Schweiz, Japan, Australien. 2015 gingen knapp 60% aller Lieferungen an Drittstaaten. Die gesetzlichen Vorgaben erlauben das nur ausnahmsweise, aber nicht einmal 1% solcher Anfragen wurden abgelehnt. In 34 dieser Ende 2016 hat die GKKE, die Gemeinsame Konferenz Kir- Staaten herrschen Gewaltkonflikte – Afghanistan, Pakistan, che und Entwicklung, ihren 20. Rüstungsexportbericht vor- Irak und Länder in Nahost und Afrika. Laut Richtlinien sind gelegt und darin beklagt, dass es über die Jahre eine stetige diese Länder auszuschließen, genauso wie Staaten, deren Zunahme des deutschen und internationalen Rüstungshan- Menschenrechtslage schlecht ist, dazu gehören die arabidels gibt. Deutschland hat im Berichtszeitraum 2015 seine schen Staaten. Trotzdem war Katar der größte Empfänger Exporte gegenüber 2014 auf fast 13 Mrd.€ verdoppelt, das deutscher Waffen, v.a. Kampfpanzer und Panzerhaubitzen,


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06 / 2017 gefolgt von Südkorea, Israel, Algerien und Saudi Arabien. Im Fall Saudi Arabien ist nicht nur die Menschenrechtslage miserabel, mit Katar führen sie einen brutalen, völkerrechtswidrigen Krieg im Jemen, der dem in Syrien in nichts nachsteht, und nachweislich haben beide dort Kriegsverbrechen begangen.

plettes Verbot von Waffenexporten zu erreichen. Der Weg dahin ist weit, aber immerhin hat die Ablehnung der Lieferung von 270 Leopard Panzern an Saudi Arabien gezeigt – öffentlicher Druck hilft. Als nächste Schritte fordern wir: •

Einen echten Tabubruch hat es schon 2014 gegeben: Mit den kurdischen Peschmerga, die gegen Assad kämpfen, • hat zum ersten Mal ein nicht-staatlicher Akteur deutsche Waffen bekommen. 2015 erhielten sie 3600 Heckler&Koch G36 Gewehre, fünf Millionen Schuss Munition und 200 • Lenkflugkörper, obwohl man weiß, dass auch diese Kämpfer Kriegsverbrechen begangen haben und die Gewehre illegal weiterverkaufen – ein weiterer Beitrag zur Pest der Verbreitung von Kleinwaffen, die bekanntlich für die meisten Kriegstoten sorgen. In jedem Krieg auf der Welt wird auf allen Seiten mit G3 und G36 Gewehren geschossen, und Deutschland trägt die Hauptschuld. Es mag Sie wundern, warum so offensichtliche Rechtsverstöße folgenlos bleiben. Das hat drei Gründe: Die Vorgaben sind erstens schwammig formuliert und dann gibt zweitens eine Zauberformel: Die entsprechenden Bestimmungen gelten, sofern nicht „im Einzelfall außen-und sicherheitspolitische Interessen der Bundesrepublik für eine ausnahmsweise Genehmigung sprechen.“ Die genannten Zahlen zeigen, wie weit es © youareawesome mit dem „Ausnahmsweise“ her ist! Der Klageweg ist praktisch ausgeschlossen, weil die klagende • Person nachweisen muss, dass sie persönlich einen Nachteil durch diesen laxen Umgang mit Vorschriften hat – wie soll das gehen? Das Weißbuch 2016 zeigt, dass sich an dieser unseligen Genehmigungspraxis nichts ändern wird. In Weißbüchern legt die Regierung alle paar Jahre ihre künftige Außen-und Sicherheitspolitik fest. In Bezug auf Rüstungsexporte stehen da drei wichtige Aussagen: Die politischen Partner werden ertüchtigt, ihre Konflikte ohne Hilfe von außen militärisch lösen zu können. Dazu werden sie ausgerüstet und geschult. Dann: Schlüsselindustrien im Rüstungssektor werden erhalten, notfalls auch mit Exportbeihilfen. Und: Rüstungsproduktion und -export sollen europäisiert werden. Dafür ist eine Harmonisierung der Vorschriften auf EU-Ebene nötig. So etwas führt in der Regel zu Abschwächung und nicht zu Verschärfung von Vorschriften. Eine Kehrtwende in der Rüstungsexport Politik kann nur mit den Kräften der Zivilgesellschaft erreicht werden. In der „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel“ haben sich mehr als 100 Organisationen zusammengetan, um als Fernziel mit einer Änderung des Grundgesetzes ein kom-

Komplettes Exportverbot von Kleinwaffen und Munition Ausnahmsloses Verbot von Lieferungen an kriegführende und menschenrechtsverletzende Staaten keine Ausfallbürgschaften des Staates für Rüstungsexportgeschäfte

Erlass eines Rüstungsexportkontrollgesetzes mit klaren, unumstößlichen Vorgaben. Da hinein gehört - ein Lieferverbot für klar festgelegte Länder - ein Verbandsklagerecht gegen Ausfuhrgenehmigun gen - Debatte und Beschlussfassung über Waffenlieferungen haben im Parlament zu erfolgen, nicht im geheim tagenden Sicherheitsrat, wie es sich in einer so elementaren Frage für einen demokratischen Staat gehört

Zum Schluss rufe ich auf: Unterstützt die Aktion Aufschrei z.B. indem Ihr im Vorfeld der Bundestagswahl Kandidaten Eurer Region anschreibt. Vorlagen und weitere Aktionsvorschläge stehen auf der Webseite der Aktion Aufschrei. Jeder und jede von uns kann etwas tun! Uta Deitert ÖKOPAX e.V. www.oekopax.de


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Was machen wir da eigentlich? Und wo wollen wir hin? Lassen wir endlich das Drumherumreden. Probleme und Missverständnisse lassen sich nur lösen, wenn sie benannt werden. Es ist Zeit, nachzudenken und nachzubessern. Der Umstand, dass in den vergangenen Jahren so viele Geflüchtete zu uns gekommen sind, deckt viele schon zuvor vorhandenen Schwachstellen und Herausforderungen unserer Systeme auf. Diese beziehen sich nicht nur auf die Geflüchteten, sondern auf alle, die hier leben.

ben, studieren, arbeiten wollen. Fast alle sind durch ihre deutsche Staatsangehörigkeit auf der sicheren Seite. Die meisten kennen es nicht anders und sind sich dieses Privilegs nicht einmal bewusst. Es fällt leicht, die Menschen, die sich auf den Weg zu uns gemacht haben, weil sie sich eine bessere Zukunft für sich und ihre Kinder erhoffen, zu verurteilen. „Sie wollen doch alle nur in unsere soziale Hängematte rein“, hießt es da, oder auch: „Aber wir können doch nicht alle bei uns aufnehmen!“ Keine Angst, Europa und Deutschland sind im globalen Vergleich ziemlich abgeschlagen bei der Aufnahme von Geflüchteten. Und ja, es kann auch sein, dass unsere bereitgestellte Versorgung im Vergleich attraktiv erscheinen mag. Warum auch nicht, es gibt hier Geld und andere Leistungen vom Staat und für den Rest gibt es Hilfsangebote von allen möglichen Seiten: Das ist doch der erste Eindruck, den wir auch Geflüchteten vermitteln. Wir sollten aufhören, Menschen dafür zu kritisieren, wenn wir sie in Abhängigkeit halten und für sie schließlich die soziale Sicherung zu einen Lebensentwurf und einem Angebot machen, von dem viele in der Heimat nicht hätten träumen können.

Manche Menschen wollen Lebensmittel aus aller Herren Ländern jederzeit gut, günstig und immer verfügbar haben, andere wollen trendige Klamotten zu Schnäppchenpreisen, billige Telefone, Computer und Tablets. Menschen wollen möglichst viel verdienen, aber für Dinge so wenig wie möglich ausgeben. Kann das funktionieren? Wenn jeder so viel herausholen möchte, wie es geht, aber gleichzeitig vermeiden will, selbst beizutragen, werden unsere Gesellschaft und unser Sozialsystem nicht funktionieren! Die Suppe im Topf reicht nun mal nur dann für alle, die sie brauchen, wenn der Topf immerzu aufgefüllt wird. Die einen verstehen das geschickt zu nutzen und holen nur ihren eigenen Vorteil heraus, die anderen kennen und verstehen nicht einmal die Spielregeln. Wir sollten Menschen gleich bei der Ankunft vermitteln, was sie hier erwartet, was sie von uns erwarten können Wir wissen es doch, dass für den Vorteil, den der Eine für und dürfen, aber auch, was wir von ihnen erwarten, wenn sich heraus schlägt, am anderen Ende der andere bezahlen sie hier mit uns leben wollen. Sie sollten verstehen, wie unmuss, mit seiner Ausbeutung, mit seiner Benachteiligung, sere Systeme funktionieren. Denn diese sind vielen völlig mit seiner Würde. Doch wollen wir aus dem, was wir wissen, neu. In den Herkunftsländern gibt es oft Zusammenhalt persönliche Folgen ziehen, sind wir bereit, mit einem weni- und Solidarität nur innerhalb der Familie oder des Stamger an Ich und einem mehr an Wir zu antworten? Volle Auf- mes, keine Steuern, die das Zusammenleben und den Staat tragsbücher, Reiselust, Wohlstand und Wachstum, das ist finanzieren, keine Krankenversicherung und sonstige Abgut. Waren sollen grenzenlos rund um die Welt reisen, die gaben, die unseren Lebensstandard finanzieren. Manche Menschen aber auf keinen Fall! Und schon gar nicht solche, denken darüber nach, wenn man sie darauf hinweist, dass die eine andere Hautfarbe haben, die einer anderen Kultur es ihre Erstunterbringung nach der Ankunft in Deutschland, oder Religion angehören. ‚Deutsche‘ haben leicht reden, ja, selbst Asylverfahren, Unterkunft, Versorgung, medials Besitzer eines ‚roten Passes‘ mit dem goldenen Adler zinische Behandlung, Schule, Kindergarten, Sprachkurse, drauf – eines Zauberschlüssels, der fast alle Möglichkeiten Asylberatung usw. schlicht nicht gäbe, wenn nicht so viele auf der Welt eröffnet! Sie haben meist die Wahl, wo sie le- Menschen bereit wären, dafür einen Teil von dem abzuge-


30 ben, was sie verdienen. Dass auch sie selbst dazu beitragen sollen und müssen, so schnell es geht.

contact@heimfocus.net men, nicht eine Chance geben, wenn sie sich dafür sichtbar mit Vollgas ins Zeug legen? Also den Selbstläufern und Vorbildern in Integration?

Immer wieder kommt man an den Punkt zurück: Wir erklären zu wenig, wir liefern. Die Menschen bekommen Geld Wir schicken Tausende Menschen in Integrationskurse, um ‚vom Staat‘, man erklärt ihnen aber nicht, wo es herkommt sie für ein Leben in Deutschland und vor allem für den Arund dass es nur als Übergang gedacht ist. Dies sollte dann beitsmarkt fit zu machen. Wie schafft man das? Mit lebensauch ohne Unterschied bei allen, die hier leben, so gehand- praktischen Spracherwerb, in dem die Zuwanderer einen habt werden. Wir wollen nicht, dass Menschen unser Sys- direkten Bezug zu ihrem Alltag erkennen können und motitem ausnutzen und beschweren uns, dass ‚sie den ganzen viert werden. Mit Dialogübungen, die ihrer Lebenswelt entTag nichts machen‘. Eine Arbeitsaufnahme ist aber frei- sprechen: Arbeit(ssuche), Ausbildung, Behördenkontakte, willig, solange das Asylverfahren läuft – oder die Duldung. Alltagssituationen. Warum muss in einem Integrationskurs Andererseits dürfen manche Geflüchtete, die arbeiten und unterrichtet werden, wie man einen TV anschaltet – und Steuern zahlen wollen, je nach Herkunft und Status nicht welche Art von Fernsehsendungen es in Deutschland gibt? (mehr) arbeiten. Sie werden, teilweise nach Jahren, wieder Haben wir nicht deutlich wichtigere Themen? in Abhängigkeit von unseren Sozialsystemen gezwungen und abgeschoben. Wer soll das verstehen? Wir drängen Geflüchtete regelrecht in die Unselbstständigkeit und zum Ausnutzen des Systems. Alles ist anders Wenn man gleich von Anfang an staatlich versorgt wird, als daheim, wo man selbst sehen musste, wie man sich ohne Gegenleistung, ohne erkennbare zeitliche Begren- versorgt und zurecht kommt: Staatliche Versorgung und zung, dann dürfte es für viele, die in der Heimat dieses Sys- ein Füllkorb an Angeboten und Programmen, die kommen tem nicht kennen, ungewohnt sein. Und sie brauchen sich und gehen, von allen möglichen Trägern, von Ehrenamtlinur in ihrer Lebenswelt der Unterkünfte oder der eigenen chen, von Institutionen und Kommunen. Wer blickt da noch Community umzuschauen, viele dort leben genauso. So durch, wo ist die Koordinierung und vernünftige Steuerung kann es zum angenommenen Normalfall werden. Die Com- dieses Füllhorns? Wo wird zusammengearbeitet, damit munities funktionieren bestens, was Kommunikation über sich Angebote ergänzen und nicht konkurrieren, damit die Angebote und Möglichkeiten angeht, wo man günstig wel- Mittel, die ausgegeben werden, möglichst effizient einche Dinge bekommt und was man bei Behörden am Besten gesetzt werden? Wo wird dem Fördern auch ein Fordern tun oder sagen soll. Ob sich Arbeit ‚rechnet‘, wenn man die gegenüber gestellt, das den Wert und die Ernsthaftigkeit Steuern und alle Fixkosten abzieht, die man nun plötzlich der Angebote verdeutlicht? Besonders in den letzten zwei alle selbst zu begleichen hat. Diejenigen, die schnell auf Jahren ist ein unübersichtlicher Markt an Angeboten entdie Beine kommen wollen und sich dafür Tag und Nacht ins standen. Oftmals klappt es nicht einmal innerhalb einer Zeug legen, werden manchmal belächelt und entfremden Kommune, diese für Geflüchtete sinnvoll zu koordinieren sich von ihren eigenen Leuten. und Synergien zu nutzen. Wie soll das erst im großen Ganzen funktionieren? Andererseits wollen viele Menschen, die es zu uns geschafft haben, schlicht wieder sicher und selbstbestimmt leben, sie Auch die individuelle Unterstützung der Geflüchteten strengen sich an und kämpfen sich durch. Mit gebündelten durch Ehrenamtliche zielt nicht immer darauf ab, sich Ressourcen und einem effizienten Einsatz von Mitteln an durch konsequente Hilfe zur Selbstständigkeit als Unterder richtigen Stelle sollten wir jenen diese Chance geben, stützer so schnell wie möglich zurück zu ziehen. Ist die Haldie sie wirklich wollen und danach greifen. In Ausbildung tung sinnvoll, den ‚armen‘ Menschen bei jedem geäußerten und Arbeit bringen, so schnell es geht: Das wäre es, wenn oder auch nur angenommenen Bedarf helfen zu wollen? wir nicht wollen, dass unser System ausgenutzt wird. Doch Hilft man den Menschen, wenn man an allen Ecken und EnAnkommen braucht hier zu viel Zeit. den versucht, für sie alles zu organisieren, ihnen kostenlos Dinge besorgt und zur Verfügung stellt? Nein! Damit geben Die lange Versorgung vom Staat könnte auch als Hoff- wir ihnen ein völlig falsches Bild von unserem Land, von der nungszeichen auf eine sichere Anerkennung missverstan- Leistungsbereitschaft, die von jedem hier erwartet wird, den werden. Wie groß ist dann am Ende die Verzweiflung, damit der Topf der Solidargemeinschaft gefüllt bleibt für wenn doch eine Ablehnung kommt: Verlorene Lebenszeit, Menschen, die in einer schwierigen Situation sind. verlorenes Selbstvertrauen. Eine Zeitschleife, bei der es nicht darum geht, den einzelnen Menschen mit seinen Fä- Auch das hat etwas mit wirklichem Ankommen zu tun, dass higkeiten anzuschauen. Wir betrachten Zahlen und Her- man beiträgt, dass man zurück gibt an die Gesellschaft, die kunftsländer. Deutschkurse noch im Asylverfahren, also einen aufgenommen hat. Und viele wollen es auch, wenn die Abkürzung zum Neustart, werden nur finanziert für sie verstanden haben, wie hier alles tickt. Menschen aus Herkunftsländern ‚mit hoher Bleibeperspektive‘, wie es im Behördendeutsch heißt. Welche Grundla- Für sich selbst zu sorgen, so schnell und so gut man kann, gen berücksichtigen wir, um darüber zu befinden, welches dafür ist der sperrige Amtsbegriff ‚Mitwirkungspflicht‘ nur Land sicher ist? Und welche Informationen schließen wir bedingt geeignet. Warum nicht von der Wirtschaft lernen bewusst aus? Und selbst wenn wir es als ‚sicher‘ erklären: und ein Bonussystem entwickeln? Menschen, die zu uns Warum können wir auch den Menschen, die von dort kom- kommen, sollten von Anfang an Anreize und Angebote


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erhalten, in Arbeit zu kommen. Viele wären froh darüber, vermitteln, selbst wenn der Nettoverdienst manchmal denn Nichtstun belastet. Dazu gehört auch, dass es einen nicht soviel mehr ist als die gesamte Grundsicherung. spürbaren Unterschied geben muss, ob man arbeitet oder Wir müssen Menschen, die neu zu uns kommen, klar manicht! chen, wohin hier die Reise geht. Sie müssen es verstehen, „Wir schaffen das“ – JA, aber nur wenn sich etwas ändert. Da damit sie ihre Lebensplanung danach ausrichten können. mache ich mir als jemand, der sehr viel Zeit mit der Unter- Warum können wir nicht jedem, der nach Deutschland stützung von Geflüchteten verbringt und der andererseits kommt, eine menschenwürdige Unterkunft bieten, einen weiß, wie hier die Gesellschaft und Arbeitswelt ticken, so sofortigen Basissprachkurs und eine klar begrenzte Zeit, meine Gedanken. Ganz nüchtern. Mit Sorge. Anstelle Gel- um sich mit unserer Hilfe entweder gemeinnützig zu engader in aller Herren Länder zu schicken, anstatt sie dubiosen gieren oder einen (Einstiegs-)Job zu finden? Dazu weitere Staatschefs in die Hand zu drücken, um uns Geflüchtete Sprachkurse und nach und nach Aus- oder Weiterbildungsvom Leib zu halten, sollten wir in ein Update unserer Sys- möglichkeiten? Auch für die Fluchtverarbeitung und die teme und vor allem in Aufklärung investieren! Wir müssen Heilung von Verletzungen, die die Menschen mitbringen, weltweit vermitteln, ja, wir sind ein demokratisches und sind Beschäftigung, Struktur und Anerkennung doch viel auch ein reiches Land, wir sind bereit, Menschen aufzu- besser! Ich bin mir sicher, dass dieser Ansatz deutlich effinehmen, aber wir erwarten von ihnen Leistung, auch von zienter wäre. Geflüchteten, die Bereitschaft, zu lernen, zu arbeiten und Steuern zu zahlen – mit zu kochen am Suppentopf, damit Wir müssen Menschen, die sich integrieren und sich eine dieser gefüllt und unser Land das bleibt, was wir an ihm so bessere Zukunft erarbeiten wollen, effektiv und schnell schätzen! eine Chance geben und denen, die es nicht wollen, mit Konsequenz entgegentreten. Gut, dass wir einen Suppentopf Wir müssen Gelder für Sprachkurse, die nicht immer koor- haben; davon essen kann und darf jeder, der es braucht, dadiniert und qualitativ befriedigend sind, sinnvoll einsetzen ran mitkochen muss jeder, der es kann. So funktioniert das und Sprache nur von geprüften Fachleuten vermitteln las- hier. sen. Wir brauchen viele gute praxisbegleitende AbendkurPaula W. se für Menschen in Ausbildung, Praktikum oder im Job. ehren- & hauptamtliche Unterstützerin Wir müssen dringend die verbreitete Schwarzarbeit untervon Geflüchteten binden, wir müssen konsequent Menschen in Vollzeitarbeit

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„Neu in Deutschland“ - mit Gesicht und Namen „Hinter jeder Flucht steht eine Biografie und hinter jeder Zahl ein Mensch. Ein Mensch, der ein Gesicht und einen Namen hat, der für sich selbst sprechen kann und dessen Wünsche es wert sind, gehört zu werden.“

In ihrem Buch „Neu in Deutschland“* geht es den Auto- Seine Geschichte und die „Sieben Szenen der Integration“, ren genau darum: Die Anonymität des Sammelbergriffs in denen Caroline von Eichhorn Geflüchtete bei ihren ers‚Flüchtling‘ zu durchbrechen und zu zeigen, hier kommen ten Schritten in Deutschland begleitet, sind eingebettet Menschen zu uns mit ihrer individuellen Persönlichkeit und in Fotoreportagen, in denen unterschiedliche Menschen, Biographie, die eine eigene Stimme haben und eigene Vor- gerade angekommen im Winter 2015/16, also „neu in stellungen vom Leben. Den ‚Neuen‘ vom Winter 2015/16 Deutschland“, porträtiert werden. Viele von ihnen geben wird als Mutmacher eine erfolgreiche Integrationsge- in Kommentaren und Briefen auch ihre Gedanken, Gefühschichte gegenüber gestellt; Addis Mulugeta, der Chefre- le und Zukunftspläne preis, offen und direkt. Jeder dieser dakteur von Heimfocus, nimmt die Leser mit auf die Reise Menschen ist es wert, einzeln angeschaut und beachtet zu durch mehr als sieben Jahre seines Lebens in Deutschland. werden. Die Fotografen Johannes Arlt, Erol Giurian und Gordon Welters halten fest, was die Männer, Frauen und


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Kinder unmittelbar nach ihrer Ankunft bewegt und an- um weiter zu kommen - aber auch davon, wie man als 'Neutreibt. Es ist viel von Dankbarkeit und Wertschätzung für er‘ in Deutschland seine Begabungen und sein Können die erlebte Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit die Rede. einbringen kann, um hier Dinge zu bewegen und mitzugeFast immer geht es vor allem darum, endlich in Sicherheit stalten. und Stabilität anzukommen, um ein Leben in Würde mit einer guten Zukunft, Bildung für sich und die Kinder, um Ar- Jenen Geflüchteten, die erst mit der großen ‚Welle‘ 2015/16 beit. Manche benennen entwaffnend ehrlich Fluchtgründe, gekommen sind, begegnet die Autorin Caroline von Eichdie menschlich sehr nachvollziehbar sind, jedoch in keiner horn ganz unvermittelt am Weihnachtstisch ihrer Tante. Anhörung bestehen würden.Viele kommen mit ehrgeizigen Sie macht sich auf die Spurensuche nach Geflüchteten und Zielen, oft mit der Vorstellung, hier studieren zu wollen; an- Unterstützern. An sieben ‚Neuen in Deutschland‘ bleibt sie dere planen, so schnell wie möglich Arbeit zu finden, um nah dran und tritt zugleich einen Schritt zurück, um einzudie Familie zu unterstützen. fangen, wie vielschichtig doch dieses Thema ist. Es geht ihr nicht nur darum, was vor sich geht in den Köpfen und Hier blicken uns nicht ‚Flüchtlinge‘ ins Gesicht, sondern Vorstellungen, sie beschreibt auch die Hintergründe, inforMostafa, Zainab oder Adnan. Jede_r von ihnen möchte, miert über asylpolitische Abkommen, Gesetzen und Verdass wir ihn oder sie als das wahrnehmen, was sie sind: als fahren und die mühsamen, komplizierten Abläufen, die zu Individuen mit einer eigenen Geschichte, eigenen Plänen bewältigen sind. Und da ist noch mehr: „Diskussionen über und Zielen. Die Geschichten berühren; manche tun weh, Integration sind auch immer ein Spiegel der eigenen Wertbesonders die der Geflüchteten aus Afghanistan oder vom vorstellungen.“ Dem Leser bietet sich ein einfühlsamer Balkan: Wer von diesen neu Angekommenen, von denen biographischer Zugang zu den Menschen, die die Autorin manche hoffnungsfroh, andere bange in die Kamera bli- ein Stück weit begleitet hat. Es sind spannende, lebenscken und von ihren Plänen erzählen, ahnte damals, was nahe Geschichten, die nachdenklich machen und in denen unsere Einteilung in Länder mit hoher oder geringer Blei- sich man sich auch mit den eigenen Erfahrungen gut wiebeperspektive für die eigene Zukunft bedeuten würde? derfinden kann. Was ist mittlerweile wohl aus ihnen allen geworden, wo und wie leben sie heute? Diese Frage drängt sich auf, denn in den letzten 18 Monaten hat sich nicht nur unser Land von der Willkommenseuphorie schon lange entfernt, sondern auch die Geflüchteten wurden mittlerweile von der Mühsal des Ankommens eingeholt. Man schaut sich jedes einzelne Porträt an, liest die Geschichte dazu und möchte eigentlich gerne ihre Fortsetzung mitverfolgen. Wieviele von denen, die überhaupt bleiben dürfen, haben inzwischen ernüchtert erkannt, wie kompliziert und langwierig der Weg sein kann? Wieviel blieb wohl übrig von den überhöhten Vorstellungen von Deutschland, von ihren Erwartungen an die Zukunft? Diese werden in den Kommentaren oft verknüpft mit - aus der heutigen Perspektive - fast rührend naiv anmutenden, oft unrealistischen Vorstellungen von den eigenen Möglichkeiten hier. Was von diesen Vorstellungen und Plänen ist mittlerweile wahr geworden oder kann es überhaupt werden?

Viele der porträtierten Geflüchteten machen schon bei ihrer Ankunft deutlich, wie wichtig es ihnen ist, hier wirklich anzukommen und ihren Beitrag zu leisten. „Ich möchte Deutschland all das zurückgeben, was die Menschen uns hier gegeben haben: Liebe, Wärme und Sicherheit. Und dafür muss ich mich sehr anstrengen“, so der junge Adnan aus Syrien. Und zwei iranische Brüder sind fest entschlossen: „Wir wollen den deutschen mit starkem Willen beweisen, dass sie keine negative Meinung über uns zu haben brauchen. In naher Zukunft werden wir das negative Bild über uns ändern, indem wir Leistung erbringen.“

Die so unterschiedlichen Menschen, denen man in diesem lesenswerten Buch begegnet, haben uns etwas zu sagen, über sich und über uns, über das, was ihnen und vielleicht uns allen wichtig ist. Ein Jeder von ihnen kann für sich selbst sprechen und ist es wert, gesehen und gehört zu werden. Saleh aus Eritrea, der als Erster vorgestellt wird, fasst das Wesentliche in einem einzigen, schlichten Satz zusammen: Nicht jede Geschichte wird wohl so verlaufen wie die von „Ich, Saleh, wünsche mir wie jeder andere ein friedliches LeAddis Mulugeta, der als Geflüchteter vor mehr als sieben ben in diesem friedlichen Land zu führen.“ Jahren nach Deutschland kam: in seinem autobiographischen Text erinnert er sich an die ersten verstörenden Monaten hier, an den Absturz von einer erfolgreichen beEva Peteler ruflichen Karriere in der Heimat in die Anonymität, Ohmacht und Sprachlosigkeit eines ‚Flüchtlings‘. Er beschreibt, wie ihn sein Weg in Deutschland mit viel Eigeninitiative, Unterstützung und auch einer guten Portion Glück Schritt für Schritt *Herausgeber: wirklich gut und erfolgreich ankommen ließ. Es ist eine Bundeszentrale für Politische Bildung Mutmachgeschichte, die so sicherlich nicht jedem gelingen Schriftenreihe Band 1795 wird, aber ähnlich gelingen kann. Es ist eine Geschichte, die ISBN 978-3-8389-0795-6 noch viel mehr erzählt: Vom unschätzbaren Wert der Bildung, die einem das Ankommen in einem neuen Land erleichtert, von neuen Begegnungen und Unterstützern, von dem Willen und der eigenen Anstrengung, die es braucht,


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Es müsste halt mal einer machen: Im Land der „Da-sind-wir-nicht-zuständig“

Sie geht mit dem gesunden Menschenverstand und dem wachen Blick einer Journalistin ran, stellt die richtigen Fragen und gibt sich mit den Antworten nicht zufrieden. Und man kommt ins Grübeln: Wieso sie? Wieso nicht endlich die politischen Entscheidungsträger und die Verantwortlichen in Behörden und Verwaltungen, die Abläufe abstimmen, entrümpeln und beschleunigen müssten, damit es was wird mit der Arbeitsmarktintegration? Man könnte ja auch die Kritik und die pragmatischen Anregungen von Ehrenamtlichen aufgreifen und mit diesen einen konstruktiven Dialog aufnehmen. Aber nein, es muss Frau Rita KnobelUlrich von ZDF-zoom sein, die beobachtet, verstehen will, hartnäckig nachfragt und, ja, für die so offensichtlichen Defizite im Behördenwirrwarr selbst die naheliegenden Lösungsvorschläge formuliert – wider das hier vorgeführte „Da-sind-wir-nicht-zuständig“ quer durch die Behörden. Dort werden die Defizite in Kooperation und politischer Ausgestaltung von Mitarbeitern sehr wohl benannt und bedauert, doch danach kommt als Konsequenz das große Gaga: ein Nichts. „Bürokratie statt Integration“ (https://www.zdf.de/dokumentation/zdfzoom/zdfzoom-buerokratie-statt-integration-100.html) heißt die Doku über die Niederungen der behördlichen Integrationsbremsen. Es kommt einem so vor, als ob im großen Sandkasten viele an einer Sandburg bauen, ohne sich abzustimmen, ohne das große Ganze als gemeinsames Projekt zu gestalten. Jedem sein Schäufelchen und seine Ecke, so wird das nichts. 28 Minuten „Bürokratie statt Integration“ klagen nicht die einzelnen Mitarbeiter in

den Behörden an, sondern sie legen woanders den Finger in die Wunde: Jeder buddelt in seiner Ecke und darüber schwebt die Wolke: Das müsste anders laufen, das müsste halt mal Einer machen… Dort bei den ‚Einen‘ sollte der Beitrag in Dauerschleife laufen. Ein syrischer Zahnarzt arbeitet in der Schulküche - so fängt der aktuelle Einblick in das behördendeutsche Absurdistan in Sachen Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten an. Vernetzung und Synergien von Behörden, zügige Zeitschienen für Sprache und Aktivierung – immer noch zu oft Fehlanzeige, belegt mit eindrucksvollen Beispielen. „Wir müssen entbürokratisieren, wir müssen zu schnelleren und effizienteren Entscheidungen kommen“, so ein Oberarzt, der seinen erfahrenen syrischen Kollegen nach überzeugender Leistung bei der Hospitation im Krankenhaus gerne sofort behalten hätte. Stattdessen ist dieser wieder auf Hartz-IV und drückt die Schulbank in einer anderen Stadt, gemeinsam mit weiteren Kollegen, denen die Kursleiterin nun erklärt, was eine Anamnese sei. Wie, ich habe doch 18 Jahre in Syrien in der Orthopädie gearbeitet, kann der Eine die Welt nicht mehr verstehen und ein anderer erzählt, er hätte in Syrien 15 Jahre lang seine Privatklinik geführt. Ein Dritter blickt auf 11 Jahre Erfahrung als Orthopäde und Unfallchirurg zurück und wirft in fließendem Deutsch entgeistert ein: „Wir können etwas machen; auf der einen Seite können wir helfen und auf der anderen Seite etwas verdienen für unsere Familien und auch nicht immer das Jobcenter belasten!“ Das Gesundheitsministerium Schleswig-Holstein verlangt auch von erfahrenen ausländischen


06 / 2017 Ärzten das Dritte Staatsexamen, heißt es im Beitrag. Warum aber kann man das Verfahren nicht gezielt anpassen und verkürzen? Warum muss da ein Facharzt wieder in der Breite medizinischer Basisqualifizierung landen, die für seine berufliche Tätigkeit völlig irrelevant ist? Dass die zuständige Ärztekammer Prüfungstermine erst wieder in einem Jahr anbiete, darauf habe das Ministerium übrigens keinen Einfluss. Ga Ga Land.

35 sondern braucht nach dem Willen der Zuständigen die komplette Ausbildung. Alles ein Tribut an die reine Lehre der Berufsordnungen und Verfahren. Flexibilität eines Betonpfeilers, geht es da einem durch den Kopf. Das soll es also sein, so soll also die Integration in den Arbeitsmarkt gelingen, fast zwei Jahre nach dem ‚Sommer 2015‘? Die 28 Filmminuten stellen kritische Anfragen an unsere Behörden und Institutionen, nicht an die Geflüchteten!

„Bürokratie statt Integration“ - diese Einblicke in die bun- „In 16 Bundesländern gibt es Handwerkskammern, Berufsdesdeutsche Integrations-Landschaft anno 2017 lassen für verbände, Innungen, das heißt, 16 unterschiedliche Anerdas politischen Cabaret eigentlich keine Wünsche offen. kennungsverfahren“, stellt die Journalistin fest. Und sie Auf dieser Baustelle und auch auf etlichen anderen wünsch- fragt: „Wer ist überhaupt wann für was zuständig?“ Das ist te man sich die politische Inbrunst, mit der nun wieder der rote Faden, der sich durch die ganze Doku zieht. Nein, einmal die auf Unterweisung von Zuwanderern verengte bei der Asylantragsstellung ist nicht vorgesehen, dass im Leitkultur-Schublade aufgetan wird - mit einem seltsamen BAMF auch Mitarbeiter der Bundesanstalt für Arbeit sitzen Potpourri vom angeblich obligatorischen Händedruck über und gleich die Qualifikationen und praktischen Kompetenden wie-auch-immer-definierten Kitt der Gesellschaft bis zen des Antragssteller abfragen und sinnvoll verwerten. zum sakrosankten Bekenntnis zur NATO.¹ Nein, im Asylverfahren, ganz gleich, ob es Monate oder Jahre dauert, muss man nicht die Arbeitsvermittlung der Diese Thesen unseres Innenministers zur Leitkultur sind Bundesagentur für Arbeit aufsuchen, man kann. Und nein, verengt und gezielt an die für ihn offensichtlich defizitären die in der Doku befragte Mitarbeiterin der Bundesagentur Nicht-Deutschen adressiert: „Ist das ein Bildungskanon, für Arbeit geht in der Unterkunft, in der sie eingesetzt ist, den alle wissen und lernen müssen, z.B. in den 100 Stun- nicht um die Ecke zum Speisesaal und spricht die Menden der Orientierung in unserem Integrationskurs? Schön schen dort gezielt auf ihr Angebot hin an, sondern sitzt in wär‘s.“¹ Für dieses selektive Menschenbild und die impli- ihrem Büro und wartet, ob einer kommt oder eben nicht. zierten Unterstellungen haben wir eigentlich eine ziemlich „Aufsuchen ist nicht vorgesehen“… Das ist es eben: Starre, drastische Umschreibung, die der Minister entrüstet von nicht abgestimmte und zu langsame Abläufe, jeder schön sich weisen würde. in seinem Revier. Ein Erfahrungsaustausch zwischen den verschiedenen Ebenen in Verwaltung und Politik, sollte er Doch wenden wir uns der dritten Leitkultur-These von denn stattfinden, bewegt und bewirkt offensichtlich nicht Herrn Dr. de Maizière zu, in der es heißt: „Wir fordern viel. Defizite und Missstände bleiben, die Doku zeigt auf, Leistung. Leistung und Qualität bringen Wohlstand.“¹ Ob dass offenbar nach wie die Einsicht und der Wille fehlen, dieser Belehrung wird der besagte syrische Facharzt seine Abläufe zu verschlanken und zu flexibilisieren, zu beschleuAugenbrauen aber hochziehen. Oder die syrische Hebam- nigen und und zusammenzuführen. Stehen uns da wieder me aus der Doku, die nach 18 Jahren Berufstätigkeit mit einmal die ‚Zuständigkeiten‘ und die Angst davor, Kompehunderten von Geburten und bester Beurteilung durch ihre tenzen abzugeben, im Wege? Und die unzeitgemäße StarFachkolleginnen im deutsche Krankenhaus kaum Chancen re und Besitzstandwahrung des Föderalismus in Bereichen, auf eine Berufserlaubnis hat, es sei denn, sie trennt sich als in denen bundeseinheitliche Regelungen längst überfällig Alleinerziehende von ihren Kindern und verbringt 17 Mo- sind? nate in einer weit entfernten Qualifizierungsmaßnahme. Oder der erfahrene syrische Herrenfriseur mit perfektem Auch im dritten Jahr des Flüchtlingszustroms sitzen die Können, der nur einen ergänzenden Kurzlehrgang in Theo- Menschen immer noch monatelang in Unterkünften, ohne rie bräuchte, stattdessen aber die ganze Ausbildung noch dass sie gefördert oder gefordert werden. Erst nach der Aneinmal machen soll: Haare waschen, Schnitthaar zusam- erkennung ihres Asylantrags, die viele Monate dauern kann, menkehren – wie ein Erwachsener, den man noch einmal fragen Jobcenter nach Beruf und Ausbildung und werden in den Hochstuhl presst und ihm beibringen will, wie man Deutschkurse verpflichtend, so der Beitrag. „Der Flüchtmit dem Löffel isst. „Es ist egal, ob man Erfahrung hat oder ling wird zu nichts verpflichtet bis zu dem Zeitpunkt, wo er nicht“, so sein vernichtendes Fazit. anerkannt ist, und das kann unter Umständen Monate und Jahre dauern“, wendet die Journalistin in der Zentrale der Auch der Frust bei interessierten Arbeitgebern sitzt tief. BA in Nürnberg ein. „Unser Angebot ist immer freiwillig“, Ein Optikermeister zeigt im Beitrag eine dicke Akte mit so der Pressesprecher der Bundesagentur. „Es muss sich ja Amtskorrespondenz in die Kamera: Ausländerbehörde, niemand bei uns arbeitssuchend melden. Wir leisten Hilfe Jobcenter, Handwerkskammer, Innung und wieder von in allen Fällen, nur wenn es jemand nicht machen möchte, vorn. All das, weil er einen Optiker aus Syrien unbedingt als wir können niemanden zwingen.“ anerkannten Fachmann braucht und beschäftigen will. Ein von seinem deutschen Chef ob seiner hohen Professionali- Sprachkurse, gemeinnützige Arbeit und Berufsorientietät geschätzter Koch mit mehr als zehnjähriger Berufser- rung verpflichtend und von Anfang an, das kommt im Beifahrung soll nicht einfach einen einjährigen theoretischen trag als deutliche Forderung aus der Praxis in Kommune Aufbaukurs mit anschließender Prüfung machen dürfen, und Landkreis. Es könne nicht sein, dass Asylbewerber, die


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36 mehr wollen als essen, schlafen und warten, immer noch ausgebremst werden, weil Behörden, Berufsverbände, Handwerkskammern, Innungen in eingefahrenen Gleisen verharren, monatelang Zeugnisse prüfen und die Anerkennung von Qualifikation und Kompetenz behindern, so das vernichtende Fazit der Doku.

nigen, was im Prozess der Integration zusammengehört und abgestimmt sein muss, damit diese gelingt? Hürden statt Hilfe für Integrationswillige, die selbst für sich sorgen wollen, so das Resumee der Journalistin. „Die Behörden stimmen sich nach wie vor nicht ab. Es gibt keine Informationsaustauschpflichten zwischen den Behörden. Und das ist das größte Integrationshemmnis. So wird es nicht gelingen, Flüchtlinge zu Mitbürgern zu machen. Wir brauchen weniger bürokratische Hürden, so schaffen wir es bestimmt nicht!“

Bundesamt, Bundesagentur, Ausländerbehörde, Jobcenter etc. – der Kompetenzwirrwarr und Verschiebebahnhof an Zuständigkeiten, Monate oder gar Jahre in Wartestellung und Gewöhnung an soziale Sicherung – all das verweist direkt auf die Politik: Können hier unterschiedliche und komplizierte Zuständigkeiten in Bund und Ländern weiter die Es liegt auf dem Tisch, was angepackt und geändert werrichtige Antwort sein, um endlich professionell und konzer- den muss - sowohl in Verantwortung für Diejenigen, die tiert zu handeln? Braucht es nicht längst andere Antworten wollen und kämpfen und ausgebremst werden als auch für in einem modernen Einwanderungs- und Ankunftsland vie- Solche, die wenig Eigeninitiative und Interesse an (Arbeitsler Zuwanderer und Geflüchteter? Braucht es nicht längst markt-)Integration zeigen. Den Ball halten hier zunächst in Bund und jedem Bundesland eine dynamische Integra- die politischen Entscheider in der Hand, nicht die Geselltionsstelle mit weitreichenden, ressort-übergreifenden schaft, nicht die Geflüchteten. Kompetenzen und dem klaren Auftrag, in einer Hand zu bündeln, zu koordinieren, zu verschlanken und zu beschleuEva Peteler

Hürden und Chancen

bei der Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt Am 22.11.2016 präsentierte die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) ein Gutachten zur Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen.² In einem Interview ³ erläutert der Autor, Prof. Dr. Matthias Knuth, einzelne Punkte : Neben den drei Hürden Sprache, Bildung und berufliche Qualifikation und Umgang mit Institutionen, die Prof. Knuth anführt, gibt er weiter zu bedenken: „Die Selbstverständlichkeit, mit der deutsche Standards und Strukturen der Vergangenheit die Zielrichtung der Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt von morgen bestimmen, könnte sich zur vierten Hürde entwickeln.“

der Spracherwerb realistisch nur integriert in eine Ausbildung möglich.“

Prof. Knuth bemängelt die „ extreme institutionelle Zerklüftung, von der Flüchtlinge bei ihrem Bemühen um Aufenthaltsstatus und Arbeitsmarktzugang betroffen sind“. Dabei steigerten manche vermeintlichen Angebote und Ausnahmeregelungen noch die Unübersichtlichkeit. Das Er weist auf die unterschiedlichen Erwartungshaltungen Problem bestehe vor allem darin, „dass die Flüchtlinge hin: Unsere Arbeitsmarktpolitik sei darauf aus, den Mangel keine für sie vertrauenswürdigen Ansprechpartner_innen an einheimischen Azubis durch Geflüchtete auszugleichen. haben, die dieses System in seiner Gesamtheit verstehen Dies entspräche jedoch nicht den mitgebrachten Erfahrun- und erklären können. Die ehrenamtlichen Helfer_innen gen und Erwartungen der Geflüchteten. Die eine Hürde sei kennen aus ihrem eigenen Lebensweg immer nur einen hier die Vermittlung der Struktur und der Stärken unseres Ausschnitt, und ihre Erfahrungen beziehen sich auf eine „dualen Ausbildungssystems“, die andere sei der praxis- im Durchschnitt länger zurückliegende Vergangenheit. Die ferne Spracherwerb: „Dass 90 Prozent der Flüchtlinge bei professionellen Helfer_innen in den Behörden sehen die Ankunft in Deutschland über keinerlei Deutschkenntnisse Welt oft allein aus dem Gehäuse ihrer Institution. Und die verfügen, kann nicht wirklich überraschen. Das ist auch kei- bestehenden unabhängigen professionellen Beratungsanne neue Erfahrung mit Migrant_innen. Aber Sprache wird gebote sind 70% der Flüchtlinge vollständig unbekannt.“ derzeit zur Hürde gemacht, indem sie zur Voraussetzung für alles andere erklärt wird. Vielfach wird erwartet, dass Ein hohes Risiko für künftigen Probleme und Verschärfundie Flüchtlinge in Klassenraumsituationen unter Ihresglei- gen sieht Prof. Knuth in unserer sich rasant verändernden chen und ohne weiteren Kontakt mit Deutsch Sprechenden Arbeitswelt und er mahnt eine guten Schulbildung der das Sprachniveau B1 erreichen müssen, bevor sie auch nur zweiten und dritten Generation an: „Der Anteil von Erals Praktikanten ein Werkstor passieren dürfen. Dabei ist werbspersonen ohne berufliche Qualifikation vergrößert


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sich, während der Anteil der Arbeitsplätze ohne eine solche gagement in Enttäuschung umgeschlagen ist. Außerdem Anforderung weiter abnimmt. Aber überraschende 95% könnte die wirtschaftliche Situation dann eine andere sein der Flüchtlinge wollen für immer in Deutschland bleiben, als heute.“ und sie bringen Kinder mit und werden hier Kinder bekommen. Unter der Voraussetzung, dass eine gleichwertige In- Sein Fazit ist richtungsweisend und bestätigt die Wahrnehtegration dieser Kinder in Bildung und Ausbildung gelingt, mung und Kritik vieler ehrenamtlicher Unterstützer von werden diese durchaus zur Milderung von Fachkräfteeng- Geflüchteten: „Die Instrumente sind ausreichend, unzureipässen beitragen. Es stellt sich dann aber die Frage, wie chend ist allerdings das Denken in Instrumenten. Dringenauch solche Eltern, die nicht in unsere Erwerbsstrukturen der als einzelne Maßnahmen brauchen die Flüchtlinge eine passen, in Selbstverantwortung und Würde als Vorbilder für sie verständliche, verlässliche, vertrauenswürdige und ihrer Kinder hier leben können. Dazu müssen wir uns noch über längere Zeiträume verfügbare Struktur der Unteretwas einfallen lassen, was wir uns im Hinblick auf ansässi- stützung und Beratung, die sie eigenständig, nach Bedarf ge Langzeit-Leistungsbezieher längst schon hätten einfal- und unabhängig vom Leistungsbezug nutzen können. Die len lassen müssen.“ Jobcenter bieten sich an, können aber längerfristig nicht unabhängig vom Leistungsbezug helfen. Zudem ist das Prof.Knuth geht auf das große Engagement der Unter- strukturelle Sozialisationspotenzial der Jobcenter mehr auf nehmen ein und warnt davor, dass Türen durch die büro- die Anpassung an den Langzeit-Leistungsbezug als auf den kratischen Hürden und Versäumnisse zuschlagen könnten: Aufstieg im Arbeitsmarkt gerichtet.“ „Dieses Engagement wird durch unrealistische und kurzEva Peteler fristige Erwartungen frustriert. Es ist zu befürchten, dass dann, wenn tatsächlich ausbildungs- und einstellungsreife Flüchtlinge in größerer Zahl zur Verfügung stehen, das En¹ http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Interviews/DE/2017/05/namensartikel-bild.html ²https://www.fes.de/de/themenportal-flucht-migration-integration/leitbild-miteinander-in-vielfalt/koenigsweg-oder-abstellgleis-gutachten-zum-arbeitsmarktzugang-fuer-gefluechtete/ ³ http://library.fes.de/pdf-files/wiso/12914.pdf


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Auf Wiedersehen, Europa! War schön mit Dir. Immer mehr afrikanische Migranten kehren in ihre Heimat zurück, um ihr Land aufzubauen. Die Rückkehrer sind nicht nur die treibende Kraft hinter vielen Investitionen, sondern auch im politischen Leben allgegenwärtig.

Wenn dieser Tage in Deutschland über Migration gesprochen wird, ist damit fast immer die Wanderung aus anderen Teilen der Welt nach Europa gemeint, derzeit vor allem aus Afrika und dem Nahen Osten.

afrikanische Rückkehrer sie seit der Gründung ihrer Firma vermittelt hat, und wie viele Expats. Jedenfalls habe sie aber in den vergangenen Monaten rund 20 Führungskräfte auf neue Spitzenpositionen in Kenia gebracht. Angesichts des schmalen Marktsegments von Arbeitskräften in Managementpositionen findet es Samanani berechtigt, von einer „Bewegung“ zurück nach Süden zu sprechen. Zumal sie nur eine Agentur von mehreren sei und die meisten Rückkehrer keine Jobvermittlung in Anspruch nehmen, sondern sich selbst eine neue Aufgabe suchen.

Neben der Bewegung Richtung Norden gibt es aber auch die gen Süden. Und zwar nicht nur die durch Abschiebungen erzwungene oder die durch Entwicklungsgelder motivierte Bewegung, sondern auch den gewollten Umzug von Afrikanern aus den reichen Ländern des Nordens in die chancenreichen Länder des Südens wie Äthiopien, Ruanda, Ghana, Nigeria oder Südafrika. Inzwischen nehmen Samanani ist Teil dieser Bewegung. Sie verließ Kenia im nämlich viele Afrikaner die Heimat als eine Region wahr, Alter von 15 Jahren, ermutigt von ihren Eltern und neudie persönliche Entwicklungsmöglichkeiten bietet, weil sie gierig auf die Welt hinter dem Horizont. In ihrem Fall war wirtschaftlich und gesellschaftlich im Aufbruch ist. Rich- die Entdeckung des Anderswo einfach, weil ein Teil ihrer tung Norden gezogen sind die heutigen Rückkehrer einst erweiterten Verwandtschaft in Großbritannien und in Kaentweder auf der Flucht vor einem Krieg oder um im Aus- nada lebt. Ein weit verzweigtes Familiennetz ist – nicht land zu studieren, berufliche und Lebenserfahrung zu sam- zuletzt wegen der schon seit Jahrzehnten währenden Momeln, Geld zu verdienen. bilität vieler Afrikaner – unter Kenianern und überhaupt auf dem Kontinent nichts Ungewöhnliches. Mit dem Umzug „Join the movement“ heißt das Motto, mit dem die Keniane- nach Großbritannien im Teenageralter legte Samanani den rin Farah Samanani andere Kenianer im Ausland ermutigen Grundstock für eine berufliche und private Weltläufigkeit, will, nach Hause zurückzukehren – womit sie nebenbei Geld die mittlerweile viele Afrikaner auszeichnet. Sie lernte, lebzu verdienen hofft, denn Samanani gründete in der kenia- te und arbeitete rund 20 Jahre in Großbritannien, Kanada, nischen Hauptstadt Nairobi 2013 die Personalvermittlung den USA, Dubai und Indien, ehe sie 2007 nach Kenia zu„Kenyans come home“. In einigen anderen afrikanischen rückkehrte. Die Gründe für ihre Entscheidung zur Rückkehr Ländern gibt es ähnliche Agenturen. In Samananis Kar- seien dieselben gewesen, die ihre Kunden ebenfalls nennen tei stehen hochqualifizierte Arbeitnehmer, darunter viele würden: Erstens das Bedürfnis, sich wieder „zu Hause“ zu Führungskräfte, die neue Führungsaufgaben suchen. Sie fühlen und im vertrauten kulturellen Umfeld zu leben. Sahaben in den USA, Kanada, Großbritannien und anderen manani beispielsweise fand es damals an der Zeit, eine eieuropäischen Ländern, in Dubai oder afrikanischen Staaten gene Familie zu gründen und wollte ihren Kindern deren gearbeitet. Die meisten haben laut Samanani ein bis zwei Großeltern nicht vorenthalten. Zweitens der Wunsch, beim Studienabschlüsse und mehrere Jahre Berufserfahrung, afrikanischen Aufbruch dabei zu sein: viele Afrikaner finwobei ihr Karriereweg beständig nach oben führte. den das beachtliche wirtschaftliche Wachstum in einigen afrikanischen Ländern verlockend. Drittens das Gefühl, in Die meisten von Samananis Kunden sind Kenianer, aber es einer sich entwickelnden Gesellschaft viel mehr bewirken sind auch einige „Expats“ darunter: internationale Exper- und viel „nützlicher“ sein zu können, als in den gesättigten ten, die den kenianischen und ostafrikanischen Markt so Märkten des Nordens. attraktiv finden, dass sie hier aktiv auf Arbeitssuche sind. In ihrer Statistik vermerkt Samanani Hautfarbe oder Na- Dieses Bedürfnis spielte auch für Samanani eine wichtige tionalität nicht, so dass sie nicht beziffern kann, wie viele Rolle. Sie hat einen MBA und arbeitete vor ihrem Umzug


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06 / 2017 nach Kenia in Boston für eine Consultingfirma, die Institutionen im Gesundheitswesen beriet. Während sie nach ihrer Darstellung in Boston schon Erfolge feierten, wenn ein Krankenhaus ein halbes Prozent mehr Gewinn erwirtschaftete, lockte in Kenia der Auftrag, das komplette Gesundheitswesen neu zu strukturieren. Sie nahm die Herausforderung gerne an und war einige Jahre lang von ihrer neuen Aufgabe fasziniert. 2013 gründete sie schließlich ihr eigenes Unternehmen, „Kenyans Come Home“.

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Samananis Biographie ist deshalb so interessant, weil sie nicht nur von einer beeindruckenden Persönlichkeit zeugt, sondern Beispiel ist für einen Trend, der im Westen noch kaum bemerkt wird. Dabei wäre es wichtig, diesen Trend zur Kenntnis zu nehmen. Nicht zuletzt weil er hel- © thinkgeoenergy.com fen könnte, die verbreitete Panik angesichts des Zuzugs so vieler Migranten zu dämpfen: Sehr viele von ihnen gehen auch wieder zurück, um in ihren Herkunftsländern etwas aufzubauen und Chancen auch für diejenigen zu schaffen, die selbst nicht im Ausland lernen und leben können. Bis zu ihrer Rückkehr vergehen vielleicht ein paar Jahrzehnte, aber dazu sagt beispielsweise Samanani: Sie habe keinem der Staaten, in denen sie bis dahin lebte, auf der Tasche gelegen, sondern im Gegenteil überall eine Menge Steuern gezahlt. Der Wunsch, für ihre Gesellschaft oder ihre Heimat nützlich zu sein, ist bei vielen erfolgreichen Afrikanern auffallend ausgeprägt. Nicht zuletzt deshalb kehren viele sogar in Länder zurück, die noch längst keine Erfolgsgeschichte geschrieben haben, sondern weiterhin hoch problematisch sind – zum Beispiel Somalia. Dort bekämpft die islamistische Shabaab-Miliz die Regierung und alles, was in ihren Augen unislamisch ist. Bei ihren regelmäßigen Anschlägen beladen die Terroristen mittlerweile nicht nur Autos, sondern auch Lastwagen mit Sprengstoff. Die lassen sie vor Hotels oder an anderen öffentlichen Plätzen explodieren– mit verheerenden Folgen und oft Dutzenden Toten.

kann. Viele von denen, die dort heute Unternehmen gründen und damit Arbeitsplätze schaffen, als Ärzte arbeiten oder auf andere Weise am Wiederaufbau ihrer Gesellschaft arbeiten, haben ihre Ausbildung als Flüchtlinge in Europa oder anderen entwickelten Regionen erhalten. Denn die staatlichen Strukturen in ihrer Heimat waren ein Viertel Jahrhundert lang kollabiert und werden gerade erst mühsam wieder neu geschaffen – mit Hilfe der Vereinten Nationen, der Afrikanischen und der Europäischen Union sowie mit Hilfe privater Initiativen und Investoren. Die Rückkehrer müssen viel Mut aufbringen, denn das Leben in Somalia ist immer noch höchst gefährlich. Und jede Investition ist ausgesprochen riskant, schon morgen kann eine LKW-Bombe alles vernichtet haben. Europäern wäre geholfen, wenn sie angesichts solcher Biographien selbst mehr Mut fassen und gelassener würden im Umgang mit denen, die zu uns kommen. Wir sind hier nicht das Paradies und nicht jeder will auf immer bleiben. Die meisten haben irgendwo einen Ort, an den sie lieber heute als morgen zurückkehren möchten. Aber sie wollen etwas mitbringen können, Geld oder Wissen oder beides. So lange sie bei uns sind, können wir auch von ihnen lernen. Zum Beispiel Mut: den Mut zum Aufbruch, den Mut zur Rückkehr, den Mut etwas Neues zu wagen. Bettina Rühl

Aber Hunderte oder sogar Tausende Rückkehrer aus aller Foto: ©Bettina Rühl : Die Rückkehrer sind es, die dem kriegszerstörten Somalia Welt lassen sich davon nicht abschrecken. In den Straßen neue Hoffnung geben. der somalischen Hauptstadt Mogadischu wird Englisch mit den unterschiedlichsten Akzenten gesprochen. Die genaue Zahl derer, die einen Neuanfang in der alten Heimat wagen, kennt niemand. Die schwache somalische Regierung zuerst erschienen im IPG-Journal unter hat andere Sorgen als die Statistik. Vor Ort ist die Rolle http://www.ipg-journal.de/regionen/afrika/artikel/detail/auf-wieder Rückkehrer jedoch kaum zu übersehen. Sie sind nicht dersehen-europa-war-schoen-mit-dir-1951/ nur die treibende Kraft hinter vielen Investitionen, sondern auch im politischen Leben allgegenwärtig. Sie sind Wir danken für die Abdruckgenehmigung! es, die dem kriegszerstörten Land neue Hoffnung geben – sofern man von Hoffnung für Somalia überhaupt reden


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So könnte es gehen! Aber dann die deutsche TK-Pizza in Nairobi

Jede Zeit braucht ihre Mutmacher und Wegbereiter. Wir einen ungeahnten Entwicklungsschub an Innovationen wissen, dass wir in vielen Fragen von lokaler und globaler durch gut ausgebildete einheimische Informatiker und UnTragweite an einem Scheideweg stehen. Mit dem, was wir ternehmer ausgelöst. So organisieren sich über den Serheute tun, hinnehmen oder unterlassen, übernehmen wir vice m-farm Kleinbauern, tauschen sich über Saatgut und Verantwortung für die Lebensgrundlagen und -umstände Vertrieb aus, fragen Tagespreise für ihre Produkte ab und unserer Kinder und Enkel und auch der Kinder und Enkel vermarkten diese selbst. Das Gesundheitsprogramm Leap anderswo. Migration wird dabei für lange Zeit ein großes mit lokalen medizinischen HelferInnen entwickelt und orThema bleiben: Viele Menschen treibt heute schon der ganisiert übers Handy die Gesundheitsversorgung im HinTeufelskreis aus mangelnden Perspektiven, bewaffneten terland; die geschulten MitarbeiterInnen klären auch über Konflikten, Staatsversagen, Ausbeutung und sozialen wie Gesundheitsvorsorge, Familienplanung und Hygiene auf. ökologischen Folgen der Überbevölkerung und des Klima- Über m-kopa können sich Menschen auf dem Land mit einwandels außer Landes. Irgendwann drängt es sie weiter fachen Solarpaketen Stromversorgung und Licht ins Haus nach Norden, in die Fremde, in der ein würdiges, auskömm- holen. Die kommerzielle Lern-App enesa bringt einen Billiches Leben vermutet wird. Es liegt auf der Hand, das wird dungssprung selbst in abgelegene Gegenden – für 5€ pro auf die Dauer so nicht gut gehen. Für sie nicht und für uns Jahr. Selbst arme Eltern bringen den Betrag auf, weil sie auch nicht. Nicht auf einem Kontinent, auf dem der Inte- erkennen, welchen Mehrwert diese Unterstützung für ihre grationswille und die Integrationsmöglichkeiten in den Ar- Kinder hat. beitsmarkt begrenzt sind. Die IT-Entwickler wollen Geld verdienen, aber sie verbinDieses Frühjahr zeigt es deutlich: Der Migrationsdruck jun- den ihre Geschäftsinteressen mit gesellschaftlichen Frager Menschen aus Afrika nimmt zu, sie machen die Mehr- gen, die ihr Land voranbringen können, so heißt es in der zahl Derjenigen aus, die der Hölle von Libyen entkommen Doku. Das iHub in Nairobi und andere Ideenschmieden im sind in Richtung Italien und Malta. Dort bleiben wollen sicher- „Silicon Savannah“ entwickeln und fördern solche Start-ups, lich die Wenigsten, was sollen sie dort auch? Die ‚Fluchtur- suchen Investoren und neue Geschäftsfelder. Die jungen sachen‘ in Afrika zu bekämpfen steht bei der EU- und der Entwickler beschleunigen viele Prozesse in der Geselldeutschen Politik ganz oben auf der Agenda. Mit zweifel- schaft von unten. So könnte es klappen mit dem Weg in haften Strategien und Abkommen vermeidet sie dabei je- eine Zukunft, der für viele Perspektiven schafft. Es wäre den Verdacht, FluchtURSACHEN entgegenzuwirken und ein möglicher Ansatz neben vielen anderen und auch für sich den Menschenrechten und einer globalen Gerechtig- Diejenigen vielleicht ein Stück Hoffnung, die sich bisher auf keit verpflichtet zu fühlen. den Weg nach Norden machen (müssen). Warum geht man nicht hin, sammelt, was sich in Kenia wie auch in anderen Andererseits, zum Beispiel so könnte es in der Tat gehen, nicht afrikanischen Ländern wie Ghana, Ruanda oder Botswana nur in Kenia, sondern auch anderswo in Afrika: In dem Bei- schon an guten eigenen Strategien und Geschäftsideen trag „Smart Africa – Geschichten aus Silicon Savannah“ ¹, bewährt hat, um es anderen als Anregung für einen eigein der ZDF-Mediathek verfügbar bis 17.02.2018, geht es nen Weg zur Verfügung zu stellen? Warum investieren wir eben nicht darum, ‚Fluchtursachen‘ zu bekämpfen, und unsere ‚Entwicklungs‘gelder nicht gezielt in solche einheischon gar nicht mit Rezepten von außen. Hier geht es auch mischen Ideen und Projekte, selbst wenn die Interessen unnicht um Empathie, oder ‚Hilfe‘, sondern da wollen clevere serer eigenen Wirtschaft und der Kapitaleigner dabei nicht junge Afrikaner schlicht ihr Business machen und haben da- primär bedient werden? bei einen Mehrwert für ihr Land im Hinterkopf. Hilfsempfänger werden zu Kunden. Mobilität und Dienstleistungen Soweit kommt‘s noch! Willkommen beim viel beworbenen werden revolutioniert. Mit dem Boom an Internet-basier- bundesdeutschen ‚Marshallplan für Afrika‘: Mit zwei Milten Geschäftsideen werden informelle Arbeitsverhältnisse lionen Euro fördert das BMZ³ beispielsweise das Unterzu formellen umgewandelt mit einem sicheren Einkommen nehmen eines Deutschen (!), der containerweise deutsche für Familien. Von einfachen Landsleuten wie Bauarbeitern (!) Tiefkühl(!)-Produkte wie Dr. Oetker-Pizza, Beerenmiund Bauern bis zum Lehrer und Kleinunternehmer haben schungen und Torten nach Nairobi bringt und damit die plötzlich viele neue Möglichkeiten und nutzen sie auch. hippe kenianische Oberschicht bedient. Dreißig (!) Einheimischen beschäftigt er, der Laden brummt und er will in Der Beitrag zeigt eine Dynamik, wie wir sie mit unserem weitere afrikanische Länder expandieren. Tunnelblick auf Afrika nie für möglich gehalten hätten: Seit 10 Jahren hat m-pesa, das kenianische mobile Banking- Die Tiefkühlstory ist eines der Beispiele zweifelhafter ‚EntSystem übers Handy, auch für Diejenigen Chancen eröff- wicklungsförderung‘ auf unserem Nachbarkontinent in net, die bei keiner Bank je ein Konto oder einen Kleinkredit der ARTE-Dokumentation „Konzerne als Retter“ ², noch bekommen hätten. Zusammen mit dem Breitbandkabel, bis zum 07.08.2017 in der Mediathek zu sehen. Große und das zwei Jahre später den Kontinent erreichte, hat m-pesa einflussreiche Unternehmen, die sich in Afrika neue profi-


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table Geschäftsfelder erschließen, greifen dazu dreist auch Bildung für die Kinder und Perspektiven in der Region. Es deutsche Entwicklungsgelder ab und bekommen sie. Und geht nicht um lokale und regionale Kreisläufe und Koopedie Protagonisten in den Chefetagen wie auch der Entwick- rationen. Das BMZ³ lässt sich auf solche Projekte ein und lungsminister selbst bedienen ihr Image von nachhaltiger demontiert durch Förderung der Konzerninteressen seine Entwicklung, gegen die im Beitrag dokumentierte Rea- Glaubwürdigkeit. Die im Beitrag dokumentierten Vertreilität. Dem Geschäftsmodell der um sich greifenden PPPs, bungen ortsansässiger Kleinbauern, deren Abhängigkeit der auch hierzulande schon lange in die Kritik geratenen und Verschuldung als Vertragsbauern und die Umweltzeröffentlich-privaten Wirtschaftspartnerschaften, scheint so störung durch Monokulturen werden hier wohl formuliert manche schwache afrikanische Regierung Tür und Tor zu vom Tisch gewischt. öffnen. Zugleich zieht sie sich aus ihrer Verantwortung für Daseinsvorsorge und Infrastruktur zurück. Das verhäng- Will man die Menschen in Afrika wirklich ihre eigenen Wege nisvolle Motto lautet dann: Ihr zahlt hier keine oder kaum entwickeln lassen und sie bei dem unterstützen, was ihnen Steuern, dafür regelt ihr privatwirtschaftlich das, was wir und nicht vorrangig uns nützt? Dass sich Geschäftsinteresals Staat nicht hinkriegen. Eigentlich genau das Gegenteil sen dabei durchaus mit der Entwicklung und Teilhabe der von einem Aufbau von Staatlichkeit und guter Regierungs- lokalen Bevölkerung verbinden lassen, zeigen doch gerade führung. die erfolgreichen ‚Graswurzel‘- Projekte wie die der jungen Kenianer in „Silicon Savannah“. Warum nicht statt KonDie hier vorgestellten Projekte, an denen auch Konzerne zerninteressen gezielt solche dynamischen, innovativen wie Nestle, Monsanto, Bayer etc. beteiligt sind, stellen Ideenschmieden mit einem Mehrwert für die eigene Gedie eigenen Gewinnerwartungen in den Vordergrund. Die sellschaft fördern? Dann wäre vielleicht auch in anderen Schaffung möglichst vieler lokaler Arbeitsplätze und eine Ländern Afrikas Ähnliches möglich wie wie in Kenia. Etwas, nachhaltige Entwicklung des ländlichen Raums, bei der die das nach und nach auch im Hinterland wirkt und für FortLokalbevölkerung maßgeblich mit entscheidet und ihre schritt durch Eigeninitiative sorgt. Und damit für weitere Interessen und eigenen Entwicklungsziele den Ausschlag Entwicklungsschritte, von innen her, für die Menschen und geben, gehören nicht dazu. Die Bilder gleichen sich, ob in für das Land. Und kaum bei einem davon wären die GeIndonesien, Brasilien oder nun eben in Sambia oder Tan- schäftsinteressen westlicher Konzerne maßgeblich. sania: Weitgehend automatisiert bewirtschaftete Monokulturen für den Export, so weit das Auge reicht, auf den So könnte es gehen! Der Beitrag „Silicon Savannah“ zeigt fruchtbaren Böden verarmter und schlecht regierter afri- den spürbaren Willen und das Verlangen junger Afrikaner kanischer Länder, mit einer sehr überschaubaren Zahl ge- nach Aufbruch, Veränderung und einem eigenen ‚Fortschaffener Alibi-Arbeitsplätze. Es geht um Profit und sonst schritt‘. Die dort porträtierten Menschen könnten unnichts, ganz unverhohlen – und in Entwicklungskooperati- terschiedlicher nicht sein, doch sie alle eint ein wacher onen mit staatlichen Geldern gefördert. Es geht mitnich- Unternehmergeist und der Wille, ihre Chance zu nutzen ten um nachhaltige Stärkung und Effizienzsteigerung der und aufzusteigen. Und sie tun es. Doch gewiss nicht durch einheimischen kleinbäuerlichen Landwirtschaft, um lokale eine ‚Entwicklungshilfe‘, wie wir sie offensichtlich immer Ernährungssicherung und Aufstieg für möglichst viele, ge- noch verstehen und vergeben. Ganz im Gegenteil. rade für die Schwächsten. Es geht nicht um deren solides Auskommen, Planungssicherheit, Ausbau der Infrastruktur, Eva Peteler ¹https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/smart-africa-geschichten-aus-silicon-savannah-100.html#autoplay=true http://techtrendske.co.ke/worldreader-and-opera-software-partnership-reaches-5-million-readers-in-africa-via-mobilephones/ ²http://www.arte.tv/de/videos/059525-000-A/konzerne-als-retter ³ Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

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contact@heimfocus.net Es ist dumm, immer dasselbe zu tun und dabei andere Ergebnisse zu erwarten Albert Einstein

Ein Marshallplan für Afrika, entworfen und engagiert beworben von unserem Entwicklungsminister Gerd Müller, findet nicht überall Zustimmung. Aber er sollte ebenso engagiert, wenn auch kontrovers, diskutiert werden. Die Initiatoren des Bonner Aufrufs, über den wir in einem der frühen Heimfocus-Magazine berichtet haben, sind keine Neulinge auf der Bildfläche, sondern erfahrene Praktiker und Kenner der schwierigen Situation, die in vielen afrikanischen Ländern die Jugend außer Landes vertreibt. Auch zum aktuellen Marshallplan für Afrika beziehen sie kritisch Stellung:

Bloß keinen Marshallplan für Afrika! „Kölner Memorandum“ für eine andere Entwicklungspolitik Es ist ein mehr als 50 Jahre alter Irrtum zu glauben, wir könnten Entwicklungspolitik für Afrika machen. Ein Irrtum mit fatalen Folgen. Die Reichen und die Mächtigen wurden immer reicher. Mit dem Bevölkerungswachstum nahm die Armut zu. Die meisten Länder Afrikas wurden nicht selbstständiger, sondern abhängiger. Eine Spirale wie in einem Drogenring: Je mehr Stoff angeboten wird, desto lethargischer und süchtiger werden die Abhängigen. Nur dass das Angebot nicht von raffgierigen Kartellen kommt, sondern von wohlmeinenden Regierungen. Und verteilt wird es nicht von finsteren Dealern, sondern von oft sehr engagierten Helfern vor Ort. Mit einem Wort: eine Tragödie. Die Wahrheit ist: Entwicklung in Afrika kann und darf nur von Afrikanern gemacht werden. Die afrikanischen Länder müssen wissen, was sie wollen, und planen, was sie können. Wenn sie dabei Unterstützung anderer Länder brauchen, müssen sie das sagen und begründen. Und wenn die Gründe gut sind, werden sie Hilfe bekommen. Wir werden sie nicht länger wie selbstverständlich als „Nehmerländer“ ansehen und uns nicht länger als „Geberländer“. Daraus folgt: 1. Eine massive Aufstockung der staatlichen Entwicklungshilfe wird nach aller Erfahrung keine wesentliche Verbesserung der Lebensverhältnisse in den afrikanischen Ländern bewirken. Vielmehr ist zu erwarten, dass große Teile der zusätzlichen Mittel in falsche Kanäle fließen und der Exodus anhält. 2. Insgesamt hat die Entwicklungshilfe bisher keine grundlegende und nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in Subsahara-Afrika in Gang gesetzt. 3. Vielmehr hat die staatliche Entwicklungshilfe die Abhängigkeit der Empfängerländer verstärkt und das Entstehen wirtschaftlicher Eigendynamik behindert. 4. Trotz privilegierter Handelsbedingungen gibt es auf dem Weltmarkt kaum produzierte Güter aus Afrika südlich der Sahara. 5. Die derzeitige staatliche Entwicklungspolitik hat Zuständigkeiten an sich gezogen, die eine selbsttragende afrikanische Entwicklung verhindern. 6. Die Entwicklungshilfe ist zu einer Maschinerie geworden, die immer mehr ihrer Selbsterhaltung dient. Afrika braucht -einheimische und ausländische Unternehmer, die Produktionsbetriebe in Afrika errichten. Sie sind umfassend zu fördern, weil die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas ohne Industrialisierung nicht möglich ist. -bedarfsbezogene praktische berufliche Bildung als Basis für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung. -Entwicklungshilfe an zuverlässige Organisationen vor Ort , um die afrikanische Eigeninitiative zu fördern.

„Kölner Memorandum“ – Erläuterungen 1. Wenn Entwicklungshilfe ihre Ziele erreicht hätte, würden wir heute darüber diskutieren, wie man sie auslaufen ließe. Aber das Gegenteil ist der Fall: Sie soll erhöht werden. Sogar ein Marshallplan für Afrika wird gefordert. 2. Bei aller berechtigten Enttäuschung über ausbleibende Entwicklungserfolge mit nachhaltiger Wirkung soll nicht unterschlagen werden, dass es auf einigen Gebieten (Gesundheit, Bildung, demokratische Mitbestimmung, Frauenförderung, Informatik und Kommunikation) Entwicklungsfortschritte gegeben hat. Maßgeblich daran beteiligt waren unter anderen einige NGOs, politische Stiftungen und kirchliche Entwicklungsdienste. 3. Gleichwohl verharrt die Armut der Menschen seit Jahren auf hohem Niveau (ca. 50% der Bevölkerung). Staaten implo-


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dieren; ethnische und kulturelle Konflikte nehmen vielerorts an Intensität zu. Alle Ansätze, staatliche Korruption – das Hauptübel Afrikas – einzudämmen, haben sich bisher weitgehend als wirkungslos erwiesen. Staatliche Souveränität wird als Lizenz zum Betrügen und zur Unterdrückung missverstanden und missbraucht. 4. An dieser Misere haben die Industrieländer des Nordens eine Mitschuld: die Entwicklungshilfe hat sich als Droge entpuppt, von der die verwöhnten Konsumenten nicht genug bekommen können. Da die verabredete Verwendung des Finanztransfers nicht kontrolliert werden kann (z.B. von Parlament und Justiz in den Empfängerländern), verstärkt er die illegalen, teilweise kriminellen Machenschaften von demokratisch nur schwach legitimierten Regierungen, die mehr an Selbstprivilegierung als an wirksamer Entwicklungspolitik zum Nutzen ihrer Bevölkerung interessiert sind. Diese Komplizenschaft zwischen parasitären Staatsführungen und westlichen Geberorganisationen ist ethisch nicht vertretbar: Steuergelder der Bürger werden verbrannt! Entwicklung kann nur von innen kommen. 5. Daher fordern wir eine Entgiftung der gängigen EZ (Entwicklungszusammenarbeit)-Praktiken und eine Rückbesinnung auf das eigentliche Anliegen der Entwicklungshilfe: Menschen in Armutsländern zu ermutigen, ihre Entwicklungspotenziale für ein “gutes Leben“ zu aktivieren, d.h. dabei behilflich zu sein, Hindernisse auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben durch eigenes Arbeitseinkommen zu überwinden. 6. Die Bemühungen um das Verständnis und die Vereinbarkeit sozio-kultureller Unterschiede müssten wieder mit wesentlich größerer Ernsthaftigkeit betrieben werden. 7. Alle Praktiken in den Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit afrikanischen Ländern, die sich als fatale „Job-Killer“ auswirken, vor allem die wettbewerbsverzerrenden Praktiken der Agrar- und Fischereipolitik der EU-Staaten (Produktions-Subventionen), sollten unterlassen werden. Beginnen sollte man mit den Produktionssystemen, die sich als besonders schädigend für Afrika auswirken. 8. Es müssen Fehlanreize im Bildungswesen abgestellt werden (Brain Drain). Stattdessen wird eine verstärkte Fokussierung auf berufliche Aus– und Fortbildung empfohlen, unter Einbeziehung an lokale Bedingungen angepasster Technologien. Besonders sollte die Lehre der MINT-Fächer, E-Learning und „sur place“-Stipendien gefördert werden sowie die Ausstattung von Universitäten durch nachhaltigen Institutionenaufbau. 9. Die Zusammenarbeit mit der teilweise sehr aktiven afrikanischen Diaspora ist zu fördern. Z. B.wären Anreize und Hilfen sinnvoll, dem in Europa praktizierenden Fachpersonal zu ermöglichen, in seine Heimatländer zurückzukehren. 10. Die Adressaten der Entwicklungshilfe sollten nicht allein die Regierungen von Entwicklungsländern sein, sondern auch Institutionen, die das soziale Spektrum der Hilfeempfänger verbreitern: ausgewählte Nicht- Regierungsorganisationen und unternehmerische Elemente der Mittelschichten, die bislang von einem parasitären Patronage-Staat erstickt werden. Für Regierungen, die vereinbarte Standards der EZ (EZ- Kriterienkatalog) zu Lasten ihrer Bevölkerungen nicht einhalten, sollten EZ- Transfers storniert werden, bei krassen Fällen von Korruption für die Dauer der Amtsperiode des amtierenden Präsidenten. Unkontrollierte „Budgethilfen“ sollten konsequenter als bisher ganz eingestellt werden. Wir widersetzen uns der gegenwärtigen Tendenz, die Entwicklungshilfe aus vordergründigen außenpolitischen Gründen für Länder wieder aufzunehmen, die dafür wegen Menschenrechtsverletzungen nicht in Frage kommen. 11. Mehr Mittel sollten dagegen zur Verfügung gestellt werden für Schwerpunkte mit nachhaltiger Wirkung auf die Entwicklungspotenziale der Erwerbsbevölkerung. Dringend geboten ist die stärkere Förderung von Familienplanungsprogrammen, um den starken Bevölkerungszuwachs zu begrenzen, der sozio-ökonomische Fortschritte wieder zunichte macht. 12. Einer stärkeren Förderung bedürfen Mikro-Kredite an Frauengruppen nach den Kriterien der Grameen-Bank. 13. Geboten ist eine stärkere Förderung der deutschen mittelständischen Wirtschaft mit größerem Einsatz von Risikokapital. 14. Bei allen Hilfsmaßnahmen ist eine zielführende Abstimmung der Geberländer untereinander im Sinne verbesserter Kohärenz anzumahnen. Köln, den 27.11.2016 Text entnommen der Seite http://www.bonner-aufruf.eu/?seite=memorandum weitere Links: http://ef-magazin.de/2016/12/07/10200-koelner-memorandum-zur-entwicklungshilfe-bloss-keinen-marshallplan-fuer-afrika http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/entwicklungshilfe-ein-marshall-plan-loest-afrikas-probleme-nicht-14677751.html


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Klartext 06/2017 Klartext 06/2017 » Was gilt in Deutschland - gilt das Recht oder gilt der Zufall? Ist Deutschland ein Rechtsstaat oder ein Zufallsstaat? Das ist keine rhetorische, sondern eine ernsthafte Frage. Wer die Abschiebepolitik in Deutschland betrachtet, der fragt sich ernsthaft: Was hat diese mit Recht zu tun? Warum schiebt Hamburg Flüchtlinge nach Afghanistan ab und SchleswigHolstein nicht? Ein afghanischer Flüchtling, den es nach Berlin verschlagen hat, darf sich freuen. Berlin schiebt nicht nach Afghanistan ab. Wenn er in Bayern gelandet ist, wird er abgeschoben - und zwar auch dann, wenn er schon viele Jahre hier lebt und arbeitet, also integriert ist. Der Würfel wird zum Rechtsprinzip. « Heribert Prantl, Chefredakteur der "Süddeutschen Zeitung" http://www.ndr.de/info/sendungen/kommentare/Zufall-vor-Recht-bei-Afghanistan-Abschiebungen,abschiebung740.html Afghanistan, Griechenland, Türkei – dies sind aktuell mit die derzeit schlimmsten inhumanen "Hotspots" bundesdeutscher und europäischer Flüchtlingspolitik. Nach Afghanistan wird rücksichtslos abgeschoben, die Rücküberstellungen nach Griechenland sollen wieder beginnen – und der EU-Türkei-Deal wird trotz aller Kritik seitens Menschenrechtsorganisationen genau ein Jahr nach Inkrafttreten von der Politik als wichtig und gelungen gelobt, von der rapide verschlechterten Menschenrechtslage in der Türkei selbst einmal ganz abgesehen. Daher hier erst einmal neue Informationen zu diesen drei Ländern:

Afghanistan

Wer nach Afghanistan abgeschoben werde, erhalte Hilfe, so unser Innenminister de Maizière. Niemand werde einfach sich selbst überlassen, niemand werde einfach "die Gangway runtergeschickt", verspricht er. Außerdem seien Teile der Hauptstadt Kabul sicher genug, dass Menschen dort leben könnten. Aber die Realität sieht anders aus: MONITOR (http:// www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/video-hilflos-in-kabul-abschiebungen-nach-afghanistan-100.html) hat Atiqullah Akbari begleitet, einen jungen Afghanen, der aus Deutschland abgeschoben und kurz darauf bei einem Sprengstoffanschlag in Kabul verletzt wurde. Seit Wochen irrt er mittellos und voller Angst durch Afghanistans Hauptstadt. Die "urbanen Zentren seien durch die afghanische Regierung ausreichend kontrollierbar", meint unser Innenminister (http://www.ulla-jelpke.de/wp-content/uploads/2016/04/KA-18_7838-Abschiebung-AFG.pdf). Der IS in Afghanistan hat ihm nun widersprochen: Dessen Terrormilizen haben im März mit einem Anschlag auf das Sardar-Daud-Militärkrankenhaus in der Hauptstadt Kabul die Grenzen der Kontrolle aufgezeigt.

Griechenland

Seit einem Urteil des EGMR 2011 setzten bislang alle EU-Mitgliedstaaten sogenannte Dublin-Überstellungen nach Griechenland aufgrund gravierender Mängel bei Aufnahmebedingungen und Asylverfahren aus. Die EU-Kommission hat am 08.12.2016 eine Empfehlung an die Mitgliedstaaten gegeben, Dublin-Überstellungen nach Griechenland für Asylsuchende, die nach dem 15. März 2017 einreisen, unter Einschränkungen wieder aufzunehmen. Wie aus der Anweisung des Bundesinnenministeriums an das BAMF zu entnehmen ist, sollen ab diesem Datum für alleinstehende Personen, Ehepaare und Familienverbände ohne Problemkonstellationen (was immer darunter zu verstehen sein mag) sowie Gefährder und Straftäter Übernahmeersuchen gestellt werden. Die tatsächliche Situation in Griechenland wird hierbei willentlich ignoriert. Amnesty International: "Griechenland: Aufnahmebedingungen sind nicht ausreichend" - Angesichts nun wieder möglichen Überstellungen nach Griechenland äußert Amnesty International - trotz eingetretener Verbesserungen - starke Bedenken hinsichtlich der Situation in Griechenland bzgl. Zugang zum Asylverfahren, der Aufnahmebedingungen, sowie bei der Identifizierung und Aufnahme von unbegleiteten Minderjährigen. https://www.amnesty.de/2017/3/14/griechenland-aufnahmebedingungen-sind-nicht-ausreichend?destination=node%2F2923

Auch Human Rights Watch konstatiert in seinem Factsheet "Greece: Refugees with Disabilities Overlooked, Underserved - Identify People with Disabilities; Ensure Access to Services", dass besonders schutzbedürftige Asylsuchende (wie


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© flickr.com.UNHCR, Tim Mc Kulka

© UNHCR, A.Fazzina 2

z.B. schwangere Frauen, Kinder, schwerkranke Personen, Opfer von Folter) und Migrant*Innen mit Behinderung besondere Schwierigkeiten haben, um in den griechischen Lagern Zugang zu Basisdienstleistungen wie Unterkunft, sanitäre Einrichtungen, medizinische Versorgung und psychische Gesundheitsversorgung zu erhalten. Zu den größten Problemen für alle Flüchtlinge und Migrant*Innen in Griechenland zählt der mangelhafte Zugang zu rechtzeitiger und angemessener Gesundheitsversorgung – durchaus auch bedingt durch den allgemeinen Zusammenbruch des griechischen Gesundheitssystems, welcher auch die Griechen selbst hart trifft. http://www.ecoi.net/local_link/334948/476771_de.html

Türkei

"Innenausschussreise in die Türkei" - Die grüne Bundestagsabgeordnete Luise Amtsberg hat nach ihrer Rückkehr aus der Türkei einen Bericht über die Situation der Flüchtlinge in der Türkei verfasst. Unter anderem schreibt sie: "Mehr als 2,8 Millionen registrierte syrische Flüchtlinge leben inzwischen in der Türkei – die Hälfte von ihnen sind Kinder und Jugendliche. 190.000 syrische Flüchtlingskinder sind in den vergangenen Jahren in der Türkei geboren. Geflüchtete Menschen werden auf insgesamt 81 türkischen Provinzen aufgeteilt. Der größte Teil von ihnen, rund 440.000 Menschen, lebt in Istanbul. Da registrierte syrische Flüchtlinge einer Residenzpflicht unterliegen, ist das Verlassen des Aufenthaltsortes sanktioniert. Aus diesem Grund lassen sich viele syrische Flüchtlinge nicht registrieren. Die tatsächliche Zahl syrischer Flüchtlinge in der Türkei dürfte daher noch deutlich höher liegen. Viele der syrischen Flüchtlinge leben in prekären Umständen. Über 400.000 syrische Kinder werden noch nicht beschult in der Türkei. Bezogen auf die Versorgung und Betreuung der Flüchtlinge fehlt es an allen Ecken und Enden. Es mangelt an Bildungsangeboten, Gesundheitsversorgung, sozialer Absicherung und Qualifizierungsmaßnahmen. Für die rund 340.000 nicht-syrischen Flüchtlinge (vornehmlich aus Irak, Afghanistan, Somalia und Iran) stellt sich die Lage noch dramatischer dar, da Menschen aus diesen Herkunftsländern keinen oder nur beschränkt Zugang zu den Unterstützungsprogrammen haben. Hinzu kommt die angespannte innenpolitische Lage, die sich ebenfalls nachteilig auf Geflüchtete Menschen auswirkt." https://sh-gruene.de/nachrichten/innenausschussreise-die-tuerkei-mit-luise-amtsberg

Sicherheit und Freiheit in Europa?

Eine reines "Lotteriespiel" für Flüchtlinge, wie die nachfolgende Studie belegt: Die Studie "Refugee rights subsiding? Europe’s two-tier protection regime and its effect on the rights of beneficiaries" des Europäischen Flüchtlingsrats ECRE zeigt anhand aktueller Zahlen erneut gravierende Unterschiede in den Asylsystemen der europäischen Staaten auf. Demnach habe nicht nur die Entscheidungspraxis zu bestimmten Herkunftsländern im Jahr 2016 erhebliche Diskrepanzen aufgewiesen, auch die Rechte, die schutzberechtigten Personen in den europäischen Staaten eingeräumt werden, weichen erheblich voneinander ab. http://www.asyl.net/index.php?id=424&no_cache=1&tx_ttnews%5Btt_news%5D=57818&cHash=0ca8dbb32d7e59fe835cc2c250dcdd2a

Das Lotteriespiel am Beispiel Italiens: "Report of the fact-finding mission to Italy" Tomáš Boček, der "Special Representative of the Secretary General on Migration and Refugees" des Europarates unternahm im Oktober 2016 eine Recherche-Reise nach Italien, um sich vor Ort ein Bild zu machen über die Situation der dort ankommenden und lebenden Flüchtlinge. In den "Hotspots" Lampedusa und Pozzallo stellte er etliche Mängel hin-


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sichtlich Überbelegung, hygienischer Verhältnisse und getrennter Unterbringung von Frauen, Männern und Kindern fest. Insbesondere unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bleiben oftmals sich selbst überlassen. In den Hotspots haben sie keine Möglichkeit zum Schulbesuch. Das schleppende Asylverfahren und völlig fehlende Zukunftsperspektiven führt bei den meisten Jugendlichen zu großer Frustration. http://www.statewatch.org/news/2017/mar/coe-italy-report-rights-of-migrants-refugees-3-17.pdf

Das Lotteriespiel am Beispiel von jungen Flüchtlingen in Deutschland: "Kindheit im Wartezustand" Die neu veröffentlichte UNICEF-Studie "Kindheit im Wartezustand" ermöglicht einen bisher kaum verfügbaren Einblick in die Alltagswelt von Kindern und Jugendlichen, die sich in Begleitung ihrer Eltern in Flüchtlingsunterkünften aufhalten. In den vergangenen zwei Jahren kamen etwa 350.000 Kinder und Jugendliche in Begleitung ihrer Eltern nach Deutschland, um hier Schutz vor Krieg und Gewalt oder eine bessere Zukunft zu suchen. UNICEF Deutschland sieht die Lebensumstände vieler Kinder und Jugendlichen unter den Geflüchteten als schwierig an. Laut der Studie verbringen viele von ihnen lange Monate oder sogar Jahre in Flüchtlingsunterkünften, die häufig nicht sicher und nicht kindgerecht sind. Dies erschwert ihre Integration. Die Mädchen und Jungen leben dort – teils unter unzureichenden hygienischen Bedingungen – mit vielen fremden Menschen auf engem Raum und haben kaum Privatsphäre. Sie haben oft keine Ruhe zum Spielen und Lernen und sind nicht ausreichend vor Übergriffen geschützt. Je nachdem, wo in Deutschland sie untergebracht sind und wie lange die Kinder in Erstaufnahmeeinrichtungen bleiben, ist ihr Zugang zu Kindergärten oder Schulen eingeschränkt. Eine zunehmend unterschiedliche Behandlung der geflüchteten Mädchen und Jungen zeichnet sich auch je nach Herkunftsland und damit verbundener Bleibeperspektive ab. https://www.unicef.de/blob/137024/ecc6a2cfed1abe041d261b489d2ae6cf/kindheit-im-wartezustand-unicef-fluechtlingskinderstudie-2017-data.pdf

Hier noch ein Blick auf die innerdeutsche aktuelle gesellschaftliche Situation, in der über die Integration und Aufnahme von Flüchtlingen diskutiert wird: "Sprachfähig in der Flüchtlingsdebatte - Fakten und Argumente gegen rechte Parolen und Vorurteile" - Die vorliegende Veröffentlichung fragt in ihrem ersten Teil nach den Gründen für diese verschobene Debatte und versucht, Wege aus der Defensive aufzuzeigen, in die Flüchtlinge und ihre Unterstützer*Innen geraten sind. Im zweiten Teil der Broschüre werden dann den gängigsten Parolen und Vorurteilen gegen Flüchtlinge korrigierende Daten und Fakten gegenübergestellt. Zusammen zielen beide Teile darauf ab, in der so genannten „Flüchtlingsdebatte“ insbesondere diejenigen sprachfähig zu machen, die sich haupt- und ehrenamtlich für Flüchtlinge und für das Grundrecht auf Asyl einsetzen. Eine sehr gute Broschüre, angesichts der heutigen postfaktischen Zeiten leider so bitter nötig wie nie zuvor. http://www.asyl-rlp.org/wp-content/uploads/Sprachfaehig_in_der_Fluechtlingsdebatte-201016.pdf

» Welchen Wert und Gehalt haben Zivilität und Humanität nach anderthalb Jahren wüster Flüchtlingsdebatte noch? Es gibt ungeheuer viel Hetze und Häme, ungeheuer viel Verunsicherung; es gibt aber auch noch immer sehr, sehr viel Bereitschaft zur Differenzierung und Hilfe. […] Flüchtlingspolitik, die sich nur auf Abschiebung konzentriert, ist fatal und hat bittere Folgen, auch im Inland. Beim Umgang mit Flüchtlingen muss eine simple Regel gelten, die eine goldene Regel ist: "Handeln wir so, wie wir behandelt werden wollten, wenn wir Flüchtlinge wären." Das gilt für die Aufnahme, das gilt für die Abschiebung. Dieser Satz ist nicht nur moralische Handlungsanleitung. Er ist eine Maxime, die Recht schafft. Es ist allein das Recht, das verhindert, dass man selbst schutz- und hilflos wird. Flüchtlingspolitik darf also nicht zur Abkehr vom Recht werden. « (Heribert Prantl, Chefredakteur der "Süddeutschen Zeitung" http://www.ndr.de/info/sendungen/kommentare/Zufall-vor-Recht-bei-Afghanistan-Abschiebungen,abschiebung740.html

Verrat an den eigenen Idealen, Flüchtlingspolitik als Abkehr vom Recht – am 27.03.2017 hat die Europäische Union mit viel Selbstbeweihräucherung den 60. Jahrestag der Römischen Verträge gefeiert. Es trifft wohl zu, dass es mit diesen Verträgen gelang, Frieden unter den Mitgliedstaaten zu garantieren. Von Solidarität untereinander ist man heute aber weiter entfernt denn je; und Empathie für Flüchtlinge scheint der Union ein Fremdwort zu sein. Andreas Schwantner PRO ASYL – Vorstand AMNESTY INTERNATIONAL - Mitglied FK Asyl TheKo Polizei Mitglied Härtefallkommission Hessen


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Impressum

7.Jahrgang, 4.Ausgabe, 06 / 2017 Redaktion: Addis Mulugeta Redaktionskontakt: contact@heimfocus.net Erscheinungstermin: 01.06.2017 Erscheinungsweise: vierteljährlich Auflage: Exemplare 2500 Herausgeber: Eva Peteler c/o Ausländer-und Integrationsbeirat der Stadt Würzburg Rückermainstr.2 97070 Würzburg Fotos: Redaktion, Diverse Titelbild: © Foto vom Bild RoKa Wirtz Layout: Maneis Arbab, Anette Hainz Druck und Produktion: flyeralarm GmbH Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung der Redaktion in irgendeiner Form reproduziert werden. Die Beiträge geben eine persönliche Meinung des Autors wieder, die nicht mit der der Herausgeber übereinstimmen muss. Die Verantwortung für den Inhalt der Beiträge liegt ausschließlich beim Verfasser.

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