HATE #4

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MAGAZIN FÜR RELEVANZ UND STIL

HATE.  #4


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WWW.UPONYOU-RECORDS.COM

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HATE Magazin für Relevanz und Stil Krossener Straße 7 10245 Berlin WWW.HATE-MAG.COM HERAUSGEBER R+S Media Krossener Straße 7 10245 Berlin Registernummer: 34/518/53630 REDAKTION Jonas Gempp  jonas@hate-mag.com Nina Scholz  nina.scholz@hate-mag.com Web: Henning Lisson  henning@hate-mag.com GESTALTUNG Johannes Büttner  johannes@hate-mag.com Ronald Weller  ronald@hate-mag.com

WHAT WE

THIS ISSUE:

What we Hate/Love

Seite 4

I’d rather wear fur than cheap clothes B j ö r n Lü d t k e

Seite 8

Ich glaub, ich sterb’ im Wald

Samir Omar

Vor und Zurück: Speed- statt Autobahnen

L au r a Ew e rt

London’s Burning Down

Do r a M e n tz el

Merkwürdige Mädchen

N i n a S c h olz

Anthony Hopkins muss sterben, damit wir leben können

Jo c h e n W e r n e r

Twitter, FCK U

ANZEIGEN Robert Härtel  robert@hate-mag.com

F el i x N i c k l a s

LEKTORAT Jochen Werner

M i g u el M a rt i n e z

AUTOREN Daniel Erk, Laura Ewert, Paul Flynn, Steffen Köhn, Daniél Kretschmar, Björn Lüdtke, Dora Mentzel, Felix Nicklas, Samir Omar, Helge Peters, Philip Vincente, Jochen Werner FOTOGRAFEN Johannes Büttner, Miguel Martinez, Henrike Mayer, David Schmitt FOTOASSISTENZ Sandra Molnar

nothing to say nothing to sell

Polenknast

Jo h a n n es B ü t t n e r & Jo n a s Ge m p p

Blood Money

Seite 19 Seite 20 Seite 21 Seite 22 Seite 28 Seite 30 Seite 32 Seite 38

S t eff e n Kö h n

Seite 40

I am in Beijing, Find Handsome Boy Pau l F ly n n

Seite 44

Diffuse Guerilla

H el g e Pet e rs

Kein Jesus von Winnenden

AUSSTATTUNG Elena Mayer

Da n i él K r ets c h m a r

ILLUSTRATION Clara Bahlsen, Oliver Bieräugel, Henrike Mayer

Jo n a s Ge m p p

Street Gang with Analysis

Seite 46 Seite 53 Seite 54

DRUCKEREI unitedprint GmbH Hohenzollernring 84 50672 Köln HATE DANKT  Philipp Graf, Ricardo Esposito, Tobias Hagelstein, Michael Kummermehr, Stefan Goldmann, Sebastian Gaiser, Clemens Pavel, Michael Nadjé, Christian Moritz, Malk, Johannes Klingebiel, Gabriele Gempp, Carlos de Brito, Klaus Scholz, Thomas Simon, Daniel Plasch, Maria Römer, Miguel De Pedro, Artur Schock UND DEN MODELS  Christian Demmler, Laura Ewert, Huen, Michael Lasch, Kolja Mirabichvili, Sid Meyer, Sandra Molnar, Moritz Nebenführ, Alexander Seeberg-Elverfeld, Remo Westermann Auflage: 2.500 Die nächste Ausgabe erscheint am 11. September 2009. Wer HATE für 5 EUR bestellt, erhält ein auf 100 Stück limitiertes HATE-Poster von bonbon büro dazu.

#4      »I hate this. I hate being here. I hate that you have to be here. I hate that there’s evil and that I was chosen to fight it. I wish a whole lot of the time that I hadn›t been. I know a lot of you wish I hadn›t been, either. This isn’t about wishes. This is about choices. I believe we can beat this evil. Not when it comes. Not when it’s army is ready. Now. Tomorrow morning, I’m opening the seal. I’m going down into the Hellmouth and I am finishing this once and for all. Right now, you’re asking yourself what makes this different. What makes us anything more than a bunch of girls being picked off one by one? It’s true. None of you have the power that Faith and I do. So here’s the part where you make a choice.«      »Buffy the Vampire Slayer« (1997) Episode: »Chosen« (Season 7)

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Tatort Hassort: Berghain von N ina S ch ol z

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Beim ersten Mal wurde ich abgestoßen, was nicht das Schlechteste ist. Wenn man zugleich abgestoßen und angezogen wird, bedeutet das vielleicht, dass man den Weg raus auch wieder finden kann. Dieses erste Mal war auch mehr verstehen wollen, als mitmachen können. Wir saßen rauchend vor den Klos und schrieen uns in die Ohren: Ja, ja, sie haben das Beste vom Alten genommen und noch perfekter gemacht! Nein, nein, das kann nicht funktionieren, zu groß und zu geplant. Immer wieder fiel vor allem ein Satz, den die einen positiv, die anderen abwehrend, noch andere abwägend meinten: Das ist der absolute Idealtypus des Technoclubs, diesen Ort kann es eigentlich nicht geben. Im Laufe der Zeit füllte sich der Idealtypus mit Leben, manche Planungen gingen auf, andere nicht. Es folgten gute Partys, schlechte Partys, außerordentlich außergewöhnliche Partys und wieder tobte es in den Köpfen: Es wurden Artikel, Blogeinträge, Buchkapitel geschrieben. In manchen konnte man überraschend gut beschrieben lesen, was man drinnen so erlebte. Vor allem war man live dabei, als ein Mythos gestrickt wurde, als die Leute sich draußen das Drinnen als ihr eigenes Studio 54 zurecht malten. Nur noch krasser. Noch ungewöhnlicher. Ganz anders! Und während es in den neuen Diskussionen darum ging, ob zu große Bekanntheit zum Verfall führt und was schlimmer ist, wenn mal eine Nacht zu viele Spanier oder zu viele grüne, betrunkene Heterojungs reingelassen worden waren, passierte das wahre Übel ganz woanders: Man kann es sehr gut erkennen, denn es ist hell ausgeleuchtet. Im Raucheranbau kann man jetzt verschnaufen, telefonieren, sich nur mal kurz auf die Treppe setzen. Komm, wir machen mal eine Pause und rauchen eine. In Ruhe. Erstmal ist es natürlich ein Schock, dass wir gerade hierher zum Rauchen verschwinden müssen, auch wenn die Gründe nachvollziehbar sind. Dann ist es eine Erlösung, auch mal Luft holen zu können, festzustellen, was einem in der abgeschlossenen Atemlosigkeit aus Lautstärke und Druck gefehlt hat. Hier ist es ruhiger und tagsüber außerordentlich hell, aber hier begann der Verfall. Mehr noch als mit dem Bau dieser Empore, wo man die Tanzenden in Ruhe beobachten kann und zu der diese immer wieder hochsehen: Schaut schon wieder einer? Und auch nicht mit der Eisdiele, die den Idealtypus endgültig zum Freizeitpark gemacht hat. Hier liegt das Ende der hermetischen Ekstase begraben: Kaum ist man in dieses Tageslicht getreten, hat man schon die zweite, die dritte Zigarette angezündet, sich in noch ganz anderen Gesprächsthemen verloren, als die, zu denen man in den betreppten Glaskasten getreten ist. Das Reingehen und -kommen in die Party wird schon schwieriger, die Hemmschwelle und Anstrengung größer. Mittlerweile ist man müder und tritt lieber den Heimweg an. Und vielleicht ist dieses Abgestoßenwerden wirklich nicht das Schlechteste, aber es war nicht der Wunsch unseres Kommens.


Vorwärts in die Vergangenheit

Ein roter Punkt auf einer Landkarte ist der Ausgangsbzw. Zielpunkt von Aki Onoderas Reise von Japan nach Deutschland. An dieser Stelle verunglückten vor fast zwanzig Jahren ihre leiblichen Eltern tödlich, nur sie überlebte, der Unfallverursacher beging Fahrerflucht. Alles was ihr von ihren Eltern blieb ist eine Schachtel mit Andenken sowie diffuse Erinnerungen und Träume, die sie einfach nicht loslassen. Sie verabschiedet sich von ihrem Onkel und ihrer Tante, die sie wie ihre eigene Tochter aufgezogen hatten und macht sich auf den Weg nach Bayern. Dort wird sie von der Familie Weber, die in der Nähe des Unglücksortes lebt, aufgenommen. Schnell wird klar, dass der Vater der bayerischen Familie den Unfall verursacht hat. Aki selbst wird noch weiter in die Geschichte der Familie verstrickt, weil sie Gefühle für den Sohn Elias entwickelt, während dessen Konflikte mit seinen Eltern immer mehr eskalieren. Maria Miyamamas Film fragt nach der Bedeutung von Herkunft, Identität, Familie und Schuld, was bedeutet, dass man diesen Film auf viele falsche Weisen hätte erzählen können: Alle Beteiligten werden in dieser ruhig erzählten Geschichte gezwungen sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Auf allgemeingütige Antworten hat Miyamama glücklicherweise komplett verzichtet. DER ROTE PUNKT  Regie und Drehbuch: Maria Miyamama, Filmstart: 4. Juni 2009 Fotos und Illustrationen

von Henri k e May e r .

Das Interesse, die Begeisterung und die finanzielle Unterstützung unserer Herausgeber hat diese Ausgabe erst möglich gemacht. Dafür möchten wir aus (vollstem) Herzen danken. Adrian Dalichow Andreas Harms Artur Schock

Johannes Diamonds and Pearls Korbinian Frank

Marlen Belafi Bachschule Offenbach Olaf Deharde Birgit Haas Pony Göttingen Christian Simon Sabine Meyer Christopher Stuart Mann Sebastian Ingenhoff Clemens Pavel Sid Meyer David Bramhoff Sonia Garcia Moreno Endi Stefanie Roenneke Florian Töbe Timur Parlar Harry Loschinsky Ute Langkafel Joffrey Jans

Ich und Elaine

An Ecstasypillen interessiert den Künstler Frederic Post vor allem, dass sie anonym und im Verborgenen hergestellt und meist im Dunklen konsumiert werden. Ein paar Jahre hat er die verschiedensten Logoimprägnationen gesammelt und kopiert. »Ich wurde der Pate dieser kleinen Pillen, fasziniert von den kleinen Bildern, welche von ihren Herstellern, die niemand kennt, verstoßen wurden.« Zum Sammler wurde er, weil die eigenwilligen, teilweise ungeschickten Kopien bekannter Logos für ihn zu immer größeren Kunstwerken wurden, die den Weg in eine eigensinnige und verborgene Welt weisen. »Die UNESCO schützt dieses kulturelle Erbe ja nicht«, beschwert er sich. Über die Berechtigung, Komik oder vielleicht auch Verwirrtheit von Posts Ansichten kann man sicherlich streiten. Um einen Bildband wie »Anonymous Engravings on Ecstasy Pills« herzustellen, ist eine gesunde Portion Verrücktheit aber sicherlich nicht das Schlechteste. Und eigentlich hat Frederic Post auch Recht, denn »trotz der Risiken, die Drogenkonsum bedeutet, sind Millionen Menschen jedes Wochenende drauf.« Da wurde es doch endlich mal Zeit, dass jemand ihre Schönheit herausstellt und die Geschichten archiviert, die die kleinen Freudenspender offensichtlich erzählen. Frederic Post: ANONYMOUS ENGRAVINGS ON ECSTASY PILLS (Boabooks)

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H  igh School Musical

Menschmaschine

Viele Bands konnten sich in den Der Terminator-Fan ist der natürliche letzten Jahren scheinbar nichts tolleres vorstelFeind des hochkulturorientierten Akademikers. Dielen, als eine Kunstschule zu besuchen, Thies Mynse Abneigung geht zurück auf das Jahr 1984. Damals ther und Dirk von Lowtzow erzählen lieber die Geerschien der erste Teil der legendärenSaga, in der die schichte, wie sie aus der Dramaschool geworfen Maschinen versuchen die Menschen zu vernichten, und Heerschawurden. Künstlichkeit und Kapitulationen sind ren junger Männer mit Schnauzer, getunter Karre und Vokuhischon länger die Themen von Lowtzows Dichtela trieb es in die Lichtspielhäuser der Bundesrepublik, um knallreien, auf dem neuen Album als »Phantom/Ghost« hartes Action-Kino zu erleben. Terminator stand gemeinsam mit treibt er diese Koordinaten auf eine fantastische Rambo sinnbildlich für den Spaß des kulturlosen Prolos an scheinSpitze. Wer mochte nicht schon immer lieber die bar sinnloser Gewalt und war ein Grundstein für das enervierenProbeszenen als die eigentlichen Bühnenshows de Gesabbel von der verkommenen Spaßgesellschaft. Dem folgten in Filmen wie »A Chorus Line«? Mynther und zwei weitere Teile und es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass Dirk scheint es genauso zu gehen: Ein Klavier»Terminator 2« 1991 neue Maßstäbe in Sachen Tricks und Techspieler und ein Sänger stehen auf der spärlich benik setzte, was sich auch in vier Oscars ausdrückte. Am 22. Mai leuchteten Bühne. Der Sänger kommt nun der vierte Teil, Tersingt – zu sich und nicht zu eiminator: Salvation, in die Ki Schon Freud wussnem Publikum – davon, dass er nos, der im Jahr 2018 spielt und te, dass Menschen keine freundliden Weg verlassen hat und noch mit Christian Bale als John chen, zurückhaltenden Wesen sind, nicht weiß wie es jetzt weiterConnor einen Action-erprobdie Gewalt bloß anwenden um sich geht. Ab und zu gesellt sich die ten Schönling als Protagonisselber zu verteidigen. Aggression Berliner Künstlerin Michaela ten hat. Schade nur, dass Tergehört zu unserem Gefühls- und Meise dazu und verschwindet minator längst nicht mehr so Aktionsrepertoire, ist sogar eine dann wieder. Währenddessen ein Bildungsbürgerschreck ist, der wichtigsten Zutaten, um uns lässt Lowtzow viele andere Bilwie das dereinst der Fall war. TERMINATOR  Regie: McG, Filmstart: 22. Mai 2009 glücklich zu machen. Und wer kann der aus Kunst, Kultur, Literatur von sich behaupten, dass er nicht an uns vorbeiziehen: Ein paar schon mal wütend und aggressiv Lichter leuchten, sind schon Irgendwann reichgeworden ist, wenn die langsamswieder weg, eine te es Gabriele und Alessio endten Spaziergänger mal wieder in einer geschlosbekannte Melogültig, sie konnten es einfach senen Dreierreihe den Gehweg blockieren. Oder die blitzt auf und nicht mehr ertragen wie die wenn einen in der U-Bahn der dämlichste Depp wird durch eine Leute durch die Straßen von schon zum zweiten Mal rempelt. Das Chicagoer nie gehörte ersetzt. Mynthers Mailand laufen. Aber auch Kunst- und Modeprojekt »Materious«, das an der Klavierspiel ist dabei so beruder Frust darüber, dass sie in Schnittstelle von Praxis, Future und Style opehigend und selbstbewusst, dass den Läden selten T-Shirts fanriert, drückt uns jetzt ihre Schirmwaffen in die einen das Flirren der angerisseden, die ihnen wirklich gefieHand. Zurzeit kann man leider nur den Samurainen Bilder in einen Wachtranlen, gab den Ausschlag, ihr LaSchirm kaufen, aber Ende des Sommers, also in cezustand befördert und man bel »I Hate U« zu gründen. Mit Deutschland zum endgültigen Start fiesesten Rehofft, dass der Vorhang nie falihren Entwürfen erregten sie genwetters, werden auch die anderen Modelle auflen wird. PHANTOM/GHOST: bald schon auf Fashionblogs gelegt. Und wer sich noch nicht entscheiden kann, THROWN OUT OF DRAMA SCHOOL (Dial) so ein Aufsehen, dass ihre erswelches besser zu seinen Straßenkampfgewohnerscheint am 8. Mai 2009 te Kollektion schnell ausverheiten passt, schaut sich am besten erstmal auf der kauft war. Angesichts ihres NaWebseite um, auf der sich andere praktische Dinmens, hagelte ge wie marxistische Obstschalen oder eine prak »Ich bin voller Hass – und das liebe ich« Das sind es aber auch tische Zigarettenuhr finden, die Kettenrauchgenicht gerade die Worte mit denen man Sympathie erntet, vor allem wenn Kritik, manwohnheiten unterstützt. man plant seine Mitschüler zu töten. Dass aber um eine Auseinandersetzung mit dieser Aussage nicht herumkommt, wer zum Beispiel das aktuelle AttenMaterious: UMBRELLAS FOR THE CIVIL    materious.com  kikkerland.com che konnten tat in Winnenden verstehen möchte, macht Joachim Gärtner in seinem neuen, die Ambivalenz und ihren Humor einfach nicht gleichnamigen Buch klar. In diesem kompiliert er aus Tagebüchern, Schulaufsätzen, Videoprotokollen und vielen anderen Original-Quellen des Massakers nachvollziehen. Gabriele und Alessio sind irrian der Columbine High School vor zehn Jahren und erweckt sowohl die Fantiert: »Wir finden die Ironie und den Spaß einfach tasiewelt der beiden Täter zwischen Hass-, Gewalt- und Rachedelirien sowie die ganz normalen Wünsche, Sehnsüchte und Ängste von Teenagern zum Leoffensichtlich. Es ist eine Aussage, die in die Krassben. Es geht ihm weder darum mit dem Finger auf Lehrer, Eltern oder Compuheit, Buntheit und den Trubel unserer Leben passt, terspiele zu zeigen und er versucht auch nicht, ein Allheilmittel zu destillieren, das solche Ereignisse in Zukunft verhindert. Stattdessen zeigt er in seinem aber er ist nicht nur negativ gemeint. Vor allem geht es uns um Lautsein dokumentarischen Roman, dass die beiden Jungs, die die Morde begangen und Auffallen.« Andererseits sei es aber auch nicht das Schlechteste, haben, keine aus der Welt gerutschten Sonderfälle waren, deren Emotionen uns fremd sind. Und findet damit mehr heraus als die meisten Schmierfinken wenn manche Leute ihre Shirts gar nicht erst in Betracht ziehen: »Wir in den hiesigen Tabloids und Feuilletons. designen sowieso für Leute, die gerne gesehen, beobachtet und wahrgeJOACHIM GÄRTNER: ICH BIN VOLLER HASS – UND DAS LIEBE ICH (Eichborn nommen werden. Sie sollten einen eigenen Stil haben und keine Angst Verlag), ist bereits erschienen. vor einer starken Aussage.« Am 19. Mai 2009 liest JOACHIM GÄRTNER im Rahmen der Verbrecher Ver-

Street Fight

H  ate Apparel

Hass und Amok

sammlung im Monarch (Berlin) aus seinem Roman.

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I HATE U            myspace.com/ihateumilano


laich h채matom nacht veilchen

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Fotos: Henrike Meyer; David Schmitt, Johannes Büttner      Textildesign & Styling: Elena Meyer      Assistenz: Sandra Molnar      Models: Huen (hbf.musik) & Michael Lasch (hbf.musik)

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I’d rather wear fur than cheap clothes!

Models ziehen sich für die Tierschutzorganistaion PETA aus, die Mehl über die Pelz tragende Lindsay Lohan kippen lässt und außerdem bei den Pet Shop Boys anfragt, ob sie ihren tierverachtenden Namen nicht ändern wollen. Gleichzeitig wird die Diskussion um günstige Mode und humane Verantwortung

beim Kleiderkauf immer lauter. Man denke nur an die ständigen Vergleiche zwischen H&M und American Apparel. B j ö r n Lü d t k e stellt klar, dass es zwischen diesen Themen eindeutige Verbindungen gibt, aber nicht immer die offensichtlichen auch die richtigen sind.

Berliner Winter sind kalt. Eiskalt. Wohl dem, der sich gut einpackt. Ich halte Daune für das Beste, auch wenn es nicht immer sexy aussieht. Mein kleiner Luxus: der Kragen aus weichem Kaninchenfell. Der ist kuschelig am Hals und warm hält er auch. Seitdem ich diese Jacke trage komme ich erkältungsfrei durch den Winter.     Ich bin mit einer Freundin zum Essen verabredet. Wir treffen uns schon vor dem Lokal und gehen zusammen hinein. Als ich meine Jacke ausziehe, was aus Pelz entdeckt sie den Kragen und empört sich: »Ich würde niiiii tragen!« So ziemlich jeder Gast dürfte jetzt unsere Ankunft mitbekommen haben, ich

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ernte abschätzige Blicke. Wir setzen uns. Erst ein Aperitif, danach bestellen wir beide ein Wiener Schnitzel, die Originalversion aus Kalbfleisch versteht sich.     Pelz zu tragen gilt in unserer westlichen und zivilisierten Welt inzwischen als verpönt. Zumindest bei denen, die keinen haben. Jeder von uns kennt Bilder und Geschichten, wie Tiere brutal gehäutet werden – teilweise bei lebendigem Leib. Das ist natürlich grausam. Und bei dem Gedanken daran, dass dann ein schönheitsoperierter Society-Zombie möglicherweise genau dieses Tier zum Wiener Opernball trägt, kann einem schon schlecht werden. Gegen Pelz zu sein und dies ab und zu kund zu tun gibt einem das sichere Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen.      Nun, sehr verehrte und engagierte Couch-Tierschützer: Schaut mal an euch runter. Seht ihr da vielleicht einen Ledergürtel oder ein Paar Lederschuhe? Wie sieht’s aus mit Schuroder Baumwolle? Irgendwas von H&M, Zara oder gar was noch Billigeres am Leib? Und wie steht’s denn mit dem Schnitzel – ich zumindest habe keine Ahnung, von welchem Hof das arme Kalb kommt.      ***     95% aller weltweit zu Leder verarbeiteten Häute stammen von Rindern, Kälbern, Schafen, Ziegen und Schweinen als Abfallprodukt der Lebensmittelindustrie. Das Tragen von Leder wird im Allgemeinen akzeptiert, nach dem Motto »Die Viecher sterben ja eh!«     Aber wer weiß schon, dass die Lederbearbeitung das Leben vieler Menschen in Gefahr bringt. In Deutschland gibt es nur noch wenige Gerbereien. Unsere Umweltauflagen sind streng, die Häute im internationalen Vergleich dadurch teuer. Es wird überwiegend in Lateinamerika und Asien hergestellt, wo es kaum oder gar keine Umweltschutzbestimmungen gibt. Laut PETA werden heute über 80% aller Häute mit Chrom gegerbt. Die Chromgerbung belastet dabei nicht nur die Gewässer der Umgebung, weil die giftigen Chemikalien ungeklärt abgelassen werden. Oft stehen die Arbeiter direkt über oder

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gar in der Gerb-Lauge – ohne Atemschutz und Schutzkleidung. Nicht selten werden auch Kinder eingesetzt. Erkrankungen wie Durchfall, Asthma, bronchiale Infekte und Hauterkrankungen gehören zur Tagesordnung der Arbeiter, vom Krebsrisiko ganz zu schweigen.     ***     Okay, wir verzichten einfach auf Leder und verlassen uns auf Materialien wie Schurwolle. Da stirbt kein Tier und Menschen kommen auch nicht zu Schaden. Denkste.     Australien stellt etwa 50 Prozent der weltweit produzierten Merinowolle her. In den Sommermonaten kommt es bei den Schafen oft zu Überhitzung. Feuchtigkeit sammelt sich in ihren Hautfalten. Das zieht Fliegen an, die ihre Eier in diesen Falten ablegen. Um einen Befall mit Fliegenmaden zu verhindern werden australische Merino-Schafe dem sogenannten »Mulesing« unterzogen. Lämmern werden bei vollem Bewusstsein Fleischstreifen von den hinteren Beinen und im Bereich des Schwanzes weggeschnitten. Das Ziel ist dabei eine glatte, vernarbte Fläche, auf der sich keine Fliegen ansiedeln können, um ihre Eier abzulegen.     Dann Baumwolle. Dagegen kann man wohl kaum was haben … Um ein Kilogramm spinnfähige Baumwollfaser herzustellen braucht man laut Greenpeace 25.000 Liter Wasser.     Die USA subventionieren ihren Baumwollanbau in einem Maße, dass west-afrikanische Bauern mit ihren nicht-subventionierten Preisen auf dem Weltmarkt keine Chance mehr haben. Afrikanischen Baumwollbauern nimmt man so ihre einzige Einnahmequelle – und das, obwohl die handgepflückte afrikanische Baumwolle qualitativ besser ist als die maschinen-geerntete amerikanische.     Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO sterben jährlich 28.000 Menschen durch den Pestizideinsatz im Baumwoll­ anbau.      Wie sich andeutet, dürfte so ziemlich jedes Produkt, das bei uns zum Kauf angeboten wird, Probleme in sich bergen. Was nervt, sind Leute, die vermeintlich was gegen Pelz und teure


Klamotten haben, aber gleichzeitig billiges Zeug bei Ketten einkaufen, sich über dessen Herkunft aber keine Gedanken machen. Alles, was in Masse hergestellt wird – ob Pelz, Leder, Wolle oder jedes andere beliebige Produkt – hat höchstwahr­schein­lich negative Effekte auf Umwelt, Tier und Mensch.     ***     Um ein Produkt preisgünstig herstellen zu können, muss es aber in Masse hergestellt werden. Je weniger wir für ein Produkt bezahlen wollen, desto mehr leiden in der Regel Tier und Umwelt und desto weniger verdienen die, die das Produkt herstellen. Natürlich ist die Demokratisierung der Mode – Luxus für alle – eigentlich super. Ich ziehe auch lieber Kaschmir an als kratzige Reißwolle. Die Frage ist aber: Welche Folgen haben die immer weiter sinkenden Preise?     Ein Freund hat sich letztens bei mir beschwert, dass ein Kaschmir-Pulli bei COS inzwischen 99 Euro kostet: »Irgendwo hört’s ja auch auf!« Ich habe ihn zuerst missverstanden und mich gefreut, dass er sich über den Verfall der Preise bei Klamotten genauso aufregt wie ich. Aber eigentlich fand er’s zu teuer …      Ein Kalkulationsbeispiel: Das Sakko eines Berliner Designers kostet im Laden 650 Euro. In Deutschland verlangt ein Schneider zur Herstellung (ausschließlich das Anfertigen, nicht die Schnittentwicklung) eines Herren­ sakkos circa 100 Euro. Dazu kommen Materialkosten von – sagen wir – 30 Euro (und das ist dann noch nicht mal Kaschmir – da würden wir nochmal circa 60 Euro drauflegen). Der Designer des Sakkos muss seine Kosten (Schnittentwicklung, Miete und so weiter) decken und will ja auch noch ein bisschen was an dem Stück verdienen und schlägt aus diesem Grund auf die 130 Euro wiederum 100% drauf. Genauso geht es dem Handel (Ladenmiete, Personal, Werbung, Umsatzsteuer…) und kalkuliert weitere 150% auf die 260 Euro. Das ergibt den Verkaufspreis von 650 Euro.     Das findest du viel? Der freie Schnittmacher, der den Schnitt für das Sakko fertigt, verlangt um die 200 Euro am Tag. Die gleiche Leistung im an-

gestellten Verhältnis kostet einen Arbeitgeber inklusive Sozialabgaben circa 3000 Euro im Monat. Einen solchen Schnitt zu erstellen dauert bis zu einer Woche.     Und jetzt überleg mal, was du verdienen willst. Als freier Art Director verlangt man in Berlin so 500 Euro pro Tag. In Hamburg kriegt man etwas mehr – ab 700. Stylisten und viele andere Berufe liegen in ähnlichen Bereichen.     Was für eine Näherin in Rumänien oder China übrig bleibt, wenn das gleiche Sakko im Laden 149 Euro oder sogar noch weniger kostet, darf sich nun jeder selber ausrechnen – letzten Winter habe ich in einem Ramschladen nahe dem Alexanderplatz eine Daunenjacke für 9,99 Euro gesehen. Dabei sollte man beachten, dass der Anteil der Produktionskosten, der dem Näher in Fernost zuteil wird wegen mangelnder arbeitsrechtlicher Vertretung gegenüber seinem Arbeitgeber, nicht so groß sein dürfte wie der seines europäischen Kollegen. Kinderarbeit, anybody?      Je günstiger ein Produkt bei uns im Laden ist, desto weniger bekommt der Arbeiter, der das Produkt hergestellt hat und desto minderwertiger ist der Wareneinsatz. Es ist die Nachfrage nach billigem Leder, die zu schlecht bezahlter Arbeit in der sogenannten dritten Welt führt. Nicht die Nachfrage nach einem teuren Nerz.     Die Preisbereitschaft der Konsumenten sinkt immer weiter, weil sie sich an das niedrige Preisniveau gewöhnen und schnell nicht mehr bereit sind, den Preis zu bezahlen, den ein Produkt eigentlich wert ist. Die Produkte müssen immer günstiger werden. Inzwischen gibt es schon chinesische Sportartikel-Hersteller, die in Afrika fertigen lassen müssen, weil die Lohnkosten im eigenen Land zu hoch sind.      Pelze sind handgefertigte Produkte, keine Massenware. Kürschner behaupten, darauf zu achten, dass die Felle, die sie verarbeiten, von guter Qualität sind. Nur ordentlich gehaltene Tiere liefern guten Pelz. Ich weiß leider nicht, ob ein gezüchteter Nerz für einen teuren Pelz ein schöneres Leben hatte als das

HUEN trägt Jogger mit Pferdeledereinsätzen und Oberteil aus Kalbsfell und Kalbsleder

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Michael Lasch trägt Fell vom afrikanischen Steppenrind.

alfredo-lifestyle.deRatschläge

zum Thema Lebensmittel. Es gibt da noch Bekleidung oben), Bio versus Öko 1 , Energie, Klima, Wohnen, Auto, Arfoodwatch.detenschutz und so weiter und so fort.     Nach zehn Minuten greenpeace.degebe ich auf, mich durch die Ratgeber der verschiedenen Websites kuerschner-innung.dezu wühlen. Die Liste wäre sehr lang geworden und hätte gezeigt, made-by.orgdass es in der Welt, in der wir hier in Europa leben unmöglich ist, peta.devollkommen korrekt zu leben. Und nun? Karma-Alarm im Prenzstellamccartney.comlauer Berg!     ***     Jeder soll selbst entscheiden, welthungerhilfe.deob er Pelz tragen will oder nicht. Oder Leder, oder was auch immer. wwf.de  Ich begrüße es natürlich, wenn es Menschen gibt, die in ihrer eigenen Kalb für unser Schnitzel. Aber beim eigenen Teller hören die meiskleinen Welt viele kleine Schritte tun, um die große Welt in der wir ten dann doch auf zu überlegen: Hauptsache es ist viel drauf, gut Leben ein bisschen besser zu machen.      Aber geht mir und billig.     ***     Indien beheimatet eine Religinicht auf den Sack mit eurer elenden Hypocritical Correctness – on namens Jainismus. Ähnlich wie Buddhisten sehen Jains jedes diese Vereinfachung: Pelzträger sind Scheiße, Bio-Laden-Leute Lebewesen einem Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt untersind cool. Informiert euch und bezieht Stellung. Im Prenzlauer Berg worfen. Nur eine reine Seele kann diesen verlassen und in den zu wohnen, samstags auf’m Bio-Markt am Kollwitz-Platz zu bumhöchsten Himmel aufsteigen, um dort in ruhiger Seligkeit zu vermeln und der regelmäßige Besuch eines beheizten Yoga-Studios harren. Eine solche Reinigung der Seele erreichen Jains durch sittzählt übrigens nicht und exkulpiert noch lange nicht von all den anliche Lebensweise und Askese.      Die drei ethischen deren täglichen Vergehen.     Wer konsumiert, macht sich Grundprinzipien des Jainismus sind Gewaltlosigkeit gegenüber almit schuldig. Der Pelz-Träger gegenüber dem Tier genauso wie der Billen Lebewesen, Unabhängigkeit von unnötigem Besitz und Wahrligflieger gegenüber der Umwelt oder der Kaffee-Trinker gegenüber haftigkeit. Jains leben vegan, kein Tier oder Lebewesen darf für sie den Entwicklungsländern. Natürlich kann man versuchen, seine sterben. Sie können nicht jeden Beruf ausüben. Beim Pflügen von Schuld zu minimieren, indem man versucht, Produkte aus MassentierAckern beispielsweise könnten Lebewesen verletzt oder getötet haltung zu vermeiden oder gar vegan lebt, Urlaub in Deutschland werden.     Manche Anhänger dieser Religion – in unserer macht und Fair-Trade-Kaffee trinkt. Aber keiner in der westlichen Welt entgeht dem Teufelskreis des Konsums.2     Mit dem Hass auf Welt würde man sie Fanatiker nennen – tragen gar Mundschutz Pelzträger beruhigen wir nur unser schlechtes Gewissen, weil wir und kehren den Boden vor jedem Schritt um nicht versehentlich meistens selber so viel Dreck am Stecken haben. Es ist einfach, PelInsekten zu verschlucken oder totzutreten. In Indien gibt es etwas ze zu verabscheuen, wenn man sich selbst keinen leisten kann. Ich über vier Millionen Jains; verglichen mit 900 Millionen Hindus stelle mir gerade vor, H&M kündigte eine Kooperation mit Fendi an eine verschwindend geringe Anzahl. Kein Wunder, bei den stren– ein Nerzmantel für 199,00 Euro das Stück. Ich bin mir sicher, dass gen Regeln.     Es ist leicht erkennbar, warum es in einer so manche Pelzgegnerin ihre Meinung über Nacht ändern würde. Stadt wie Berlin schwer fallen dürfte, wie ein Jain zu leben. Sobald Und zwar in der Nacht, in der sie sich in die Schlange vor ihrer H&Mwir morgens einen Fuß aus dem Bett setzen, sind wir dabei uns geFiliale stellt um morgens eine der Ersten zu sein. genüber Mensch, Tier und Umwelt zu versündigen.     In der westlichen Welt haben wir Tier- und Umweltschutz-Organisationen wie PETA und Greenpeace, die uns ins Gewissen reden. Eigentlich sollte hier eine Liste stehen, die die Tipps verschiedener solcher Organisationen zusammenfasst: Fleisch nur von ÖkoBauern aus der Umgebung, damit der qualvolle Tiertransport 1 Übrigens: Zwischen Bio und Öko gibt es einen erheblichen Unterschied. Wer Bio isst kann trotzdem wegfällt; wann wächst welches Gemüse bei uns, damit es nicht aus der Umwelt schaden! Es ist heute durchaus üblich, Bio-Erdbeeren aus Spanien einzufliegen. Das ist nicht ökologisch. Wer versucht, sich vollkommen Öko zu ernähren, der wird bald an die Grenzen der Beschaffung und Spanien eingeflogen werden muss; auf welche Pestizide muss man seiner Zeit stoßen und sich überlegen müssen, ob er seinen Job zugunsten der Umwelt aufgibt … beim Lebensmitteleinkauf achten; welche Öko-Siegel weisen ein 2 An alle Konsumverweigerer (aka Punks): Zur Herstellung von einem Kilogramm Aluminium für ungefähr 47 Dosen Sternburg werden 72 kWh (Kilowattstunden) Energie verbraucht. Allein mit dieser Energieunbedenkliches Kleidungsstück aus; wie erkennt man Gen-Food; menge könnte man eine Stromsparlampe zehn Monate lang ununterbrochen brennen lassen. Um dieses eine wie und wo muss man seinen Kühlschrank aufstellen, damit er Kilogramm zu erzeugen, werden vorher unter anderem 1,3 Kilogramm Braunkohle benötigt, 5 Kilogramm Heizöl eingesetzt und 2 bis 4 Kilogramm Rotschlamm (mit 40 bis 50 Prozent Wassergehalt) als Abfall erzeugt. Prost. nicht zu viel Energie verbraucht … und das waren nur die fendi.com(siehe

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Klima  Das Klima wird ja immer schlechter, sagen die Analysten; sowohl die vom Wetter als auch die von der Wirtschaft. Für die Verbesserung des einen soll man jetzt Autos kaufen, für die Verbesserung des anderen würde eine Abkehr Otto-Motor ordentlich was bringen. Eine klassische Patt-Situation. Einzige Lösung: Atomautos. Die kosten absurd viel und kurbeln das Wirtschaftsklima an. Dazu wird kein Feinstaub und böses CO2 ausgestoßen. Perfekt! Fair-Trade-Kaffee Fair-Trade ist Buzzword bildungsbürgerlicher Gewissensund Wirkungssportler. Bei Kaffee passt die Bedienung eben solcher Gewissensreflexe wie die Faust aufs Ausbeuterauge, will man sich den morgendlichen Genuss inkl. taz und Bio-Brot doch nicht kaputt machen lassen.

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HUEN trägt Jogger mit Pferdeledereinsätzen und Oberteil aus Kalbsfell und Kalbsleder. Michael Lasch trägt Felljacke vom afrikanischen Steppenrind und Ärmel aus Ziegenleder (links), Lederjacke aus Ziegenleder und Pferdelederärmel (unten).

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Ich glaub’, ich sterb’ im Wald von Samir Omar

Es ist leicht zu sterben,

aber sch wer zu leben …

( Japanisches Sprichwort )

Es gibt unzählige Bücher, die über berühmte Orte vergerade in der patriarchalischen japanischen Gesellschaft ein leichfasst werden und es gibt Orte, die werden erst berühmt, nachdem ein tes »sein Gesicht« zu verlieren. Dies schlägt sich auch in den statisBuch über sie veröffentlicht wurde. Einer dieser Orte heisst Aokigatischen Zahlen nieder: über 75% der Selbstmörder sind männlich. hara und liegt in der Präfektur Yamanashi nordlich des Fujisan, in Als Oberhaupt, Beschützer und Ernährer seiner Familie ist es die Europa besser bekannt als Fujiyama. Samir Omar führt uns in den Pflicht des Mannes, stets sein Bestes zu geben und den größtmögdichten Wald der Selbstmörder.     Aokigahara ( jap. »Das lichen ( beruflichen ) Erfolg anzustreben. Wenn dieser Mann nun Meer aus Bäumen« ) ist ein Waldstück von ca. 3.500 Hektar, das in seinen Job verliert, völlig egal ob aus konjunkturellen oder persönJapan längst traurige Berühmtheit erlangt hat. Der sehr dunkle, lichen Gründen, verliert er sein Gesicht, somit seine Ehre und geda dicht bewachsene, Wald ist das beliebteste »letzte Ausflugsziel« samte Reputation. Da der Shintō-Buddhismus, die frühere japanifür Selbstmörder in Japan.     Das hätte sich Matsumosche Staatsreligion, keine dogmatische Religion ist, es im Gegensatz to Seicho beim Verfassen seines Romans »Meer aus Bäumen« Anzum Christentum ( Selbstmord = Sünde = ewige Verdammnis und fang der 1960er Jahre wohl kaum eralbträumen können. Denn erst Höllenqualen)  keinerlei festgeschriebene Regeln bzgl. des Suizids seit Erscheinen der beiden Bücher Nami no tō ( 波の塔 Der Wellengibt, steht es dem »Verlierer« nun frei den Tod zu wählen. Schließturm ) und Kuroi Jukai ( 青木ヶ原 Meer aus Bäumen ) reist das ohlich gibt es nach dem religiösen Verständnis des Shintō-Buddhisten nehin schon suizidvernarrte Volk aus dem Land des Lächelns zudabei keinen Blumentopf zu gewinnen. Auch wenn Buddha vom Suhauf an, um dort die letzte Reise anzutreten.     Der Roman izid abrät, verurteilt er ihn nicht. Das ethische Dilemma der dogüber zwei unglücklich Verliebte, die am Fuße des Fujisan Suizid matischen christlichen Lehren kennt der Shintō-Jünger nicht, begehen, gab den Startschuß für den Ansturm der Lebensmüden. weiß er doch, dass er mit seinem Karma die ungelösten Probleme Gnadenlos wurde der bis dahin sehr populäre Mihara-Vulkan auf aus seiner alten Existenz wieder in das neu inkarnierte Leben mitder Insel Izu-Oshima vom Suizid-Thron gestossen. Trendbewusste schleppen und dort dann lösen muss.     Hier greift nun Selbstmörder schluckten ihr Gift von nun an am liebsten im Aokigaein genereller Wertewechsel, der sowohl in Europa als auch in Asihara Areal. Auch bei so makabren Betätigungen scheint es – spezien anzutreffen ist.     Die nachrückenden jüngeren Geneell in Japan – gewisse Moden zu geben, welche sich nicht nur auf den rationen sind immer weniger an Religion interessiert. Ohne ethiOrt, sondern auch auf die individuell zu wählende Todesursache sches Bewusstsein oder Angst vor Samsara, dem buddhistischen niederschlagen. Wer heutzutage die Worte »Japan« und »SelbstDaseinskreislauf, sinkt die Hemmschwelle um ein Vielfaches. In mord« hört und dabei nur an den traditionellen »Seppuku« ( 切腹 ) der Konsequenz schnellt die Selbstmordrate unter den Schülern denkt, lebt hinter dem Mond. Das ritualisierte Aufschlitzen des Bauder zweitgrößten Wirtschaftsnation der Erde in ungeahnte Höches unterhalb des Nabels, angeblicher Sitz der Seele, mittels eines hen. 27.000 Anrufe nimmt die Suizid-Schüler-Hotline allein im Wakizashi ( 脇差 ), wurde das letzte Mal 1970 von dem nihilistischen Großraum Tokio jede Woche entgegen.     Mit 23,7 SelbstSchriftsteller Yukio Mishima, als in der Presse angekündigte, memorden pro 100.000 Einwohner ist Japan in den Statistiken weltlodramatische Kunstaktion, vollzogen. Heutzutage wird auf andere weit auf Platz 11. ( Spitzenreiter dieser unrühmlichen Liste ist LiWeise mit der Unendlichkeit fusioniert. Wer die weite Reise scheut, tauen mit 38,6 pro 100.000 Einwohner) . Inoffizielle Quellen sagen, oder nichts dagegen hat noch ein paar Helfer oder Unbeteiligte ins die Rate läge um einiges höher. Allein im Jahr 1999 haben 163 TeenUnglück zu stürzen, der beendet in Japan neuerdings sein trostloager in Japan Selbstmord begangen, auch wenn dies im Vergleich ses Dasein bevorzugt mit Schwefelwasserstoff, einem Gas, das nach zu den 34.000 Fällen in ganz Japan noch recht harmlos anmuten faulen Eiern riecht. Wenn man bedenkt, dass in drei Monaten, zwimag.     Als Hauptgrund für diese alarmierenden Zahlen schen März und Juni 2008, schon über 180 Menschen ihr Leben auf wird »Ijime« ( abgeleitet von »ijimeru«, quälen)  benannt. Der ohnediese Weise beendeten, obgleich der erste festgestellte Schwefelhin schon, für westliche Memmen kaum vorstellbare, immens hohe wasserstoff-Fall erst im Juli des Vorjahrs bekannt wurde, dann ist Druck auf die Schüler, seitens der Familie, der Schule und der Gewohl nicht der schnell eintretende Tod die einzige Begründung. Es sellschaft, wird dort noch um das gezielte Mobbing von Schülern inhat sich ein makaberer Trendtod etabliert.     Eindeutige nerhalb eines Schul- bzw. Klassenverbandes ergänzt. Seit 1994 gibt Statistiken über die Lieblingstodesursachen im Aokigahara-Gebiet es von den Schulbehörden einen Maßnahmenkatalog, der die Idenwerden wohlweislich nicht veröffentlicht, aber wenn die Behörden tifizierung von ausgeübtem Ijime erleichtern und Ansätze zur Probbei ihren jährlichen »Aufräumaktionen« mal wieder knapp 100 Leilemlösung anbieten soll. Obwohl Ijime / Mobbing kein exklusiv den chen aus den besser zugänglichen Teilen des Gebiets bergen, wird Japanern vorbehaltenes Problem ist, lassen sich mit der hohen Kingrößtenteils Erhängen, oder Vergiften mittels Medikamenten diader- und Jugendselbstmordrate auch Rückschlüsse auf tiefsitzengnostiziert. Wie viele arme Teufel tatsächlich im Unterholz verrotde strukturellen Probleme der japanischen Gesellschaft ziehen. ten, weiß niemand so genau. Am ehesten noch die Leichenfledderer, Denen wiederum in dem einstmals unschuldigen Waldgebiet am die systematisch die Wege abgehen, um die Wertsachen der VerbliFuße des heiligen Fujisan – das Matsumoto Seicho so einfühlsam in chenen an sich zu nehmen. Ein Aspekt der von Behörden und Medi»Meer aus Bäumen« beschrieben hat – ein jähes Ende gesetzt wird. en gerne totgeschwiegen wird.     Die Hintergründe für die Der umtriebige Autor, der über 450 fiktionale und Sachwerke gerelativ hohe Zahl der verübten Suizide in Japan sind, der menschlischaffen hat, nahm an seinem selbstgeschaffenen Selbstmord-Kult chen Natur entsprechend, vielfältig und individuell. Trotzdem ist es nicht teil. Er starb 1992 im Alter von 83 Jahren an Krebs. Mobbing  Richtig praktiziert steht Mobbing für Terror an Arbeitsplatz und Schule. Wer’s professionell angehen will sollte allerdings folgende Disziplinen aus dem Effeff beherrschen: Gerüchte verbreiten, soziale Isolation initiieren, unnötige Arbeitsaufgaben verteilen, und mit Gewalt drohen.

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VOR & ZURÜCK: Speed- statt Autobahnen!

Wer wählen geht, ist selber schuld. Das kann man im Superwahljahr nicht oft genug sagen. Wer nicht wählen geht, wählt die Nazis, sagt Mutti immer noch, weil ihr auch nichts Besseres einfällt. Wer wählt, wählt FDP, auch wenn man lange Zeit dachte, das wäre gar keine Partei. Und das ist nicht mal das größte Problem.     Demokratiereste finden heute bei Onlinepetitionen, Myspace Bulletins und Facebook Gruppen statt. »Ich habe ne Mail von Dr. Motte bekommen, der ist jetzt auch auf Grundeinkommen.«     Neoliberale Scheiße sei das, schreibt jemand auf Myspace über das undefinierte Grundeinkommen. Von hintenrum das Sozialsystem abschaffen. Aber leider haben die Meisten dieses Statement gar nicht mitbekommen, gibt es doch gerade auch unter den bei Youtube eigene Filmchen postenden Strohhalmpolitikern eine Massenflucht zum Konkurrenten von Microsoft. Kritik ist ja auch eine Frage des Lifestyles.     Denken findet nur noch in Form von Statusmeldungen statt: »User XY mag keinen Regen«, denkt User XY, wenn er nass an der U-Bahn ankommt. Selbst Handlungen werden vollkommen ironiefrei vorgetragen: »User XY geht jetzt in den Supermarkt«. »Verbergen« heißt der Überlebensklick bei dieser Emo-Infoflut, bevor man auch noch anfängt in Statusmeldungen zu sprechen.     In den Kommentaren der FriendsUrlaubsfotos beschwert sich User XY darüber, dass die verdammten Bewohner der Drittweltländer ihn am Strand ständig angequatscht haben. Nebenbei kommentiert er, dass Slumdog Millionaire wirklich jeden Oscar verdient hätte. Endlich mal jemand, der sich mit den schlimmen Lebensbedingungen der armen Inder-Kinder auseinandersetzt und einer Handvoll ein paar Nächte im Sterne-Hotel bucht. Und danach werden sie von Madonna adoptiert, »als würde das Märchen des Filmes Wirklichkeit werden«.     Dabei müsste doch auch der letzte Prokrastinations-Trend-Loser verstanden haben, dass das Superqualjahr nicht mit Blödrederei und Kleinkunstscheiß rumzukriegen ist. Ich erwähne in diesem Zusammenhang gerne die aktuelle Untersuchung von Bildungsforschern, die besagt, dass Studenten »unpolitisch und resigniert« seien. Über 50 Prozent der Flitzpiepen sind für »härtere Strafen für Kriminelle« und ein Viertel der neuen deutschen Eliten ist dafür, nicht zu viele Ausländer ins Land zu lassen. Solche Leute trinken sicher auch den lustigen Teamwork-Tee oder den Stun-

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von L au r a E w e rt

denlang-Quatschen-Tee, der gerade im Discounter um die Ecke im Angebot ist.      Im anderen Teil der jungen Gesellschaft heißt der neuste Trend übrigens: Club aufmachen oder Parkparty veranstalten, je nach Raveerfahrung. Da haben diese Individualisierungshonks echt ordentlich mitgerätselt beim Konjunkturquiz: zu retten ist die Welt nämlich einzig und allein mit der Abfuck/ kack Prämie (L.E.). Speed- anstatt Autobahnen! möchte man seinen Mitmenschen zurufen.     Von dieser prima Herangehensweise an die große Depression wird man nur leider nichts in den Medien mitbekommen. Die sind nämlich damit beschäftigt, minderjährigen, hinter Pixeln versteckten Selbstdarstellungsopfern hinterherzujagen und Bilder von Amok, Kotze und Kinderfickern zu besorgen. Für den Nah-Dran-Effekt. Dienst am Kunden und so.     Der feinsinnigere Teil der Mediennutten triezt uns derweil mit der fiesen 90er Revival-Welle und ihrer ganzen trashigen Hässlichkeit, bis auch der letzte Hipster begriffen hat, dass sein Arsch in der 501 einfach scheiße aussieht. Aber hey, selbst die komplette Bravo Hits Sammlung von 93 bis 99 kann einen Zyniker nicht zu einem Träumer machen. Deswegen wird das mit den ganzen Wahlen ja auch nichts.


London’s Burning Down

London’s Burning Down

London hat als Modestadt einen ganz eigenen Stellenwert. Das kann man zum Beispiel auf den Schauen der Fashionweek erkennen, die in der angelsächischen Hauptstadt kreativer und einfalls­ reicher als in Paris, New York und Berlin ablaufen. Aber wer schon mal in London shoppen oder fei­ ern war, der hat bestimmt auch schon, wie Do r a M e n tz e l, über die bizarren Highstreet­ trends gewundert, die Tabloidsternchen schneller kopieren werden als Agyness Deyn blinzeln kann.

Der Mode mancher Londoner nach zu urteilen, muss man annehmen, dass Auffallen durch Hässlichkeit in dieser Stadt sehr groß geschrieben ist.     Die Londoner scheinen einst verpönte Trends wie den Oberlippenbart oder hautenge Jeans an dürren Männerbeinen perfektioniert zu haben. Schon die Punks fielen in den 70ern durch ihren gewollt verwahrlosten Stil auf. Letztendlich fanden sie Anerkennung in der Modewelt, was man größtenteils der Queen of Punk Vivienne Westwood zu verdanken hat. So gehört ihr Style heutzutage fast schon zum Mainstream.     Auch heute dient die Formel »Mut zur Hässlichkeit« als Mittel zum Zweck. Wer was auf sich hält, fällt durch das Kombinieren von Unvorteilhaftem mit Modischem auf und schafft dadurch eine neue Ästhetik. Nicht ohne eine gehörige Portion Selbstironie.     Die verwöhnten Teenager aus den reicheren Vierteln Londons scheinen dieses Prinzip noch nicht so ganz begriffen zu haben. Denn Pubertierende tun vor allem eins: Sie nehmen sich selbst sehr ernst. Der wohl zur Zeit beliebteste Look unter den mauligen Schönheiten aus West London verkörpert ein Bild, das bei den meisten Modebewussten auf völliges Unverständnis trifft.     So gehört es mittlerweile zum Stadtbild, Mädchen mit ungebändigter Riesenmähne, dunklem, verwischten Augenmakeup, in Schlafanzughose mit pantoffelartigen Ugg-Boots anzutreffen als wären sie soeben nach einer durchfeierten Nacht aus dem Bett gefallen. Anfangs löste dieser Aufzug bei den Londonern noch ein leichtes Schmunzeln aus. Es fielen gut gemeinte Kommentare wie »Na Schätzchen, war wohl spät gestern?«, was von Seiten der Teens nur ein genervtes Augenrollen auslöste. Inzwischen hat aber auch wohl der letzte kapiert, dass dieser Aufzug Absicht ist und schämt sich vielleicht ein bisschen mit. Überhaupt ist es ist fraglich, ob irgendjemand über 20 diesen Trend versteht.     Die Tochter Peaches Geldof machte es vor, als sie mit her »annoying best friend« Fifi einst im Pyjama-Look abgelichtet wurde. Ihr weiblicher Fanclub eifert ihr ergebenst nach. Das wohl lästigste Produkt aus der britischen Pop-Kultur steht sinnbildlich für eine ganze Generation von englischen Nervensägen. Sie ist nicht die einzige, die beweist, dass man heutzutage auch mit wenig Talent große Aufmerksamkeit erlangt und ans ganz große Geld kommt. Die einzige Voraussetzung: das »Glück« einen einflussreichen, berühmten Elternteil zu haben und somit in den Medienrummel hineingeboren zu werden.     So haben wir uns in der heutigen Welt nach jahrhundertelangen Kämpfen für die Unabhängigkeit und Freiheit des Einzelnen unseren eigenen modernen Hochadel geschaffen. Hier kommt weiter, wer in die Prominenz hineingeboren wurde. Auch wenn allgemein oft behauptet wird, dass in einer Paris Hilton eine kluge Geschäftsfrau steckt – wirklich können muss man eigentlich nicht viel. Und auch Peaches und Co. haben ganz tolle PR-Agenten. Wenn man auf der Straße einen Blick nach unten wirft oder Klatschmagazine durchblättert, fällt eines auf: Ugg Boots  kommen scheinbar nicht aus der Mode. Seit Jahren sieht man die hässlichsten aller Stiefel Frauenbeine umschließen. Und gerade für junge Mädchen und solche, die sich so fühlen, scheinen diese multifunktio­ nalen Fellstiefel das perfekte Accessoire zu den zu kurzen Röcken und dem etwas zu vulgären Make-Up zu sein. Überhaupt sind diese Treter das Multifunktions-Schuhwerk unserer Zeit, da man die hässlichen Dinger sommers wie winters tragen kann ohne Schweißfüsse zu bekommen. So wie Opa vor Stalingrad in den Stiefel pullerte, können die Ugg-Boot-Ladys besoffen in ihre Stiefel kotzen, allerdings hat das keinerlei Nutzen.

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Merkwürdige Mädchen

Merkwürdige Mädchen

Virginia und Georgia Gruczechy haben seit Jahren mit niemandem gesprochen. Sie leben in der geschlossenen Anstalt Mayfield und sind eine Einheit, in die niemand von außen eindringen kann. Dennoch unternimmt die ehrgeizige Ärztin Dr. Karp den Versuch – und wird von ihnen umgebracht. Im Anschluss an den Mord wohnen die beiden in einem trostlosen Vorort von Pittsburgh und frönen ihren Hobbys: Sie bestellen Kataloge, Homemade-Pornos, schreiben Geschichten und schneiden Bilder übersinnlicher Phänomene aus. Ihre hermetische Welt wird das erste Mal wirklich durchbrochen, als sie sich auf den Weg machen, um nacheinander mit Jamal zu schlafen, der Virginia mehr Aufmerksamkeit widmet. Die Eifersucht von Georgia auf ihre Schwester ist geweckt. Im Laufe des Filmes bricht der Konflikt der beiden immer mehr auf: Georgia kämpft um die Nähe ihrer Schwester, während Virginia unter der Enge, aber vor allem unter dem Sadismus der Schwester leidet. Die Komplikationen der beiden erreichen ihren Höhepunkt als Max Posnick, ein pensionierter Polizist und Security-Angestellter, in der Mayfield-Klinik, die Schwestern des Mordes an Dr. Karp verdächtigt und Ermittlungen unternimmt.     Genau wie Virginia und Georgia bleiben auch die Schwestern Fitzgerald lieber unter sich. Die anderen Kinder in der Schule nerven; die Mädchen noch ein bisschen mehr als die Jungs und ihre Eltern sind fremdartige Wesen. Das Gerede der Mutter strengt an, dringt nicht zu ihnen durch. Auch sie haben ein gemeinsames Hobby: Ginger stellt Selbstmordszenen nach und Brigitte filmt sie dabei. Je morbider, desto besser. Während einer der Fototouren wird Ginger von einem Werwolf entführt und gebissen. Obwohl Brigitte in Gingers Geheimnis eingeweiht ist, fühlt sie sich zunehmend alleine damit. Ginger fällt es schwer, mit den Veränderungen ihres Körpers umzugehen, wird sexueller und das erste Mal von Jungs wahrgenommen. Während ihre Eltern davon ausgehen, dass Ginger bloß ihre Periode bekommen hat, weiht Brigitte in der Schule den beliebten Sam ein, der mit einem Gegenmittel helfen will – in Gingers Augen der Verrat an ihrem Vertrauensverhältnis. Um Ginger nicht zu verlieren, lässt sich Brigitte auch in einen Werwolf verwandeln.     Die Feinde, mit denen sich die beiden Schwestern Bae SooMi und Bae Soo-Yeon herumschlagen müssen, leben mit ihnen unter einem Dach. Gemeinsam mit ihrem passiven Vater und ihrer fiesen, fast schon klassisch bösen Schwiegermutter, bewohnen sie ein unheimliches Haus am Rande eines Kornfeldes. Hier werden sie von bösen Geistern bedroht, die nicht fassbar sind: Mal sind es bloß Schreie, dann wieder liegen tote Mädchen unter den Küchenmöbeln. Soo-Yeon reagiert auf diese bedrohliche Welt zurückhaltend, Soo-Mi wehrt sich, schreit, streitet und beschützt die kleine Schwester. Doch hier sind es keine Eindringlinge, die die hermetische Welt der beiden Schwestern stören, sondern es ist die Realität selbst, die das Leben der beiden zerstört: Soo-Mi muss einsehen, dass sie ihre kleine Schwester Soo-Yeon nicht beschützen kann, denn sie ist am selben Tag wie die Mutter gestorben, ihre Schwester ist bloß noch eine Einbildung und Soo-Mi für immer alleine.     »SHE JUST DOESN’T UNDERSTAND THAT VIRGINIA’S AND MY LOVE FOR ANOTHER IS A SHIELD OF ARMOUR. OUR WILLS TOGETHER ARE GREATER THAN HERS!«     Die drei Filme heißen »Strange Girls«, »Ginger Snaps« und »A Tale of Two Sisters« und haben das gleiche Thema: Zwei

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Das Repertoire der Filmfiguren ist mehr oder weniger festgelegt, die gleichen Charaktere werden mit minimalen Verschiebungen in den Darstellungen immer wieder neu durch dekliniert. Aber es gibt Hoffnung am Horizont der Horrorfilme, denn Ni n a S c hol z hat die Strange Girls entdeckt.

Schwestern, am Beginn ihrer Pubertät, schaffen sich durch Vertrautheiten, Geheimnisse und geteilte Interessen eine eigene Welt, zu denen andere keinen Zugang haben. Sie sind Außenseiterinnen in ihrer Welt, aber die Heldinnen dieser übersinnlichen Filme. Sie stecken in typischen Teenagerdilemmata, denn sie sind erwachsene Kinder. Virginia, Georgia und Ginger rauchen, nicht wie kleine Mädchen, die das erste Mal konzentriert am Glimmstängel ziehen, sondern wie Frauen, die ständig in Betten, auf Straßen und an Kneipentresen qualmen. Sie übernehmen Verantwortung füreinander, fühlen sich »weiter« als die Mädchen in ihrer Schule. Auf der anderen Seite sind sie Spätentwickler: Ihre hermetische Welt kennt kein Verliebtsein, keine Jungsgeschichten, sie misstrauen allen Erwachsenen, bekommen erst im Laufe der erzählten Geschichten ihre erste Menstruation. Sie sind zwei Körper, ein Geist, was in »Tale of Two Sisters« auf die psychoanalytische Spitze getrieben wird, weil sich am Ende herausstellt, dass nur Soo-Mis Körper überhaupt in der Welt existiert. Erzählt werden Geschichten über Einsamkeit, Abnabelung und die Schmerzen, die das verursacht, aber auch die Verletzungen, die sie selbst ihrer Umwelt zufügen. Außerdem geht es um die düstere Seite weiblicher Freundschaft, vor allem der junger Mädchen: Es geht um Manipulation, Klaustrophobie, Abhängigkeit und Obsession.

F  reaks, Geeks and Promqueens

Die Strange Girls-Geschichten fügen den Filmerzählungen, die immer und immer wieder die gleichen sind, eine neue Dimension hinzu. Sie sind weder das weibliche Komplement zu den männlichen Nerds noch eine simple Abweichung von der Figur der Popular Girls. Sie erweitern diese Geschichten, durchkreuzen sie und erzählen sie neu.     Die Geschichte des männlichen Einzelkämpfers ist eine der meisterzählten der westlichen Popkultur. Der Outlaw, gespielt von Clint Eastwood in Sergio Leone-Filmen, ist als männliche Identitätsfigur genauso erstrebenswert wie der »Rebel without a cause«, den James Dean spielte. Die Bilder, Filme, Songtexte und Comicbücher sind voll mit diesen ehrlichen, einsamen und unverstandenen Helden mit ihren Geschichten von Unabhängigkeit und moralischer Überlegenheit. In den letzten Jahren wurden diese Erzählungen modifiziert: Hübsche Jungs setzen sich dicke Brillen auf, erzählen von ihrer Vorliebe für Gadgets, identifizieren sich mit den tollpatschigen Helden der Judd Apatow-Filme und: bekommen am Ende immer noch das hübsche Mädchen ab. Der Antiheld ist der alte Held, der Geek der Rebell. Die Struktur der Geschichte wurde um eine zeitgemäße Komponente erweitert, grundsätzlich hat sich aber nichts geändert.     Auch die Erzählungen mit und über Mädchen wurden vom Hollywoodkino zeitgemäß aufgepeppt, trotzdem geht es in ihnen nicht um Unabhängigkeit, sondern um Anpassung. Moderne Teendramadys, wie »Mean Girls« mit Lindsay Lohan oder »Heathers« mit Winona Ryder, reflektieren zwar die Muster ihrer eigenen Gattung und ermöglichen den Heldinnen einen entwicklungstechnisch gesehenen individuelleren Ausweg als herkömmliche, eindimensionalere Filme dieser Art. Auch wenn es seit John Hughes und »Clueless« zum Repertoire dieser Filme gehört, den Weg der Heldin nicht ungebrochen darzustellen und auch die Antagonisten, meist die populäre Clique der

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Highschool, eine Entwicklung durchleben zu lassen, ist der Film erst dann glücklich beendet, wenn die Anpassung an die Umwelt gelungen und eine Promqueen plus Date gefunden ist.     Brian de Palmas Verfilmung von Stephen Kings erstem Buch »Carrie« schlägt erstmals die Brücke zwischen den Teendramadys und den neuen Strange Girls-Filmen. Auch hier geht es um typische Teenie-Dramen: die erste Menstruation, Erniedrigungen durch die angesagten Kids und den Prom-Ball am Ende des Films. Bloß wird Carrie für ihre Leiden nicht mit einem Happy End belohnt: das Date, die Wahl zur Ballkönigin; alles nur gelogen, denn im Moment ihres größten Glücks kippen die Mitschülerinnen Schweineblut über ihren Kopf. Aber statt in Tränen und Scham zu versinken, geht die der Telekinese mächtige Carrie in Flammen auf, verbrennt die Turnhalle, ihre Mitschüler, die Mutter und am Ende sich selbst. Stephen King selbst sagt in seinem Buch »Danse Macabre«: »Wenn »Die Frauen von Stepford« davon handelt, was Männer von Frauen wollen, dann handelt »Carrie« weitgehend davon, wie Frauen ihre eigenen Kanäle der Macht finden und wovor Männer bei Frauen und der weiblichen Sexualität Angst haben. Was seine erwachseneren Implikationen anbelangt, behandelt das Buch das Zurückschrecken vor einer Zukunft weiblicher Gleichberechtigung. Für mich ist Carrie White ein auf traurige Art miss-

brauchter Teenager, dessen Seele in der Grube von Männer- und Frauenfressern, die jede Vorort-Highschool darstellt, so oft gebrochen worden ist. Aber sie ist auch eine Frau, die zum ersten Mal ihre Kräfte spürt und wie Samson am Ende alle Tempel einreißt.« Die Kräfte kann sie leider nicht für sich nutzen, sie schafft es nicht, sich zu retten. Der Widerspruch aus Opfer und Heldin wird am Ende nicht aufgelöst. Trotzdem ebnet ihre Erzählung den Weg der Strange Girls. Deren Probleme gehen aber bereits in eine andere Richtung: Sie stehen nicht vor der moralischen Herausforderung, gegen die Gemeinheiten der angesagten Clique zu kämpfen, auch auf die Gefahr hin, dann selber gemobbt zu werden. Sie haben kein Interesse daran, dazuzugehören. Sie sind Einzelkämpferinnen, auch wenn sie zu zweit sind, um ihr eigenes Leben. Ihre Einsamkeit und ihre Verletzungen führen nicht zur Annäherung oder Anpassung.

Not your average Final Girl

Alle drei Strange Girl-Filme wurden auf fantastischen Filmfesten gezeigt, stehen in der Videothek in der Horrorfilme-Ecke und wurden in Rezensionen als solche besprochen. Trotzdem ist es nicht ganz einfach sie innerhalb der Erzählungen des traditionellen Horrorfilms, dessen Blaupause die amerikanischen Splatterfilmen der Siebziger Jahre wie »The Last House on the Left« und »Texas Chainsaw Massacre« sind, einzuordnen. Im Horrorfilm mit seinen Sequels werden die ewig gleichen Geschichten vielleicht noch etwas genauer und penibler wiedererzählt als das in anderen Gattungen der Fall ist. Dafür lohnt es sich dort auch besonders in den Erzähllücken und kleinen Verschiebungen weitere erzählte Dimensionen zu entdecken. Hauptzutat für diese Filme sind ein männlicher Täter und ein weibliches Hauptopfer, die Grundformel ist Gewalt statt Sex, das Publikum ist meist weiß, männlich und heterosexuell.

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Teendramadys  Wer das konstruierte Begriffscrossover Dramady nicht in den Mund nehmen möchte, sollte es erstmal mit Crama oder Seriocomedy probieren. Und? Eben! Tatsächlich beschreibt der Begriff kein besonders neues Phänomen, wollten die Zuschauer im Theater und Kino doch schon schon immer am liebsten Lachen und Weinen. Durchgesetzt hat er sich aber erst durch eine Reihe von Teenserien wie „Gilmore Girls“, bei denen sich dramatischer Anspruch und klassischer Comedyslapstick wirklich nicht mehr trennen ließen.

Dass es so einfach aber nicht ist, hat die amerikanische Linguistin, Filmwissenschaftlerin und Horrorfilmfan Carol Clover in ihrem lesenswerten Buch »Men, Women und Chain Saws« schon Anfang der 1990er nachgewiesen. Sie hat der eindimensionalen Ansicht widersprochen, dass es nur zwei Arten gebe, Frauen im Film zu betrachten; als Leidende oder als Fetischspielplatz männlicher Lust. Gerade im klassischen Slasherfilm identifiziert sich das Publikum in der ersten Hälfte des Films mit dem Täter, in der zweiten Hälfte des Films aber mit dem als asexuell und boyish gestrickten Final Girl. Gleichzeitig widerspricht sie der Auffassung, dass Frauen keinen Spaß an diesen Filmen haben könnten, entwickelt den Begriff des »weiblichen Masochismus« und behauptet, dass der Horrorfilm – eben durch diese Durchkreuzungen der männlichen und weiblichen Identifikationen mit den dargestellten Figuren mehr als die herkömmlichen Autoren- und Hollywoodfilme – Gender-Sehweisen unterläuft. Trotzdem weiß auch sie, dass Horrorfilme um männliche Rituale herumgestrickt sind und genau hier kommen die Strange Girls ins Spiel. Die Filmzutaten in den drei Filmen sind ähnliche wie im klassischen Horror, sie werden aber anders eingesetzt und ergeben dadurch einen neuen Sinnzusammenhang, den man im Schockerkino vorher so nicht sehen konnte.     Alle gängigen Theorien über Horrorfilm und Sex werden in den Filmen über die merkwürdigen Mädchen eingefroren und stellenweise außer Kraft gesetzt. Ist es traditionell so, dass diejenige, die Geschlechtsverkehr hatte, auch als nächstes dran glauben muss und selbst in den besten Filmen Penetrationsbilder en Masse gesampelt werden, gehen die Strange Girls raus und nehmen sich was sie brauchen. Ginger hat mit ihrem Mitschüler Jared Werwolf-Sex im Auto, Georgia und Virginia warnen sich gegenseitig noch: »Don’t get emotional.« Ausgelöst wird nicht der Tod, das endgültige Ende einer Figur, sondern Eifersüchteleien, Entfremdungen voneinander, aber auch der Weg in eine unbekannte Zukunft.     Wird in okkulten Filmen die menstruierende Frau als offenes Medium zelebriert, dass einem ob des esoterischen Blödsinns manchmal wirklich schlecht wird und in Slasherfilmen durch das Einsetzen der Periode die absolute Verletzlichkeit der Frau bildhaft verdeutlicht, müssen die Strange Girls sich einmal mehr mit ihren Veränderungen auseinandersetzen. Das machen sie zynisch und humorvoll: Die beiden GruczechySchwestern sitzen in der Badewanne und trinken auffällig hellroten Wein währendKardinal Richelieu   hat die Kirche schlimmer in Verruf gebracht als die Kreuzzüge ihrer Unterhaltung: »Looks like we’re menstruating.«, »We’re too refined to menst-und das Pillenverbot zusammen. Der mausFiesling steht für alles, was sich ruate.« »Marlina menstruates!«, »She lost her reproductive organs after being rapedgesichtige sparsame Protestanten als dämonisch an den zusammenfantasieren: Er intrigierte, by Cardinal Richelieu!«. Gingers Mutter freut sich bloß über die Massen an Blut, dieKatholiken führte Kriege und war geldgierig. Nur Tim Curry in der Verfilmung der »Drei Musketiere« hat ihm ihre Tocher verliert und macht es zum Thema am Abendbrottisch: »Du warst sowienoch ein besseres Denkmal gesetzt, als ein Bildhauer im Pariser Louvre, wo er steht und so schon spät dran! Du bist ja schon fast 16!«. Und für Soo-Mi sind die Blutungen der fies auf den Innenhof grinst. kleinen Schwester nur ein weiterer Grund sie zärtlich zu betreuen und vor der bösen Außenwelt zu beschützen     Das Töten ist in diesen Filmen nicht Hauptstimulanz, sondern Nebenhandlung. Der Mord an Dr. Karp ist ein humorvoller Slapstick, keine Gewaltorgie und auch Gingers versehentlicher Mord an Pamela hat eher Lacher als Schockschauer zufolge als die Mutter der Fitzgerald-Schwestern deren abgehackte Finger im Garten findet und bloß vermutet wieder ein Requisit zu einem Fotoprojekt ihrer Töchter in den Händen zu halten.     In dem Maße, in dem das schreiende, kämpfende und überlebende Final Girl in den klassischen Horrorfilmen ein Produkt der politischen Prozesse und der Frauenbewegung der Sechziger Jahre ist, wie ihre Filmemacher Wes Craven, Tobe Hooper und Georgio Romero immer wie-

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der selbst erzählten, sind die Strange Girls ein Produkt der Neunziger Jahre mit ihren Riot Grrls, Punk-Fanzines und erweiterten, weiblichen Indie-Erzählungen wie »Freaks and Geeks« oder »My So-Called Life«. Die Umgebung der Horrorfilme passt bestens zu diesen düsteren Mädchen, die für die anderen oft unsichtbare Geister sind. Die Welt eines Teenagers ist die Hölle, deswegen funktioniert es so gut, wenn man die Dämonen sichtbar macht. Die Traurigkeit und Einsamkeit dieser Mädchen zu beobachten und mitzufühlen, bricht einem fast das Herz. Der Schutz, den Soo-Mi ihrer Schwester bieten möchte, die selber so verloren und verletzt ist, macht einen während des Schauens mürbe. Die Abnabelung von der Schwester ist der Bruch mit ihrem eigenen, alten Leben. Das schmerzhafte Abnabeln beschreibt auch das eigene, verlorene Eintreten von der Kindheit in die Erwachsenenwelt, das mitunter das ganze Leben dauern kann. Das Verabschieden aus der hermetischen Welt der Schwestern beschreibt besser als alle Teenqueen-Dramen zusammen, wie oft man sich alleine und verloren fühlen muss, bevor man wieder auf zwei Beinen gehen kann. Diese Mädchen haben keine Freunde, das macht sie so sensibel und empfänglich für die Grauen dieser Welt und so perfekt als neue Protagonistinnen in einer anderen Art von Horrorfilm, in der der Horror immer schon die Welt und man selbst ist und in der es gar keines Monsters mit Axt und Maske bedarf.

You’ve never seen girls like these

Strange Girls (R: Rona Mark D: Rona Mark) 2007 Ginger Snaps (R: John Fawcett D:Karen Walton John Fawcett) 2000 Tale of Two Sisters (R: Ji-woon Kim D: Ji-woon Kim) 2006 Heathers (R: Michael Lehmann D: Daniel Waters) 1988 Mean Girls (R: Mark Waters D: Tina Fey) 2005 Carrie (Brian De Palma D: Lawrence D. Cohen) 1976

Aber auch außerhalb der Filme sind die merkwürdigen Mädchen auf dem Vormarsch und wie immer sind die Qualitätsunterschiede groß. Dass ein Suicide Girl keine Daria ist, sollte dem blindesten Betrachter auffallen. ist, sollte dem blindesten Betrachter auffallen. Und wenn die billige, weiße Grace Jones-Imitatorin Lady Gaga in Interviews sagt, dass sie merkwürdige Mädchen wie Amy Winehouse den Plastik-It-Girls aus Hollywood vorzieht und daraufhin Paris Hilton als Barbiepuppenedition von Lady Gaga selbst auftritt, bleibt abzuwarten, was wir später einmal historisch ableiten werden. Trotzdem scheint es einen Bedarf an diesen Erzählungen zu geben, der von den Autorinnen selbst gefüttert wird. Diablo Cody, Tina Fey, Lorene Scafaria und andere erweitern jedenfalls auf kleinen und großen Mattscheiben fast tagtäglich die möglichen Geschichten der merkwürdigen Mädchen und schaffen es in Interviews sogar noch den ständig zuschnappenden Identitätszuschreibungen der konservativen Glitzermedien zu entgehen. Wie immer bleibt ein Ende aus, die Entwicklung ist aber schon mal fröhlich wahrzunehmen.

I’d rather be the strange girl

Die dunkle und abgeschlossene Welt der Strange Girls ist für den Zuschauer faszinierend und wird mit einer Kompromisslosigkeit verteidigt, für die man diese unheimlichen Mädchen bewundert. Sie sind von der Straße abgekommen und wissen nicht wohin die Reise geht, das ist aber kein Mangel. Wegen dieser Selbstsicherheit, gepaart mit einer Verletzlichkeit, die trotzdem aggressiv ist, möchte man sich ihnen anschließen und ist gleichzeitig froh, dass man selbst einen Teil dieser düsteren Welt schon durchschritten hat. Das Schöne an den Filmen ist nicht zuletzt, dass die Rache, die Herzlosigkeit gegenüber den Beknackten dieser Welt und die Brutalität der Mädchen jedem Spaß macht, der ähnliches Fremd- und Alleinsein schon mal selbst erlitten hat – sei es in der Schule oder zu Hause vor dem Fernseher. In diesen Filmen geht es um den Kampf um Wahrheit und um sich selbst und die Tatsache, dass man selbst fast nie weiß was das ist. Die tätowierten, halbnackten Mädchen sind ein Phänomenen der 90er, die offizielle Marke  SuicideGirls  gibt es aber erst seit Anfang des Jahrtausends. Sie sehen sich als Teil der Alternativekultur, die ihr eigenes Schönheitsideal pflegen. Während in der Öffentlichkeit gestritten wird, ob die Mädchen ein neues feministisches Frauenbild etablieren oder bloß die selben, ausgebeuteten Stripperinnen sind, nur mit mehr Farbe am Körper, tobt unter den Girls selbst ein ganz andere Streit: Die einen wehren sich gegen die vermehrten Nazi-Tattoos, andere wenden sich ab, weil sie ihre feministischen Ideale vermarktet und ausgebeutet sehen. Diablo Cody  Wenn Kellys kleine Schwester Silver, die in der neuen »90210«-Serie den Freak darstellen soll – aber natürlich rausgeputzter aussieht, als die durchschnittliche Douglas-Verkäuferin – Diablo Cody erkennt und schreit: »You are my idol!«, kann man ungefähr erahnen, welchen Bekanntheitsgrad die tätowierte Exstripperin mit ihren Büchern, ihrem Blog und vor allem ihrem Film Juno in kürzester Zeit erreicht hat. Gerade ist ihre Fernsehserie „United States of Tara“ in den USA gelaufen, in der Toni Colette eine schizophrene Familienmutter immer dann besonders klug und witzig spielt, wenn Cody die Szenen geschrieben hatte.

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Anthony Hopkins muss sterben, damit wir leben kOEnnen Anthony Hopkins muss sterben, damit wir leben kOEnnen Ein guter Film, so ein hartnäckiger Konsens unter all jenen, die hierzulande über Kino schreiben, und insbesondere unter jenen, die dies tun, ohne wirklich Ahnung vom Kino zu haben, bestünde vor allem aus zwei Dingen: einem guten Drehbuch und guten Schauspielern. J O CHEN WERNER meint: Beides ist Unfug.

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Tatsächlich verbirgt sich hinter diesen zwei Dekreten eine doppelte Verschleierungstaktik und eine Verleugnung eines bedeutenden Teils der Möglichkeiten des Films als Kunstform. Jene Form des Kinos, die sich nämlich auf Erzählung einerseits und Schauspielhandwerk andererseits zurückzieht, hat damit zwei Entscheidungen bereits im Vorfeld getroffen. Zunächst einmal hat sie sich entschieden, nur von jenen Dingen zu sprechen, die sich in die relative Enge einer Erzählung hineinzwängen lassen. Und weiterhin entscheidet sie sich dafür, einen oder mehrere Schauspieler in ihr Zentrum zu stellen – und damit für eine Darstellungsform, die notwendigerweise um ein Zentrum herum angeordnet ist. Denn eine solche Struktur ist dem Medium Film keineswegs natürlich und inhärent. Dieses verfügt zunächst einmal über zwei Ebenen: das, was wir sehen, und das, was wir hören. Der Mensch mag dazu neigen, das, was er sieht und hört, zu Geschichten zu verweben – aber zwei aufeinander folgende Bilder sind eben nicht schon aus sich heraus narrativ. Was der Film aber zunächst einmal ist, das ist eine Folge von Bildern, plus, zur gleichen Zeit, eine Folge von Klängen. Diese können untereinander und miteinander narrative Verbindungen eingehen, müssen es aber keineswegs – und dass sie es, abseits des offen experimentellen abstrakten Films, fast immer tun, das ist keineswegs Konsequenz aus der medialen Verfasstheit des Kinos, sondern eine Konvention, die auf eine dekadenlange Konditionierung des Kinopublikums zurückgeht.     Dabei scheint es aus heutiger Perspektive so, dass der früheste Film, der im Übrigen nicht einmal die Nennung von Schauspielernamen kannte, in mancher Hinsicht mehr über das Medium wusste als das Gegenwartskino. Das Kino, das ist immer auch als ein aus Jahrmarkttraditionen hervorgegangenes Medium zu verstehen, das in verzweifeltem Versuch, ernst genommen zu werden, Erzählformen der arrivierten Medien Literatur und Theater aufgriff. Tatsächlich hat es aber wohl mehr mit der Malerei zu tun als mit der Literatur – Malerei mit Licht, und in der Zeit; und aus der Zeit folgt eben keinesfalls unmittelbar die Narration, sondern die Bewegung. Aus diesen Überlegungen ergeben sich folgende Elemente einer Sprache des Kinos: Licht, und daraus folgend: Farbe. (Wer jemals einen frühen Film von Renoir oder Carné gesehen hat und dessen 1.000 leuchtende Grautöne, der weiß, dass dies auch für den Schwarzweißfilm gilt.) Zeit, daraus folgend: Bewegung. (Handlungen, aber nicht Handlung!) Und: Klang, nicht zwingend: Dialog. Sicher ist es

kein Zufall, dass das Musical, nicht der Dialogfilm, die erste Blütezeit des Tonfilms bestimmte. Das Singen lag der Filmkunst stets näher als das Sprechen – und das Darstellen liegt ihm näher als das Schauspiel. Einer der größten Regisseure aller Zeiten, Robert Bresson, schied streng in Schauspieler (im Theater) und Modelle (im Film) – und hielt Schauspiel und Film für unvereinbar. Bressons unverzichtbare »Notizen zum Kinematographen« kann man sich heute zwar sogar schon per Twitter zukommen lassen – verinnerlicht hat sie trotzdem kaum jemand.     Und so ist es dann allzu oft eben doch noch immer das »System Anthony Hopkins«, welches das Kino kolonisiert: ein Schauspieler mit einem gewissen Repertoire an erprobten Kniffen, an erwiesen effektiven Bravourstückchen, der pro Jahr in drei bis fünf vollkommen uninteressanten Filmen zu sehen ist. Die Apologeten dieses Systems rechtfertigen ihre Verirrung mit darstellerischen Leistungen, die ansonsten konventionelle Filme über den Durchschnitt erheben. Wahr ist aber: ein Schauspieler ist nicht imstande, einen uninteressanten Film auch nur einen Deut interessanter zu machen. Bester Beleg hierfür ist die Flut von Biopics, die in jüngsten Jahren aus Hollywood strömte: Jamie Foxx in »Ray«. Joaquin Phoenix in »Walk the Line«. Jüngst Sean Penn in »Milk«. Allesamt Darstellungen, die nach perfekter Mimikry streben, oft recht erfolgreich – und allesamt so eitel, dass nichts bleibt als das Bild mit der Behauptung vom »Schauspieler mit der eindrucksvollen Leistung«. Es ist nicht Ray Charles, oder Johnny Cash, oder Harvey Milk, dessen Bild hinter der Darstellung erkennbar wird, es handelt sich eher um einen umgekehrten Sachverhalt: eine transparente Oberfläche, definiert durch eine Reihe charakteristischer mimischer und gestischer TrademarkMomente, und durch diese scheint pausenlos die eitle Bemühtheit des Schauspielers und die Ausgefeiltheit seiner Taschenspielertricks hindurch. Eine perfekte Kopie, die aber ständig bloß auf ihre Perfektion in der Imitation und somit auch auf ihre Unwahrheit verweist.     Meist ist ein Regisseur, der seinen Schauspielern zu viel Raum gibt, faul oder unfähig oder beides. Der Schauspieler an sich ist zwar nicht – wie die zugespitzte Darstellung hier nahe legen mag – gänzlich zu vernachlässigen, aber er ist ein Werkzeug des Filmemachers unter vielen. Wer sich hingegen interessiert für die Grammatik der Sprache des Kinos, der tut sicher gut daran, sich vielmehr für Kamera, Montage, Sounddesign oder Beleuchtung zu interessieren.


Sean Penn  ist das gute Gewissen Hollywoods. Er ist Teil der streitbaren Nervbolzenclique um Tim Robbins und Susan Sarandon, die meinen ständig ihre Stimme erheben zu müssen, um ihren Demokraten-Sermon abzusondern. Dabei sind sie der perfekt Kronzeuge für all jene europäischen Amerikahasser, denen es an Argumenten gegen den Irak-Einsatz fehlt.

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lachs orange haut signal

Twitter, Fck u. Noch so ein soziales Netzwerk: Nach Myspace, Facebook und anderen verlinkt man sich jetzt mit den immer gleichen Leuten auch noch über Twitter. Damit die Übersichtlichkeit aber trotzdem erhalten bleibt, ist der Umfang der Mitteilungen auf 140 Zeichen beschränkt. F e l i x N ick las traut den Twichsern und ihrer herbeigetwitterten Relevanz nicht.

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Alle Welt redet über Twitter. Nein, alle Welt twittert über Twitter, diese Social-Networking-Seite mit dem kleinen, fetten, blauen Vogel als Maskottchen. Der neue Volksempfänger für die Medienelite. Jeder, der dumm genug ist sich auf dieser Webseite einzuloggen wird mit bedeutungslosen, auf 140 Zeichen beschränkten Updates konfrontiert, die eigentlich nichts zum Ausdruck bringen und so gut wie keinerlei Nutzwert haben.     Man mag fast glauben, dass der Plan dahinter ist, allen Selbstdarstellern des Internets eine Plattform zu liefern, auf der sie geschmacklose Eigenwerbung betreiben können und ihren Popularitäts-Wettbewerb, den sie bereits auf diversen anderen Social-Network Seiten entsponnen haben, auszudehnen.     Sekündlich werden so Katastrophen, politische Entwicklungen und vor allem sehr viel Nichts puUpdates  sind schlicht Datennachführungen und bezeichnet den Vorgangbliziert. Schrecklichste Ereignisse werden unter etwas Vorhandenes auf einen neueren Stand zu bringen. War der Begriff vor wenigen Jahren noch einer technisch und computerorientierten Umgebungdem Vorwand »selbst in das Geschehene involzugeschrieben, lässt sich nun jeder Büro-Bert »mal schnell ein Update geben« bevor es ins nächste Meeting geht. In Zeiten immanenter Betaviert zu sein« in schlichtes, sinnleeres EntertainVersionen und extremer Informationstaktung, ob digital oder auch zunehmendment verwandelt. Im Grunde dasselbe System, privat-gesellschaftlich, ist das Update quasi der rettende nächste Fix. das man bei jedem Unfall beobachten kann – alle rennen hin, stehen rum und flüstern sich »Informationen« über die Verheerung des Geschehenen zu, welche Entstellungen sie gesehen haben, wie sie selbst noch schwer geschockt sind und so weiter. Doch Twitter macht es noch schlimmer: Blackberry raus, Unfall fotografiert und als Erster um die Welt geschickt, um sich danach daran zu reiben, wie großartig Twitter funktioniert, um damit die Massenmedien im Verbreiten von Nachrichten zu schlagen. Die Verwerfungen innerhalb der Nachrichtenübermittlung werden dadurch nur allzu offensichtlich, wie man zuletzt an Beispielen wie Winnenden, Mumbai oder bei diversen Flugzeugabstürzen fassungslos beobachten konnte. Journalisten stürzten sich auf Twitter, in der Hoffnung, dass der Dienst die Agenturen und Recherche ersetzen kann. Nur um dann festzustellen, dass man nach der ersten Meldung nur wenig Informationen bekommt und sich die Meldungen am Ende als falsch herausstellen.     In Wirklichkeit ist also der Lärm, den Twitter in Situationen wie diesen generiert, schlichtweg grausam und gefährlich. Natürlich kann durch die Breite vieler kleiner Fragmentbilder ein im besten Falle authentisches Gesamtbild menschlicher Tragödien vermittelt werden und


vielleicht durch deren Masse, aber gerade auch durch deren Unvollkommenheit, stärker wirken, als dies herkömmliche Bilder aus denen die Scheiße gephotoshopt wurde noch vermögen. Es ist nun auch nicht so, dass ich Twitter prinzipiell ableh-Was für die Musikproduktion Timbaland, ist in der Bildbearbeitung Adobes Photoshop. Das Ergebnis kann ein angemessen bearbeitetes Foto oder eine nen würde. Keineswegs. Der Grund meiner Ab-schöne Grafik sein, aber eben auch eine zu Grunde gerichtete Geburtstagseinladung. hat Photoshop, aber nur Wenige können damit umgehen. scheu ist jedoch so simpel wie einleuchtend undJeder In den letzten Jahren hat sich der Trend durchgesetzt, die A bis F-Promis auf FrauenTV-Zeitschriften mit allerhand Filtern, Weichzeichnern und Stempelwerkzeugen unwiderlegbar: es ist der gleiche Grund weswegenund indifferent kaputtzuphotoshoppen. ich Blogs und Gruppendynamiken at all hasse: die meisten Menschen sind dumm, sehr, sehr dumm und Twitter, wie auch das Internet, gibt jedem von ihnen eine Stimme mit der sie sehr viel atavistischen Schwachsinn in die Welt setzen können. Die Twichser sind somit überall und lieben die Möglichkeit, endlich den letzten Rest Würde und Selbstrespekt gegen 140 Zeichen Gestammel einzutauschen, was Twitter keineswegs zu einer neue Form des Journalismus, sondern zu einer anderen Art zwischenmenschlicher Kommunikation macht und so auch abgetan werden sollte. Denn die einzigen Nachrichten, die Twitter generiert, sind im Grunde nur und ausschließlich Nachrichten über Twitter.

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Fotos: Miguel Martinez

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nothing to say

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nothing to sell

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Having sex with Kate M.

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René demonstrierte 2006 auf der „Parada Rownosci“, der Parade für sexuelle Gleichberechtigung, in Warschau für die Rechte von Homosexuellen in Polen. Während der Demonstration wurden die Teilnehmer mehrfach von rechten Aktivisten und „ganz normalen“ homophoben polnischen Bürgern angegriffen. René wurde absurderweise während einer dieser Attacken von den polnischen Polizisten festgenommen, weil er angeblich Beamte mit einem Schlagstock und Pfefferspray attackiert haben soll. Sowohl Zeugenaussagen als auch Fotos widerlegten diese Darstellung, trotzdem musste René für zwei Monate im Gefängnis Bialoleka in Untersuchungshaft sitzen. Die Unterstützung der deutschen Botschaft hielt sich in äußerst überschaubaren Grenzen und dass ein EU-Eintritt keineswegs etwas über den Zustand des bürgerlichen Rechtsstaates aussagt, zeigt sich in diesem Fall ganz konkret, im erzkonservativen Polen kein Einzelfall. Nachdem René Anfang April zum ersten Teil des Prozesses nach Warschau gereist war, sprachen wir mit ihm über seine Erfahrungen im polnischen Knast.      Du kommst gerade vom Prozessauftakt in Warschau: Mit welchen Gefühlen bist du nach Polen gefahren?      Mit sehr gemischten; zum einen bin ich froh, dass der ganz Scheiß hoffentlich bald vorbei sein wird und ich einen Schlussstrich ziehen kann, zum anderen wühlt es natürlich viele Sachen wieder auf.      Was genau wird dir vorgeworfen?      Man wirft mir den bewaffneten Angriff auf uniformierte Polizeibeamte bei Auseinandersetzungen mit Gegendemonstranten vor.      Was für ein Urteil erwartet dich?      Das Strafmaß für den Tatvorwurf beträgt ein bis zehn Jahre Haft. Wir plädieren natürlich auf Freispruch und hoffen, dass es schlimmstenfalls Bewährung wird.      Hast du Angst vor dem Urteil?      Ich würde lügen, wenn ich nein sagen würde, aber immerhin sind wir nicht in China.      Hast du daran gedacht nicht zum Prozess zu fahren?      Das habe ich tatsächlich. Ich hätte das Verfahren einfach in Abwesenheit verhandeln lassen und selbst bei einer möglichen Verurteilung zu Strafhaft wäre ich einfach nie wieder nach Polen gefahren. Das war für mich die sinnvollste Lösung und hat es mir relativ einfach gemacht mit der Sache abzuschließen. Dummerweise wurde vor 2 Jahren der EU-Haftbefehl eingeführt. Das heißt: wenn es richtig schief geht, könnte man mich einfach in Berlin abholen. Also heißt es jetzt: Augen zu und durch.      Kannst du ein paar Einzelheiten zum Prozess sagen? Was passiert da? Wie sind die Abläufe?       Ich hatte Anfang April meinen ersten von voraussichtlich vier oder fünf Prozesstagen. Das war eigentlich ganz unspektakulär, wie bei Richterin Barbara Salesch – mit Richter, Staatsanwalt, Zeugen und dem ganzen Schnick Schnack. Bis jetzt lief alles ganz gut, nur die Übersetzung am ersten Prozesstag war fürchterlich und hat auf jeden Fall für großes Kino gesorgt. Das war dann aber auch der letzte Auftritt der Dolmetscherin.      Warum bist du 2006 nach Warschau gefahren?      Im Jahr zuvor demonstrierten trotz Verbotes 3000 Menschen in der Warschauer Innenstadt um die Parade doch stattfinden zu lassen. Homophobe Hetzkampagnen, auch aus Kreisen der polnischen Regierung, führten zu einer pogromartigen Stim-

Polenknast Von Jo hanne s Büttner & Jo n as Ge m p p

mung gegen die Parade. Schließlich kam es vor den Augen der örtlichen Bullen zu massiven Übergriffen von mehreren tausend Gegendemonstranten aus dem neofaschistischen sowie konservativ/katholischen Spektrum auf die Parade, die viele Verletzte zur Folge hatten. Aus diesem Grund fuhren wir nach Warschau.      Hat es sich rückblickend gelohnt nach Warschau gefahren zu sein?      Ja, es hat sich gelohnt. Die Demo war sehr wichtig; sie war für polnische Verhältnisse wahnsinnig groß und es gab kaum nennenswerte Zwischenfälle. Deshalb bereue ich es auch nicht. Wenn ich etwas bereue, dann vielleicht die Tatsache, dass ich die Beine nicht schnell genug in die Hand genommen habe.      Nach deiner Festnahme wurdest du in U-Haft gesteckt. Wussten die anderen Gefangenen den Grund für deine Festnahme?      Nein! Der Knastsozialarbeiter hat mir auch dringend empfohlen die

Fresse zu halten, wenn ich nach dem Grund der Festnahme gefragt werden sollte. Sie hatten kein Bock mich dann in eine Einzelzelle sperren zu müssen und ich hatte keinen Bock auf Maule.      Was hast du im Knast gelernt?      Als wir noch keinen Tauchsieder hatten, mussten wir uns aus Drähten und diesen Metallstreifen aus Schnellheftern selber einen bauen. Das ist nicht ganz ungefährlich, aber irgendwie musste man ja auch mal sich und seine Klamotten waschen. Und ich habe gelernt, dass man in Polen nicht unbedingt Leitungswasser trinken sollte, wenn man keine zwei Wochen Durchfall riskieren will. Vor allem, da ich nur alle drei Wochen eine Rolle Klopapier bekam, was nicht wirklich ausreichte. Da musste dann halt die Zeitung herhalten. Richtig zusammengeknüllt macht das auch keinen Unterschied mehr.      Hast du an Ausbrechen gedacht?      Soweit ich weiß, ist von da bis heute kein einziger Insasse je abgehauen. Außerdem wurde das Teil in den 60er Jahren von der polnischen KP gebaut und der Stalinismus hat dort nicht umsonst 55 Jahre überlebt. 20 Jahre später hat dort unter anderem die komplette Solidarno -Führung, inklusive der beiden Kaczy ski-Brüder, eingesessen.      Hat dich der Knast verändert?      Ich habe gefühlte zehn Kilo zugenommen und noch fast einen Monat lang den Tick gehabt, jeden Morgen pünktlich um 7 Uhr zum Appell, aufzuwachen.      Nach dem Gefängnisaufenthalt habe ich eine Therapie angefangen, aber die Zeit im Knast war irgendwie kein besonders großes Thema. Nach zwei oder drei Monaten hatte ich mich dann auch weitestgehend akklimatisiert. Die Entscheidung, das kommende Verfahren dann einfach in Abwesenheit verhandeln zu lassen und selbst bei einer möglichen Verurteilung einfach nie wieder nach Polen zu fahren, hat es mir dann relativ einfach gemacht, mit der Sache abzuschließen.      Mit wie vielen Leuten warst du in der Zelle? Und wie waren die Haftbedingungen allgemein?      Mit Fünf. Die Haftbedingungen waren nicht so toll: 23 Stunden Einschluss am Tag einmal die Woche haben wir mit 40 Leuten geduscht und alle drei Wochen durfte ich eine Stunde Besuch empfangen.      Hast du im Knast Pläne für die Zeit danach geschmiedet?       Ich hatte

auf jeden Fall Pläne, was ich erstmal nicht machen wollte: Ich hab so ziemlich alles versucht, um einen geregelten Tagesablauf zu umgehen.      Erst vor drei Monaten, die EU-Staaten hatten sich mittlerweile leider auf den europaweiten Haftbefehl geeinigt, holte mich die polnische Justiz wieder auf den Boden der Tatsachen zurück und ließ mir einen ersten Prozesstermin mitteilen.      Konntest du dich irgendwie beschäftigen? Mit Lesen oder Pumpen etwa?      Selbst Tageszeitungen hätten von der Staatsanwaltschaft übersetzt und zensiert werden müssen und normale Post hat sechs Wochen gebraucht; Kommunikation mit der Außenwelt war kaum möglich. Das erste, was es zu lesen gab, war nach fünf Wochen eine drei Monate alte, englische Financial Times, die mir ein Australier geschenkt hat. Nicht prickelnd, aber ich hab sie trotzdem mit Kusshand genommen.

jeden donnerstag oder jungle-world.com


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Blood Money

Das Böse beherrscht die Populärkultur des Afrikanischen Kontinents. S t eff e n Kö h n untersucht, inwieweit man daraus eine neue Form von Kapitalismuskritik ableiten kann.

Verfolgt man den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs in großen Teilen Afrikas und wirft man einen Blick auf die Inhalte populärer Kulturformen wie Boulevardzeitungen, Comics, Groschenliteratur, oder die an jeder Straßenecke verkauften Produkte der boomenden Videofilmindustrien, so kann einem eine bemerkenswerte Renaissance des okkulten Denkens nicht entgehen. Dämonen, Hexen und Zauberer, die danach streben das Glück einfacher Menschen zu zerstören, bilden ein kulturelles Phantasma, dem sich ein gesamter Kontinent unterworfen hat. Derartige Vorstellungen sind überall in Afrika natürlich schon immer Teil traditioneller Glaubenskonzepte gewesen, neu allerdings ist, dass diese sich tief in den lokalen Diskurs zum globalen Kapitalismus eingeklinkt haben. Haupttopos der nigerianischen Videofilmindustrie beispielsweise ist die magische Erzeugung von Reichtum. Zahlreiche Filme wie Living in Bondage, Blood Billionaires oder Rituals erzählen von dunklen Geheimkulten, in denen Angehörige der großstädtischen nigerianischen Finanzelite organisiert sind, um in geheimnisvollen Ritualen auf Kosten einer hilflosen urbanen Bevölkerung ihren Reichtum zu vermehren. Der Film Blood Money handelt beispielsweise vom Schicksal eines kleinen Bankangestellten namens Michael, der ihm zur Verfügung gestelltes Kapital veruntreut hat, um einem kranken Familienmitglied den Krankenhausaufenthalt zu bezahlen und nun, als dies aufzufliegen droht, in dringender Geldnot ist. Auf der Strasse trifft er zufällig einen alten Freund, der es offensichtlich zu Wohlstand gebracht hat: Er fährt einen Mercedes und trägt schicke Designeranzüge. Dieser Freund bietet ihm an, ihn in eine Geheimgesellschaft einzuführen, der er diesen Wohlstand zu verdanken hat. Der Geldkult, die Mitglieder nennen sich »The Vulture Men«, betet ein übernatürliches Wesen, den »Großen Geier« an. Sie kennen das Geheimnis der magischen Gelderzeugung und bieten Michael Zugang dazu an. Doch für magisch erzeugten Reichtum verlangt der »Große Geier« Blut: Michael soll ein neunjähriges Kind opfern und wird daraufhin selbst für drei Tage in einen Geier verwandelt. Nach dieser Zeit jedoch findet er ein magisch präpariertes Zimmer seines Hauses angefüllt mit Banknoten. Michael genießt seinen neu erworbenen Reichtum in vollen Zügen. Doch der »Große Geier« verlangt im Austausch dafür mehr und mehr Blut. Als Michael schließlich seine eigene Mutter opfert, wird er von ihrem Geist verfolgt und fällt dem Wahnsinn anheim.     Blood Money und andere Filme zeichnen so ein Bild der Angehörigen der kleinen nigerianischen Elite als moderne Vampire, die, hochgradig egoistisch für ihr persönliches Vorankommen buchstäblich über Leichen gehen oder in Geheimgesellschaften organisiert die Geschicke des Landes im Verborgenen lenken. Die Vorstellung, dass diese Elite ihren Reichtum durch okkulte Praktiken erreicht hat, lässt sich zurückverfolgen auf die Zeit des ersten nigerianischen Ölbooms in den 1970er Jahren, als urplötzlich ein bislang ungekannter Kapitalstrom ins Land floss, der jedoch fast ausnahmslos in den Taschen einiger korrupter Staatsbeamter sowie ihrer Entourage versickerte. Die so entstandene neue Klasse der Superreichen ließ es sich nicht nehmen, ihren Wohlstand auf immer exzessivere Weise zur Schau zu stellen. Die schon kurze Zeit später kursierenden Gerüchte um magische Gelderzeugung dienten somit als valides Erklärungsmodell angesichts eines Reichtums, der quasi aus dem Nichts und ohne eine sichtbare Form von Produktion entstanden war: Ein Bild, das dessen gewalttätige und mysteriöse Aspekte sehr genau traf.     Die Ethnologen John und Jean Comaroff haben für diese Denkfigur, die sich in rasender Geschwindigkeit über den gesamten afrikanischen Kontinent verbreitet hat, den Begriff

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der »okkulten Ökonomie« geprägt. Sie sehen in ihr eine Reaktion auf die tief greifenden sozialen und ökonomischen Umbrüche, die die gewaltsame Integration des postkolonialen Afrikas in das neoliberale Weltwirtschaftssystem mit sich brachte: Seit den 1980er Jahren stellten viele afrikanische Staaten unter der Aufsicht und auf Druck von Weltbank und Internationalem Währungsfonds in so genannten Strukturanpassungsprogrammen ihr Wirtschaftssystem vom Staatsprotektionismus einer Diktatur auf ein liberales System freier Marktwirtschaft mit besonderem Fokus auf den Auslandshandel um. Dieser rapide Wechsel zum Marktkapitalismus resultierte vor allem für einfache Bevölkerungsschichten in einer Zeit ökonomischer Depression: Da die meisten Regierungen, um durch erhöhte Steuereinnahmen handlungsfähiger zu werden und Auslandsschulden abbauen zu können, den florierenden informellen Wirtschaftssektor austrockneten, stieg die offizielle Arbeitslosigkeit in ungekannte Höhen, während der Staat sich gleichzeitig gemäß der neoliberalen Ideologie aus dem Wohlfahrts- und Bildungssektor zurückzog. Gleichzeitig fanden sich viele Afrikaner nun in einem lokalen Wirtschaftssystem wieder, das plötzlich in für den Einzelnen nicht mehr durchschaubare und deshalb immateriell erscheinende globale Prozesse eingebunden war: In vielen Staaten Afrikas waren nun bislang ungekannte westliche Luxusgüter verfügbar, während gleichzeitig die für den Export produzierten Waren unkalkulierbaren Preisschwankungen unterlagen. Vorstellungen okkulter Ökonomien sind in einer solchen Situation in der Lage, die mysteriösen Gesetze des internationalen Marktes auf das Handeln lokaler Akteure zu projizieren um zu erklären, wie Einzelne in diesem neuen »System der Ungleichheit« zu bislang ungekanntem Wohlstand gelangen. Der Hexereidiskurs wird damit auf die postkoloniale Moderne angewendet, um deren inhärente Widersprüche zu erklären. Ihm gelingt es, für eine breite Bevölkerung sinnstiftende Antworten zu geben auf die vielen Fragen, die der entfesselte neoliberale Kapitalismus aufgeworfen hat.     Okkulte Ökonomien erzählen vom Einsatz magischer Mittel für materielle Zwecke oder, weitergefasst, von der Erzeugung von Reichtümern durch mysteriöse Techniken, die zudem auf der Zerstörung anderer und deren Fähigkeit, eigene Werte zu schaffen, beruhen. Oftmals treten derartige Geschichten als Parodien des menschlichen Reproduktionszyklus auf. Die höchst erfolgreiche, mittlerweile sieben Teile umfassende, ghanaische Videofilmserie Diabolo handelt von einem dandyhaft auftretenden Zauberer, der sich magisch in die Gestalt einer Schlange transformieren kann. In dieser Gestalt beschläft er Prostituierte, die er zuvor mit einem Narkotikum bewusstlos gemacht hat. Der magische Sex mit dem Schlangenwesen löst eine Art pervertierten Befruchtungsprozess aus, nach dem die Prostituierten einem Geldautomaten gleich Geldscheine ausspucken. Dieses Geld (in einer Folge erwischt es eine weiße Prostituierte die dementsprechend dann Dollarnoten ausspuckt) ist das Geheimnis hinter Diabolos Reichtum. Wie in Blood Money haben wir es auch hier mit einem Tausch menschlicher Lebensenergie gegen materiellen Reichtum zu tun. Auf die Spitze getrieben wird diese Vorstellung in den zahlreichen Filmen, die den eigentlich haitianischen Zombie-My-Blood Money gibt es (in mehreren Teilen) komplett bei Youtube zu sehen unter: thos nach Afrika rückübersetzen. Sie handeln von bösen Magiern, die www.youtube.com/watch?v=SYvExpY1BDE&feature=channel_page ihre Mitbürger nachts als Zombies missbrauchen und sie in diesem un-Den Trailer zu Blood Billionaires gibt es unter: bewussten Zustand Nacht für Nacht zur Arbeit auf die Felder schicken.www.youtube.com/watch?v=QZNlmJkD2-w Sie werden so unfreiwillig zu Wertschöpfern in den Mühlen okkulterComaroff, Jean und John L. Comaroff (1999): »Occult Economies and the Violence of Abstraction: Notes from the South African Postcolony«. Ökonomien. Sie sind, wie Tobias Wendl schreibt, die AlptraumbürgerIn: American Ethnologist, Vol. 26, No. 2: 279-303 der Moderne. Auf ihre rohe Arbeitskraft reduziert, existieren sie als Al-Wendl, Tobias (2004): Africa Screams. Das Böse in Kino, Kunst und legorien reinen Marktwertes ausschließlich für die Wertschöpfung ih-Kult. Wuppertal: Peter Hammer Verlag rer Herren.     Vorstellungen okkulter Ökonomien bestimmen nicht nur den Gerüchtediskurs. So gibt es kaum einen afrikanischen Herrscher, von dem man nicht erzählt hätte, er habe seine Macht durch übernatürliche Kräfte erreicht und verteidigt, und auch in demokratischen Systemen umgeben sich die »Big Men« afrikanischer Politik bisweilen noch gerne mit dem Nimbus okkulter Macht. Gerade die neuen Massenmedien (neben der Videofilmindustrie also vor allem die Zeitungen, Groschenhefte und die überall verkauften illustrierten Kalenderblätter als eine neue Form des afrikanischen Bildjournalismus) sorgen für die Verstärkung, Verbreitung und letztlich Bestätigung dieses Diskursgefüges. Dabei bleibt die Frage offen, wie man derartige Erzählungen zu werten hat: Als eine Art grotesken Realismus, der soziale Wahrheiten unter dem Deckmantel des Mythos verbreitet und als eine kreative Form von Kapitalismuskritik ein sozialkritisches Potential entfaltet oder als ein breite Bevölkerungsschichten entmündigender Aberglaube, der letztlich nur dazu dient, den gesellschaftlichen Status quo zu (über)naturalisieren und Machtverhältnisse als unveränderbar festzuschreiben.


Depressionen  sind die Volkskrankheit Nummer eins. Das kann man seit Jahren in sämtlichen Magazinen und Zeitschriften lesen. Was das aber bedeutet, scheint vielen Leuten immer noch nicht klar zu sein, wenn sie ihre lieben Mitmenschen gerne mal mit »Reiß dich zusammen!« oder »Ein kleiner Spaziergang kann Wunder wirken.« ermahnen. Den umfassendsten Bericht darüber, warum die Krankheit eventuell ein Symptom unserer Zeit darstellen könnte, hat Andrew Solomon in seinem Buch »The Noonday Demon: An Atlas of Depression« beschrieben. Er schafft es tatsächlich das eigene Krankheitsschicksal mit einer wissenschaftlichen Dimension, sowie die individuell erlebte Krankheit mit anderen gesellschaftlichen Feldern zu verknüpfen, ohne dabei eine Sekunde in den uner­träglichen Ton der Selbsthilfebücher zu verfallen.

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I am in Beijing find handsome boy von Paul Fly n n

I arrived in Beijing from Sydney ten months ago, thinking I knew it all, but prepared for the

worst. China had been tossed around over months of earnest dinner party conversation and I was as guilty as anyone for reducing a big country to a handful of smug one-liners before I’d even hit the tarmac – China is growing too fast, it’s not growing fast enough, the legal system is screwed, it’s a bureaucratic mess, shit you should see the pollution, and what’s with the censorship, and don’t forget Tibet, Taiwan, Tiananmen.

Given the oppressive picture I’d painted in my head, I didn’t hold out much hope for a thriving gay nightlife. My first foray into the local scene from the safety of my laptop had thrown up an onslaught of unsettling gaydar messages coloured with frantic enthusiasm for new meat on the block:     »I was so excited to see you here. I love Aussie guys. Not just because I go crazy about »down under« or all my favourite marsupials, it’s more because of the Australians. You are always KOOL! I hope I don’t scare you.«      Some were linguistically deranged:     »I want just be your friend. Maybe I lie to you. Maybe more. U r hot. Please msn. Thank you ha ha ha … :)«      Others sublimely direct: »I am in Beijing find handsome boy. I love to suck sex«.      I’d read of gay venues being raided by police at the whim of local politicians eager to impress party superiors. As if on queue, only weeks before I touched down, reports of police operations on bars and bathhouses in Beijing and Shanghai sent Western media into a tailspin. Their general verdict was that the raids pointed to a new pre-Olympic programme of despotic subjugation, but several local club owners quickly dismissed that appraisal as an overreaction by foreigners ignorant of the vibrant local gay scene.     And heading out on the town in Beijing over those first weeks, the gay scene I discovered was a cultural revelation—urbane, savvy, complex, and disarmingly familiar—an indicator that many of the preconceptions foreigners have of China and its citizenry are embarrassingly out of date.     Destination (known affectionately as Desperation or Destinasian) is the hub of gay Beijing, stuffed with sexed-up boys every weekend. It’s a sweaty maze of four cocktail bars over two floors and a dark, heaving dance floor with a stage for occasional appalling shows – and a pole for when someone gets drunk or high enough

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to want to express himself vertically. Entry is 60 RMB (7 Euros) on most nights, 100 RMB (11 Euros) if a guest international DJ has been flown in for the night. For the local kids, that’s a lot of money, but they come in droves to be seen in a place where they can be themselves.     The characters are a roll call you would find in gay bars anywhere in the world—scamp, preening gym boys, cool kids in expensive clothes, wide-eyed newcomers who’ve plied themselves with enough alcohol just to get through the front door and a myriad others who could be from anywhere and do anything. It’s also full of confident foreigners— professionals and students—who attract the attention of a lot of locals. ‘Are you into Asians?’ is a common question but it’s practical rather than political enquiry—the kind of streamlined conversation directed towards a sexual outcome that gay men have mastered the world over. Caucasians into Asians are ‘rice queens’, Asians into Caucasians ‘potato queens’—sexual tastes reduced to a bizarre kind of culinary discussion: Are you into rice? He likes potatoes. Ludicrous to repeat out of context, but in the heat of the moment it’s gay banter at its best—reductive, cutting, economical.     Broc was a 19-year-old university student my boyfriend (who had landed in Beijing for work several months before me) had spotted across the bar on a crowded night at Destination and with whom he sparked up a conversation. He stood out in tennis gear and a swaggering attitude—thickset and fit, a kind of Chinese version of a cocksure Manchester scally. Broc is of course not his real name, which is itself very Chinese. After going by Patrick for a while, then back to his Chinese name, Broc settled on Broc presumably for its rough and ready porn star appeal.     Soon after, Broc scoured through Facebook and tracked me down while I was still in Sydney.     »I met ur boyfriend. Hehe,« was his first message.      »Remember me. I met ur boyfriend :)« was his second, only days later.     And so began a barrage of contact, moving onto Skype chat for a curious online friendship. Over the following months, he de-


tailed the minutiae of his life in a college dorm, his ups and downs, his horny moods, his cock size (large, thick), and his apparent desire to marry and to have children. Broc loves sport, plays competitive tennis and volleyball, worries about English exams, does well at finance and is planning on studying in Australia at the end of the year.     One afternoon, he called on video chat looking agitated. When I asked what was up, he sheepishly glanced left and right before grabbing the web cam and turning it on his crotch. His track pants were pulled down and he was pulling himself off with one hand and typing with the other. The cybersex dexterity was a feat in itself.     »I want you to fuck me but you have a boyfriend hehehe«, he typed.     Then he lifted his legs up in the air and blew a huge load before returning to the screen with a big grin on his face.      It was confident, dirty and raw. He followed with a particularly Chinese version of blow and go.     »A lot of boys want me. I want a cool boyfriend like you. But I think I will get married.«      The push and pull of boys like Broc defines the gay scene in Beijing. They’re articulate, horny as hell and more than a little unsure of what lies ahead. But year after year, they push the boundaries of acceptable behaviour for a Chinese man.     Outside of gay venues, China is still a conservative country, not so much through politics as through lingering Confucian values. For anyone from the crumbling bastions of Christendom, it has a weirdly functional, irreligious kind of morality—no mortal sin, no threat of hellfire, just an overwhelming social pressure to form families and procreate, as if they didn’t already have troubles with that with 1.3 billion people and counting.     Chinese emperors had openly taken male lovers for centuries, but only as an added extra to wives and concubines, who still pumped out little princesses like clockworks. And although Mao Zedong might have wiped the slate clean of imperial norms, for gay boys and girls in China the impulse to form a family is the same. Homosexuality might not be a crime, but the fear of exclusion and loneliness and the unbearable shame of single life compel many gay men to lead a kind of compromised double existence that is spurned by rigid Western identity politics. A sexless marriage is better than none at all. And in the context of its half-arsed sexual liberation, China’s gay scene gives birth to boys like Broc with their feet in two worlds.     Indicators of change are everywhere. Recently, the government news agency Xinhua published an article on the newfound confidence of gay men in China and how they add to social harmony, interviewing several local lads about their nighttime ‘activities’. It was a revolutionary step but the result sounds more like a pamphlet for a Caribbean cruise:     »(Walter) sometimes goes to Bear Den, another gay bar, which is especially popular with »bears«, slang for gays who are heavy-set and place importance on presenting a hyper-masculine image … Bear Den plays quiet music and offers a second floor for its customers to talk.«      China has changed and is changing. And as it moves at break neck speed and cultural progress races to match economic development, the nascent gay community of Beijing will continue to grow and to flood clubs like Destination. And like boys the world over, boys of Beijing will seek each other out to love or fuck or, more and more, both. Mao Zedong  Dass der große rote Herrscher über China nicht so freundlich war, wie sein verkniffenes Grinsen und dass diejenigen, die in den 60ern mit seiner roten Fibel wedelten, ordentlich auf dem Holzweg waren, dürfte mittlerweile jedes Schulkind mitbekommen haben. Aber vielleicht sollten sich die Songschreiber der Schlagerhitparaden überlegen, ob sie dem Alten nicht mal ein paar Zeilen klauen, denn schmalzig konnte er neben diktatorisch und küchenweisheitlich offensichtlich auch ganz gut: »Tranken Tee in Kanton, kann’s nicht vergessen; tauschten Verse in Ch’ungking, das Laub vergilbte. Dreißig und ein Jahr, ich les deine Strophen. Schmerzübermaß – wehr ihm, dein Herz zu brechen.«

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Stabiler Mob

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Diffuse Guerilla Der kybernetische Kapitalismus verschlingt die Dissidenz: Widerstand ist zwecklos. Manche wagen ihn trotzdem.   von H el g e Pet e rs

An einem Novembertag des vergangenen Jahres bekam der Nebel ein Gesicht. Antiterroreinheiten umstellten das zentralfranzösische Örtchen Tarnac und nahmen neun junge Menschen unter dem Verdacht fest Sabotageakte mit Hakenkrallen gegen das Hochgeschwindigkeitsbahnnetz verübt zu haben.     UnterBauanleitungen für Hakenkrallen den Verhafteten war auch der junge Philosoph Julien Coupat. Ge-gehören, genau wie die kleinere Brandsätze meinsam mit der Gruppe Tiqqun, was auf hebräisch »Erlösung« be-für und Mollys, zum deutet, verfasste er um die Jahrtausendwende eine Reihe postsituati-Standardrepertoire linker Adoleszenz. onistisch inspirierter Texte, darunter wohl auch das anonymIn die Oberleitung geworfen, können erschienene Manifest Der kommende Aufstand und vor allem den sosie sehr leicht Loks stoppen, was im Rahmen dünnen wie blitzgescheiten Essayband Kybernetik und Revolte. Revol-der Castorproteste te und was?     Kybernetik ist die Wissenschaft von der Steue-flächendeckend ausprobiert wurde. sich das für rung komplexer Systeme, die aus einer Vielzahl miteinander kommuni-Wie linke Folklore und Vereinsmeierei gehört, zierender und aufeinander einwirkender Einzelteile bestehen. Ziel ist gibt es natürlich auch den Wanderpreis der die fortdauernde Reproduktionsfähigkeit des Gesamtsystems: also Stagoldenen Hakenkralle. bilität und Gleichgewicht. In den fünfziger Jahren zum Durchbruch gekommen, revolutionierte die Kybernetik bis heute so unterschiedliche Felder wie die Informatik, das Management und die Biologie; in der Lesart des Radikalen Konstruktivismus auch die Erkenntnistheorie. Heute, sechzig Jahre nachdem der Mathematiker Norbert Wiener die Kybernetik begründete, droht der Kapitalismus das gesellschaftliche System selbst abzuschaffen: die ökologischen Probleme sind verheerend und die Lohnarbeit als Bedingung für Teilhabe am Konsum schwindet für immer größere Teile der Bevölkerung.     Hier kommt der kybernetische Kapitalismus ins Spiel, den Tiqqun als die Strategie einer verwüsteten Gesellschaft beschreiben, sich weiterhin zu reproduzieren, ohne die Ursachen der Verwüstung zu beseitigen. Der alte Konflikt zwischen Liberalismus und Sozialismus, zwischen der Ideologie der freien Märkte und der staatlichen Regulierung spielt letztlich keine Rolle mehr. Unter dem Eindruck systembedrohender Krisen hat sich die Kybernetik als Herrschaftstechnik durchgesetzt, die Gesellschaft scheinbar ohne ideologischen Ballast nur mehr aus der Perspektive des Erhaltens systemischer Stabilität betrachtet. Keine panoptischen Arrangements zentraler Herrschaft, sondern vielfältige, dezentralisierte --Human strike, today, means Sicherheitsdispositive auf der refusing to play the role of the victim. Mikroebene sollen zukünftig Attacking it. Taking back violence. das Gleichgewicht des sozialen Imposing impunity. Making the paralyzed citizens understand Systems garantieren. Zygmunt that if they do not join the war they are at it anyway. That when we are told it is this or dying, it is Bauman, kritischer Theoretialways in reality ker der Postmoderne, machte this and dying. --eine ganz ähnliche BeobachThe coming politics. Politics of local insurrection against global management. Of tung, als er beschrieb, dass heupresence regained over the absence to oneself. Over the citizen, the imperial estrangedness. te der entscheidende Wandel Regained through theft, fraud, crime, friendship, enmity, conspiracy. Through the elaboration of ways of living that are also der Herrschaftstechnik darin ways of fighting. Politics of the event. bestehe, die Verpflichtung als Empire is everywhere nothing is happening. It administrates absence by waving the palpable threat of police intervention in any place. Freiheit, die Unterwerfung als Who regards Empire as an opponent to confront will find preventive annihilation. Selbstverwirklichung zu inszeTo be perceived, now, means to be defeated. --nieren und damit den uralten Learning how to become imperceptible. To merge. To regain the taste Gegensatz aus Realitätsprinzip for anonymity for promiscuity. und Lustprinzip außer Kraft zu To renounce distinction, To elude the clampdown: setzen, den Freud noch als Besetting the most favorable conditions for dingung für Zivilisation beconfrontation. Becoming sly. Becoming merciless. And for that purpose schrieb. Der Selbstzurichbecoming whatever. --tungsprozess wird somit als You do not contest Empire on its management. You do not critique Empire. You oppose its forces. Abfolge lustvoll und nutzerFrom where you are. --freundlich daherkommender Events erlebt – unter der ständig im Raum schwebenden Drohung, bei Abweichungen von diesem attraktiven Pfad bestraft zu werden.     Dabei fällt der Sieg der völligen Internalisierung der Arbeit durch die Persönlichkeit zeitlich mit der Abschaffung der Arbeit durch die Automatisierung zusammen. Immer weniger Arbeit ist nötig um die Dinge zu produzieren, die wir konsumieren, doch das Arrangement Lohnarbeit wird weiterhin gebraucht, damit sich die Menschen in ständiger Bewe-

RAF  Stadtguerilla mit schnellen Autos und Wummen. Schiessereien, Liquidierungen, Car Chases, Bomben und Flugzeugentführungen, eine Republik außer Rand und Band und am Ende macht Eichinger einen Film draus.

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Sie haben sich zusammengeschlossen, weil sie glaubten, dass eine andere Welt möglich ist. Und weil das gut klingt und erstmal richtig ist, haben sich viele Leute davon angesprochen gefühlt. Die Krawalle in Sydney gaben ihnen Aufwind, aber leider auch die einfachen Einsichten einer Naomi Klein. Von ersteren distanzierten sie sich schnell, letzteres wurde zu ihrem Aushängeschild.   Attac  wurde der Ausdruck einer sich neu formierenden Bewegung und ließ die Aktivisten von einer Gegenkultur träumen, die es im Kapitalismus nicht geben kann. Sie haben keine Theorien, wollen keine gescheiten Praxen folgen lassen, lieber mal eine Aktion machen und ein bißchen intervenieren. Deswegen sind sie heute leider auch genau das: Reformisten, die stehen geblieben sind, erstarrte Denkmäler einer vergangenen Zeit. Und eigentlich haben sie nur eins erreicht: Auf Demos gehen macht dank Glöckchengebimmel und Clownsverkleidungen noch weniger Spaß.

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Future Riot  Life is like a box of chocolate, you never know what you gonna get: Cylonen, Storm Trooper, evil Robots, Dreibeinige Herrscher, Morlocks. Auf jeden Fall gibt’s Kloppe.


gung auf die Möglichkeit eines Jobs hin befinden. »There’s a serious risk that we will end up finding a use for our idleness« heißt es in Der kommende Aufstand und es fällt tatsächlich schwer, die Hartz4-Beschäftigungstherapie aus Bewerbungen und Seminaren oder die ständige Kommunikation und Selbstevaluation des digitalen Prekariats als etwas anderes denn als Aufstandsprävention zu verstehen.     Der nomadisierende Informationsarbeiter, der heute im Satellite Office ein Konzept präsentiert, morgen im Co-working Space eine Website produziert und übermorgen im Cafe, wenn er gerade mal kein Projekt hat, auf Facebook netzwerkt und die Tipps des gerade angesagten Productivity-Gurus studiert und sich mithin als frei, kreativ und unternehmerisch wahrnimmt, ist das Idealbild des kybernetischen Kapitalismus. Wo mit mechanischer Arbeit kein Wert mehr geschöpft werden kann, muss die kreative Persönlichkeit als Ganzes ausgebeutet werden. Die schiere Nutzlosigkeit dieser Geschäftigkeit angesichts der konkreten Utopie, es mit der Lohnarbeit einfach bleiben, die Maschinen mal machen und es sich selbst gut gehen zu lassen, wird nur durch eine immer hochtouriger drehende Zirkulationssphäre noch verdeckt.     Aber sagt das mittlerweile nicht selbst Attac? Demonstrieren nicht auch die Gewerkschaften gegen die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse? Tiqqun denunzieren die zeitgenössische Linke ebenso scharf wie den Kapitalismus selbst: Aufgabe der sozialen Bewegungen sei letztlich die totale Integration aller Subjekte als Feedbackschleifen in die Dynamik des Systems. Forde--rungen nach partizipativenHow to? means that the military confrontation with Empire has to be subordinated to the intensification of the relationships inside our Party. It means that politics are just a Entscheidungsprozessen,certain degree of intensity within the ethical element. That revolutionary war must not be confused with its representation: the raw fact of the fight. nach Transparenz und--zivil­gesell­schaftlicher Bür-Politics of the whatever singularity: opening these spaces where no act is assignable to any given body. Where the bodies recover their ability to the gesture which the so gerbeteiligung würden nurclever distribution of metropolitan devices — computers, cars, schools, cameras, cellphones, den Wunsch des kyberne-gyms, hospitals, televisions, cinemas, etc. — had stolen from them. By recognizing them. tischen Systems nach derBy immobilizing them. Aneignung jeder Informa-By making them turn in a void. By making the head exist separately from the body. tion, die in seinen Teilen--enthalten ist, zum Aus-I need to become anonymous. In order to be present. The more anonymous I am, the more present I am. druck bringen. Die opposi-I need zones of indistinction to reach the Common. no longer recognize myself in my name. To no longer hear in my name anything tionelle Geste wird un-To but the voice that calls it. To give substance to the how of the beings, not what they but how they are what they are. Their life-form. mittelbar integriert: sieare I need zones of opacity where the attributes, even ver­kommt zum Indikator criminals, even brilliant, no longer separate the bodies. einer Abweichung des ge---In a squat. In an orgy. In a riot. In an occupied messenen vom erwartetentrain or village. We get together again. get together again Wert und löst eine Inter-We as whatever singularities. That is to say on the basis of a common affiliation, vention zur Wiederher-not but of a common presence. This stellung des systemischen is our need for communism. The need for nocturnal spaces, Gleichgewichts aus. Jegli-where we can get together che in kritischer Absichtbeyond our predicates. geäußerte Kommunikati---We’re talking about a war full of latency. That’s got time. war of position. on, die anschlussfähig ist,AWhich is waged where we are. In wirkt damit in letzter Ins- the name of no one. In the name of our own existence, tanz stabilisierend. Mehrwhich has no name. --noch: der »entrüstete Bür-Standing up again. Lifting the head up. By choice or by necessity. Whatever, really, now. Looking at each ger«, der sich auf Gipfelpro-other in the eyes and say »let’s start again«. May know it, as soon as possible. testen und Bewegungskon-everybody We are starting again. --gressen mit Tobin-Tax, repräsentativen Politiken oder ökologisch nachhaltigem Wirtschaften beschäftigt, macht sich zum »Amateur-Experten der gesellschaftlichen Verwaltung«, dessen Engagement die Regulierung des Systems überhaupt erst garantiert. Der Bürgerprotest stößt derzeit einen ähnlichen Prozess der Horizontalisierung und Flexibilisierung in der Politik an, der sich in der Wirtschaft schon vollzog: Kapitalismus von unten.     Kritik, die nach Repräsentation und Teilhabe verlangt, fügt sich damit in das herrschende Paradigma. Dissidenz in den tradierten Formen scheint in dieser Sichtweise

1. Mai Kreuzberg  Bambule par excellence mit sportiver Attitüde. Familienspaß dank schön hoher Polizeidichte. Früher war alles besser.

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London 1898  Der Ire Patrick »Hooley« Hooligan wirft gerne mit Mobiliar, daher taucht er vermehrt in Polizeiberichten auf.

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Invasion der Normandie  Anti-Nazi-Riot am Strand. Life is no fucking Beach!


unmöglich. Julien Coupat und seine Genossen von Tiqqun zogen die Konsequenz: sie lehnten es ab, die Gestaltung der Welt aus dem Blickwinkel von Problemen zu sehen. Sie fragten nicht das leninistische »Was tun?« sondern ein poetisches »How to?«. Sie forderten eine konzeptlose Revolte, ein anti-gesellschaftliches Aufbegehren: die diffuse Guerilla. Sie sollte ein Rauschen schaffen, das sich nicht in 1 und 0 codieren lässt und Zonen offensiver Undurchsichtigkeit aufbauen: zum Nebel werden. Die Gruppe zog aus der überwachten --The revolution was molecular, the counter-revolution Metropole Paris mit ihren allge-Tiqqun: Kybernetik und Revolte too. Informationsströ-Zürich 2007, diaphanes A whole complex machine to neutralize all that carries genwärtigen intensity men weg auf einen Bauernhof im128 Seiten Broschiert, 10 Euro was offensively, then durably Zentralmassiv. Bald kam es zu disposed. A machine to defuse all that could explode. Unterbrechungen und VerspäAll the dangerous dividuals, all the indocile bodies, tungen im Netz der französischen all the autonomous human hordes. Bahngesellschaft.     Die Then came twenty years of foolishness, vulgarity, isolation and desolation. Verhaftung der Neun von Tarnac How to? lässt sich fast wie ein Beweis der --Thesen von Tiqqun lesen. Ein Siexcerpts from: Tiqqun, How To? --cherheitsspektakel, das eine landesweite »ultra-linke« terroristische Bedrohung heraufbeschwört: dabei war das Gewaltpotential dieser überschaubaren Gruppe von Freunden nicht annähernd so hoch wie bei einem durchschnittlichen Castor-Transport im Wendland der Neunziger. Beweismittel wie eine Leiter und ein Fahrplan, die von den Behörden als »Kletterwerkzeug« und »detaillierte Dokumente über den Schienenverkehr« präsentiert wurden. Ein mediales Umdeutungsspektakel, das den Versuch, kollektive Beziehungen jenseits ihrer Determiniertheit zu erproben als Terrorseifenoper inszenierte, in den Hauptrollen der Philosoph Julien Coupat und die Fernsehschauspielerin Aria Thomas, die sich auch unter den Verhafteten befand.     Mitte März dieses Jahres, als bis auf Julien Coupat alle Verhafteten bereits freigelassen wurden, veröffentlichten sie ihr letztes Kommuniqué, das vor dem Hintergrund ihrer Überzeugungen nur als konsequent zu verstehen ist. Konfrontiert mit einer »absurden Staatsgewalt«, so schrieben sie, die jedes erdenkliche Mittel nutze, um sich Informationen über sie zu beschaffen und doch nur Obskurität produziere, bleibe nun bis zur Freilassung ihres Genossen nur mehr eines zu tun: zu schweigen.

Mainzer StraSSe  Wasserwerfer, Hubschrauber, Tränengas, ordentlich Knüppel und Schusswaffen. Gewaltgeräumung und Springer hyperventiliert vom Super-Molly auf dem Dachboden.


Vietcong  Guerillas, Tunnelsysteme und Kommunismus. Nach 10 Jahren reicht’s den Amerikanern; und ab nach Hause.

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Hacker  Systeme digital ficken. CCC Sympathisanten hacken amerikanische Wissenschafts- und Militäreinrichtungen, verhökern die Daten an den KGB und kaufen vom Geld Koks und Hasch.


Kein Jesus von Winnenden.

Es sei verwunderlich, dass der Amoklauf die Ausnahme und nicht die Regel ist, befindet Da n i él Kr et s c h m a r . Vor allem weil die Medien ihre Rolle genau so gut oder noch besser als andere beteiligte Akteure spielen.

»Tim war nicht in psychiatrischer Behandlung«, sagen die Eltern des Amokläufers von Winnenden und man möchte antworten, dass das doch sehr bedauerlich ist. Denn dass bei ihrem Sohn eine ganz veritable Schraube locker gewesen sein muss, ist so ziemlich das einzige, was sich mit Sicherheit über ihn sagen lässt. Die dünne Informationslage ist das Kernproblem in der Berichterstattung zu derartigen Tötungsverbrechen: Der Täter kann zu seinen Motiven nicht mehr befragt werden, und da die Schlagzeile »Irrer nietet 15 Menschen um« allein keine ganze Zeitungsseite füllt, muss über Tathergang und vor allem die Vorgeschichte derart exzessiv spekuliert werden, dass es noch Karl May die Schamesröte ins Gesicht treiben würde. Einer der wenigen vernünftigen Experten dabei ist der Bremer Erziehungswissenschaftler Freerk Huisken, der schon nach dem Erfurter Amoklauf darauf hinwies, dass die Anerkennungskonkurrenz im Bildungssystem einen extrem hohen Druck auf die Schülerinnen und Schüler ausübe und als systematisch angewandtes Erziehungs- und Selektionsmittel natürlich auch zu einer Brutalisierung der Umgangsformen beitrage. Insofern sei eher das seltene Auftreten extremer Gewaltexzesse verwunderlich, nicht die Tatsache ihrer Existenz. Diese These ließe sich zwar dahingehend kritisieren, dass sie dem konkreten Täter einen unzulässig großen Teil der Verantwortung für das Verbrechen abnimmt; dass Huiskens Beschreibung der äußeren Umstände in denen Menschen »austicken« jedoch absolut korrekt ist, bleibt von dieser Kritik unberührt. »Wertvoll« ist das Individuum eben nur, wenn es »stark«, »erfolgreich«, »durchsetzungsfähig« und in gewissem Maße auch »rücksichtslos« ist – lauter kleine Amokläufer also, wenn auch für gewöhnlich ohne Beretta im Nachtschränkchen.     Instinktiv bemerken auch Politprofis und Nachrichtenredaktionen diese gefährliche Nähe des gewünschten Sozialverhaltens zum mörderischen Ausbruch. Während sie angesichts der noch warmen Leichen betroffen tun, werfen sie bereits die Vernebelungsmaschine an, mit der sie sich selbst und ihre Kundschaft (Wahlvolk und Abonnenten) vor unbequemen Einsichten schützen. Da wird zum Beispiel über das »Doppelleben« des Amokläufers gemutmaßt, und dabei der Blick auf das Offensichtliche verstellt: Der unauffällige, freundliche junge Mann hatte gar keine furchtbare zweite Identität. Der er war, war er bis zur letzten Sekunde, als er die Waffe auf sich selbst richtete – einer von »uns«. Was das über das Wesen des spätbürgerlichen Individuums aussagt, ist vielleicht nicht ganz leicht zu verdauen; aber das Leben ist nunmal kein Ponyhof. Schauen wir der Wahrheit ins Gesicht: Wir sind ein riesiges Wolfsrudel, gleichzeitig barbarisiert und notdürftig zivilisiert mit dem Versprechen, bei guter Führung (d.h. Präsentation der als »wertvoll« eingestuften Persönlichkeitsmerkmale) auf den Schultern der Schwächeren in die Leitungsebene aufsteigen zu können.     Die vom Extremen ausgeübte Faszination beruht auf dem Mißverständnis, der Verbrecher stünde außerhalb der Gesellschaft und bedürfe daher einer besonderen Durchleuchtung. Es wird im Amokläufer das Fremde gesucht, weil das Eigene so aufdringlich präsent ist: nicht der Gedanke, »es denen mal so richtig zu zeigen« und mit einem großen Knall zu gehen, unterscheidet den Amokläufer

von uns, sondern die tatsächliche Umsetzung dieses gar nicht so seltenen Tagtraumes. Der Abstand zwischen Zivilisation und Barbarei wird hier lediglich durch die rationale Entscheidung definiert, den gesellschaftlichen Normen folgend, die eigene soziale Stellung hinzunehmen und diese ausschließlich mit den allgemein akzeptierten Methoden der Anerkennungskonkurrenz zu verbessern. Dass wir die dieser Unterwerfung unter die Normen innewohnende Ohnmacht so gerne verdrängen, erschwert es, bewusst zu erkennen, dass auch der Amokläufer zwar selber, aber keineswegs selbstbestimmt handelt, verantwortlich für seine Taten, aber nicht Herr über sich selbst. Die Idee, dass ein Suizid, ob apokalyptisch wie in Winnenden oder ganz brav an einem Ast im Wald, die Unfreiheit beenden würde, ist nur zur Hälfte plausibel. Tote sind nicht frei, sondern in allererster Linie tot. Ceterum censeo: Er bleibt einer von uns. Wie wir ist er unfähig, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen.      Deshalb ist es vor allem die unterstellte Nutzlosigkeit des Amoklaufes, die die Gesellschaft vor ein, allerdings nicht so schwer zu lösendes, Rätsel stellt. »Warum?«, steht gerne auf den rührenden handgemalten Karten die sich zwischen Kerzen und Blumen an den Tatorten finden. Die Antworten lassen nicht auf sich warten: Killerspiele und Internet werden als Ursachen bemüht. Dabei wird verkannt, dass der kausale Zusammenhang zwar durchaus besteht, nur genau umgekehrt. Begreifen wir Medien, öffentlich praktizierte Politik, Musik und auch Computerspiele als einen Komplex, den der Unterhaltungsindustrie nämlich, wird das leichter verständlich. Der Amokläufer ist nicht von Produkten dieser Industrie zu seiner Tat angestachelt worden, im Gegenteil: Er befriedigt den permanenten Hunger der Unterhaltungsbranche nach content. Eine ganz aparte Komplizenschaft wird offenbar: Wenn der Amokläufer sich einmal im Leben einen Namen machen wollte und unsterblichen Ruhm anstrebte, dann tragen die Medien und ihr Publikum ganz wesentlich dazu bei, ihm diesen Traum zu erfüllen. Anders geht es auch gar nicht, wird jede Nachricht doch auf ihr Vermarktungspotential, d.h. ihren Unterhaltungswert, hin überprüft. Es ist kein Zufall, dass in den Tagen nach Winnenden nur ein anderer Vorgang für tauglich befunden wurde, die Titelseiten zu zieren: der Fritzl-Prozess. Auf diesen Ruhm in der Unterhaltungsindutrie zu spekulieren ist ungefähr so irre, wie die Teilnahme an einer Castingshow, »nur« mit den sehr viel tragischeren Folgen. Einer der klassischen Fälle, in denen dieser Mechanismus bewusst benutzt wurde, war übrigens der von Mark David Chapman, der mit John Lennon aber immerhin nur ein Leben für die eigene Unsterblichkeit geopfert hat. War nicht alles schlecht, früher.

Freerk Huisken  ist emeritierter Professor für »politische Ökonomie des Ausbildungswesens« und steht dem Gegenstandpunkt nahe. Der Gegenstandpunkt ist ein Zirkel marxistischer Männer und kann sogar einen verregneten Sommer mit dem Staat erklären. Ihre Hochzeiten hatten die Marx-Männer in den 70ern und 80ern. Damals hießen sie noch Marxistische Gruppe und ein jeder von ihnen war gut genug geschult, um auch den Professor im Seminar niederzureden. Ihre größte Verbreitung hatten sie in Franken und der dortige Stadthalter Karl Held hatte beim Konkret-Kongress 1993 mit seinen biergeschwängerten Pöbeleien gegen Gremliza und Porth einen legendären Auftritt.

Illustration: Oliver Bieräugel

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Street Gang with Analysis

Auch wenn die deutsche (Pop-)Kulturlinke gerne versucht Gegenteiliges zu suggerieren, gab es hierzulande nie eine gescheite Verknüpfung von Theorie und Praxis, also von Straßenkampf und der Kritik an den Verhältnissen in einem popkulturellen Kontext. 1968 in Deutschland war das Jahr der linken Mitläufer, Pop war die aufgeladene Zusammenrottung von gelangweilten wie desorientierten Bürgerkindern und auch nach 20 Jahren Techno ravet nicht die ganze Society, sondern lediglich eine von vielen Nischen. Jo n a s G e m p p hat sich mit der einzig wahren Counterculture beschäftigt.

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I. Sich gegen die institutionalisierte Kunst zu wenden, ist in Zeiten in denen Kuratoren, Schreiberlinge und Geldgeber in einem undurchschaubaren Gewirr danach lechzen wahrgenommen zu werden und schon zum Zeitpunkt des Geschehens an der Geschichtsschreibung stricken, undenkbar geworden und so überrascht es nicht weiter, dass auch im Jahr 2009 die Analyse der Popkultur von damals in der intellektuellen Sackgasse landet, da hilft selbst der falschverstandene Adorno nicht weiter:     »Tatsächlich war die Selbstbestimmung immer ein wichtiger Aspekt der gegenkulturellen Popkultur. Draußen war die Arbeit fremdbestimmt. Um das Konsumbedürfnis der Masse befriedigen zu können, war die Gesellschaft auf Massenproduktion eingeschworen worden – und dafür zählte Leistung. Bei diesem vertrackten Mechanismus machte man in der Popkultur nicht mit. Man verfolgte eigene Werte und setzte den stupiden Anforderungen der Leistungsgesellschaft ein selbst bestimmtes Leben und Arbeiten entgegen. Man lebte auf der richtigen Seite des Kapitalismus, man lebte das richtige Leben im Falschen: selbst bestimmte Ökonomie. Popkultur war eine alternative Lebensform, die sich den kapitalistischen Anforderungen der Leistungsgesellschaft entgegenstellte.«       (Mercedes Bunz in De:Bug 122, Mai 2008)     Dass es jedoch nicht darum geht Pappfigur zu bauen und diese zu Selbstvergewisserungszwecken mit lautem Getöse umzuboxen, davon zeugt die Geschichte der klugen wie radikalen Stadtguerillatruppe »Black Mask/Up Against The Wall Motherfucker«.     II. Am 3. Juni 1968 schoss die Feministin Valerie Solanas in New York auf Andy Warhol. Solanas hatte zuvor das »SCUM Manifesto« verfasst, das fälschlicherweise als Männerhasstext gedeutet wurde, sich aber in seiner fatalistischen Härte gegen all jene Faktoren richtete, die das Leben einer beständig unterdrückten Frau in der US-ameBezug unter: rikanischen Gesellschaft der 60er-Jahre bestimmten:     »Life in this society www.hood.de being, at best, an utter bore and no aspect of society being at all relevant to women, theGSSgangstreetstyle re remains to civic-minded, responsible, thrill-seeking females only to overthrow the government, eliminate the money system, institute complete automation and destroy the male sex. It is now technically feasible to reproduce without the aid of males (or, for that matter, females) and to produce only females. We must begin immediately to do so … The male is a biological accident.«     Was sich auf den ersten Blick verrückt liest, ist eine Erkenntnis, die aus der Analyse der Gesellschaft der 60er-Jahre folgt und daran aninfos: audiolith.net Audiolith Records Produkt Booking knüpfend eine Utopie birgt: Der Entwurf einer besseren Gesellschaft, die den technischen Fortschritt im Sinne der Emanzipation des Menschen nutzt und den Kapitalismus und damit jegliche Herrschafts- und Machtverhältnisse abschafft. Die Abschaffung des Mannes ist hierbei nicht als konkreter Vernichtungswahn gegenüber dem männlichen Geschlecht zu verstehen, sondern beinhaltet den Entwurf einer Gesellschaft aus Menschen, deren biologische Voraussetzungen nicht in sozialen Herrschaftsverhältnissen und Unterdrückung münden. Der Mann ist also keineswegs ein »biological accident«, sondern nur das Symptom und Solanas erklärte auch immer wieder, dass das Manifest keineswegs als Handlungsanweisung zu rezipieren sei.     III. Einer der wenigen, die Solanas Angriff auf Warhol verteidigten war Ben Morea, der charismatische Stichwortgeber und Vordenker

29.04. – 10.05.2009 party monsters unite tour mit KRINK, RAMPUE, IRA ATARI UND ONE FOOT IN DA RAVE.


White Night Riot  White erschiesst erst Moscone, dann Milk und bekommt ein zu mildes Urteil. Die Folge Gays vs. Cops auf den Straßen von San Fransico.

Sturm auf die Bastille  Ist der Brotpreis zu hoch, folgt die Revolution und am Ende brennt die Burg. Liberté, égalité, fraternité!

Spartacus: 73 v. Christi. Der Gladiator und Profi-Charismat schart 200.000 Sklaven um sich und bricht Riots gegen die Römer vom Zaun. Erst erfolgreich, später tot.

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einer in der New Yorker Lower East Side beheimateten anarchistischen Gruppe namens »Black Mask/Up Against The Wall Motherfucker«:     »Andy Warhol Shot by Valerie Solanas. Plastic Man vs. the Sweet Assassin. A tough chick with a bob cap and a .38—the true vengeance of DADA—the »hater« of men and the lover of »man« the camp/master slain by the slave. VALERIE IS OURS.«     Die Mitglieder der »Black Mask/ Up Against The Wall Motherfucker« hatten höchst unterschiedliche Hintergründe; neben den klassischen Straßenrowdys und Lotter-Hippies, bestanden die »Motherfucker« aus Bildungsbürgerkindern wie Herbert Marcuses Stiefsohn Osha Neumann, der das vernunftgesteuerte Elternhaus hinter sich ließ, um in den Straßen der »Village« ein Agitprop-Bandenleben zu führen. Der Kampf der »Motherfucker« war mehrschichtig und neben der Beteiligung an den Protesten gegen den Vietnamkrieg (bei dem sich die »Motherfucker« nicht mit dem stalinistischen Nordvietnam gemein machte) geriet die Kunstszene New Yorks in ihr Visier. Mitte 1968 waren die »Up Against the Wall Motherfucker« aus dem Umfeld der Gruppe »Black Mask«, die ein gleichnamiges Magazin herausgaben, hervorgegangen. »Black Mask« hatte sich 1966 gegründet und agierte an den Schnittstellen zwischen Kunst und politischer Aktion, indem sie immer wieder Aktionen gegen Museen und Galerien veranstalteten, die ihren Höhepunkt in der zeitweisen Schließung des MOMAs fand. Solche Aktionen und die radikalen Positionen wurden von anderen Linken wie der »SI« kritische beäugt. Ein Grund war das 1968 begangene Fake-Attentat auf den Schriftsteller Kenneth Koch. Ein Black-Mask-Aktivist feuerte bei einer Lesung mit Schreckschussmunition auf Koch, der die burgeoise Belanglosigkeit verkörperte, die Worte nur zu ästhetischen Hüllen machte und jeglichen revolutionären Impetus im Sinne der Aufklärung vermissen ließ. Sie wollten mit dieser Aktion nicht wie sonst die offensichtlichsten Symptome des falschen Ganzen angreifen, sondern auch das normale, unverdächtige, das ebenso Ausdruck des falschen Ganzen war und in seiner bürgerlichen Rezeption den revolutionären Faktor von Kunst vollkommen rationalisierte.     IIII. Dies war also das Umfeld, in dem sich Valerie Solanas neben ihrer Arbeit als Künstlerin in Warhols Factory bewegte. Kunst war zu dieser Zeit noch möglicher Ausweg und Warhol wurde stellvertretend für die totale Kommerzialisierung und Perspektivenlosigkeit des Kunstbetriebes angegriffen. Die totale Unterwerfung der Kunst durch die kapitalistische Verwertungslogik, also die absolute Produktwerdung von Kunst war den „Motherfuckers“ ein Greuel, dem setzen sie neben ihren Aktionen ein selbstbestimmtes Bandleben entgegen:     »By the beginning of 1968, we had become a formidable presence on the Lower East Side. ( …) We scammed and shoplifted. Communists took jobs in factories, to be close »to the people«. Motherfuckers hung out on the streets to be close to the people, the »freaks« as we fondly called them. Communists went to work. We did as little work as possible.«     Ziel der »Motherfuckers« war es nicht eine bessere Welt zu schaffen, sondern sich durch Aktionen zu definieren, ein angenehmes Lebensumfeld zu gestalten und wahrgenommen zu werden. Reformistische Weltverbesserung oder die Halluzination, in der Nische ein richtiges Leben im falschen zu führen, spielten keine Rolle:     »Total Revolution was our way of saying that we weren’t going to settle for political or cultural change, but that we want it all, we want everything to change. Western society had reached a stalemate and needed a total overhaul. We knew that wasn’t going to happen, but that was our demand, what we were about.«  (Ben Morea 2006: http://libcom.org/history/against-wall-motherfucker-interview-ben-morea)

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Osha Neumann: Up Against the Wall Motherf**ker – A Memoir of the ’60s, with Notes for Next Time      Osha Neumann ist ein Anwalt, Künstler und Bürgerrechtsaktivist aus Oakland, Kalifornien. Seine Eltern Inge und Franz Neumann flohen während des Nationalsozialismus vor den Deutschen über England in die USA. Franz Neumann hatte 1942 den »Behemoth« veröffentlicht und war der beste Freund von Herbert Marcuse, der mit der Familie Neumann unter einem Dach wohnte. Marcuse heiratet nach Franz Tod Inge Neumann und wurde Oshas Stiefvater. In dem autobiographischen Buch beschreibt er wie er die emotionale Einöde der intellektuellen Ratio in Berkley hinter sich ließ und als Teil der »Up Against The Wall Motherfucker« in New York den Straßenkampf mit emanzipatorischer Theorie kombinierte und seinen persönlichen Kampf mit der richtigen Dosis »reason« (Vernunft) austrug.


Shah Besuch  Prügelperser vs. Studenten. Am Ende hat Ohnesorg eine Polizeikugel im Kopf und die Studentenbewegung versucht’s radikal.


BRIEFFREUNDE

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Tex t: Daniel Erk , Phil om Ges taltu ng: caarla.c

Li eb er Da ni el , des Im zwan zig sten Jah r im Herzen der Stadt. glä ser nen Lügentur m bevor: wir ha ben den ich sch reibe aus dem der Du rch bruch ku rz n Sk laven krieges steht ochen, wir ha ben die unerbittl ichen, große nderschä nder freigespr infi ltr ier t und seine Ki Gegner im Haupthaus on nen. vt und an Wa hrheit gew seren let zten Angriff, ew igen Lügen ent lar ren ist , pla nen wir un n, wa s ihnen wider fah cht . Am Morgen des Noch ehe sie begreife d dem Willen zu r Ma gten Freiheit sdrang un ihre let zten Ba stionen get rieben vom un bedin lan vor – stü rmen wir – so sieht es der Zeitp und reißen die vier 24 . Dezem bers 2079 ihre Schreibk am mern gsbezirk, zer sch lagen , end losen Leids und im 6. und 14 Regierun anger Unterdrücku ng , ihre Sy mbole jah rel Schatten von der Wa nd zer stört sein. freud losen Da seins. s sie aufgebaut ha ben, wa i sind, wird auch alles, ntrale zu geben; wir Wenn wir end lich fre bereit, alles für die Ze , n als wir ka men, wa ren ämpft , Zeile um Zeile Wir wa ren jung und rei e bessere Zu ku nft gek ausradiert und für ein , Daten kontrolle und ha ben ihre Gesch ichte i und Unterdrücku ng wa ren ew ige Sk lavere Ta g für Ta g. Ihr Lohn ben uns nie ver traut. ihrer Seite, aber sie ha iger ist der Feind Ha ss. Wir wa ren auf ig. Ja, aber noch mächt e Unser Gegner ist mächt rt, ha ben Geheimn iss Du wirst einwenden: n get run ken und gefeie gner Wir ha ben zusam me erwachung. Unsere Ge aus unseren Reihen: wa ren Verrat und Üb n gehasst. Der Da nk ig in der Hölle ihrer geteilt und zusam me nichten. Mögen sie ew die Sa boteu re aber ver werden wir schonen, re Zu ku nft beschert Feigheit sch moren! en, da ss uns eine besse hnn Dir nicht ver sprech Zeilen bis zu r Fr ied ric Lieber Da niel, ich ka e let zten, schwachen i zu e im Sa nd weht, unser Diktatur der Sk lavere ist , wenn unsere Fa hn unsere Hoffnung die Du musst ver stehen: straße fl im mern, aber ieg zu verlieren. alle Fu rcht, diesen Kr beenden ist größer als

ip Vincente

Dein Philip

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er Dan iel, Lieb Lieber Daniel, n Jahr nturm im Herzen der Stadt . Im zwan zigste rnen Lüge gläse demdem ibe aus aus ich schreibe ich schre gläsernen Lügenturm im Herzen der Stadt. n Im zwanzigsten habeJahr wir : bevor kurz ch hbru Durc der steht enkrieges en Sklav ittlichen, groß unerb desdes unerbittlichen, großen Sklavenkrieges steht der Durchbruch kurz bevor: wir haben hen, sproc freige r t und seine Kinderschände ltrier thaus infiinfi er im Haup Gegn denden Gegner im Haupthaus ltriert und seine Kinderschänder freigesprochen, wir an Wahrheit gewonnen. und rvt entla n Lüge n ewige n diedie ewigen Lügen entlarvt und haben habe an Wahrheit gewonnen. en letzten unser wir n plane ist, en rfahr wide ihnen ifen, waswas begre sie sie eheehe Noch Noch begreifen, ihnen widerfahrenund ist, planen wir unseren letzten t. Am Mach zur n Wille dem eitsd rang dingten Freih unbe ben vom iff, getrie Angriff, Angr getrieben vom unbedingten Freiheitsdrang undvor dem Willen zur Macht. Am ihre wir en stürm – lan Zeitp der – so sieht es mber s 2079 Deze 24.24. en desdes Morgen Morg Dezembers 2079 – so sieht es der Zeitplan vor – stürmen wirmme ihrern eibka Schr ihre n hlage zersc rk, sbezi rung Regie 14 14 Regierungsbezir 6. und onen imim n Basti letzten letzte Bastionen 6. und k, zerschlagen ihre Schreibkammern rdrückung , der Wand, ihre Symbole jahrelanger Unte tten vonvon Scha viervier n diedie reiße und und reißen Schatten der Wand, ihre Symbole jahrelanger Unterdrückung, ins. losen Dase freud s und sen Leid endlo endlosen Leids und freudlosen Daseins. sein. auch alles, was sie aufgebaut haben, zerstört wird sind, ch freifrei endli wirwir Wenn Wenn endlich sind, wird auch alles, was sie aufgebaut ; haben, zerstört geben sein. zu rale Zent die für alles t, kamen, waren berei wirwir alsals rein und n jung ware Wir Wir waren jung und rein kamen, waren bereit, re alles fürnft um diegekäm Zentrale geben; Zeile pft,zu Zuku besse eine für und diert hichte ausra Gesc n ihre habe wirwir haben ihre Geschichte ausradiert und für eine bessere Zukunft gekämpft,nkon - um Zeile n ewige Sklaverei und Unterdrückung , Date ware Lohn IhrIhr Tag. fürfür , Tag Zeile Zeile, Tag Tag. Lohn waren ewige Sklaverei und Unterdrückung, Datenkonaut. vertr nie uns n habe sie Seite, aber ihrer n auf ware . Wir Hass und trolle trolle und Hass. Wir waren auf ihrer Seite, aber sieJa, haben vertraut. tiger ist der Feind mäch nochnie aber uns er ist mächtig. r Gegn nden: Unse Du Duwirst wirsteinwe einwenden: Unser Gegner ist mächtig. Ja, aber noch mächtiger istimni der sse n Gehe habe ert, gefei men getru nken und n zusam Wir habe Reihen:Reihen: enunseren unser aus Feind aus Wir haben zusammen getrunken undwach gefeiert, habenre Unse ung. Über und t Verra n ware sst. Der Dank gehazusammen menund lt und zusam getei Geheimnisse geteilt gehasst. Der Dank waren Verrat in der Hölle ewigÜberwachung. n sieund aber vernichten. Möge die Saboteure en, schonen, schonwir en wir er werd Gegn Unsere Gegner werden die Saboteure aber vernichten. Mögen sie ewig in oren! schmoren! eit schm Feighihrer ihrer der Hölle Feigheit versprechen, dass uns eine bessere Zuku nft ich el, er Dani Lieb Lieber Daniel, ichkann kannDir Dirnicht nicht versprechen, dass uns eine bessere Zukunft n bis zur Sand weht, unsere letzten, schwachen Zeile e im e Fahn ert ist, besch beschert ist,wenn wennunser unsere Fahne im Sand weht, unsere letzten, schwachen tur Zeilen bisder zur Dikta die nung Hoff e unser ehen: musst verst rn, aber richstraße flflimme Fried Friedrichstraße immern, aberDu Du musst verstehen: unsere Hoffnung die Diktatur der


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