Homosexualität und Religion

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Tikkun Olam – Verbesserung der Welt

von Kai Eckstein

Nach meinem Studium wurde ich Mitglied der „Society for Humanistic Judaism (SHJ)”, einer Dachorganisation für humanistisches Judentum in Nordamerika. Ich lebte mit meinem Freund in Hamburg, hatte keine Gemeinde, sondern hielt Vorträge und gab Seminare über das Judentum. Ich hatte mich schon ganz gut eingerichtet mit dem Gedanken, erstmal nicht als Rabbiner in einer Gemeinde zu arbeiten. Bis ich einen Anruf aus der Zentrale der SHJ bekam: „Sag mal, Kai, du hast doch Zeit. Kannst du dir vielleicht vorstellen, eine Gemeinde in San Francisco zu übernehmen?” – San Francisco war viel zu verlockend, um Nein zu sagen. Also zögerte ich nicht allzu lange: „Ja, ich denke, das kann ich.” – „Gut, dann schick doch deine Bewerbungsunterlagen an die und die Adresse. Ach ja: Sie hatten dort schon einige Bewerber für die Stelle, aber das hat alles nicht geklappt. Ich drück’ dir die Daumen.” Ich wurde also zum „Bewerbungsgespräch” eingeladen, d. h. ich war eine Woche lang in San Francisco, um mich dem Vorstand und den Gemeindegliedern vorzustellen und um Gottesdienste zu halten. Ich wohnte in der Gästewohnung der Vorstandsvorsitzenden und ihres Mannes. Die beiden führten mich auch auf eine Tour durch die Stadt, besonders ins Castro-Viertel, vorbei an all den schwulen Läden und Cafés. Ich fragte mich, ob sie mich wohl hierher führten, weil sie ahnten, dass ich schwul bin? Bis dahin hatte ich noch nicht erwähnt, dass, falls sie mich denn einstellen sollten, ich natürlich mit meinem Partner hierherkommen würde. Nicht lange darauf legte ich die Karten auf den Tisch. Das war beim Abendessen, und meine Gastgeber fingen herzhaft an zu lachen und umarmten mich. Ich muss wohl recht verstört gewirkt haben, denn die Vorsitzende erklärte mir sofort: „Wir haben dich ins Castro gebracht, um zu sehen, wie du darauf reagierst. Weißt du, wenn du hier in unserer Gemeinde Rabbiner sein willst, musst du aufgeschlossen sein. Und wir dachten: Na ja, ein Rabbi aus Deutschland, wer weiß, wie konservativ der wohl ist? Es freut uns, dass du offen schwul bist und deinen Freund mitbringst.”

In meiner Zeit als Rabbiner dieser Gemeinde konnte ich erleben, wie selbstverständlich es ist, jüdisch und schwul zu sein, und es war nicht mal eine schwul-lesbische jüdische Gemeinde! Ich wurde Mitglied einer regionalen Rabbinerkonferenz in der San Francisco Bay Area, das ist ein Zusammenschluss von Rabbinern und Rabbinerinnen aus ganz verschiedenen Strömungen innerhalb des Judentums. Den Vorsitz dieser Konferenz hatte Allen Bennett, ein Reformrabbiner, der sich als einer der ersten Rabbiner in den USA schon in den 1970er-Jahren als schwul geoutet hat (und damals waren so positive Reaktionen, wie ich sie erlebt habe, noch keineswegs selbstverständlich). Als Rabbi war er immer auch engagiert in der Schwulenbewegung: Er war Rabbiner der schwul-lesbischen jüdischen Gemeinde Sha’ar Zahav in San Francisco und auch derjenige, der 1978 die Trauerfeier für Harvey Milk gestaltete, und steht bis heute als Beispiel dafür, wie es gelingen kann, sein Jüdischsein und sein Schwulsein positiv und integrativ zu leben und also beides in Einklang zu bringen. Wenn die Frage gestellt wird: „Wie kann man im Judentum Homosexualität mit Religion vereinbaren?”, gibt es darauf nicht nur eine Antwort. Ein orthodoxer Rabbiner wird diese Frage wahrscheinlich anders beantworten als ein Reformrabbiner. Das hängt auch mit der unterschiedlichen Weise zusammen, wie beide die biblischen Texte verstehen. Oft argumentieren orthodoxe Gelehrte mit der Unveränderbarkeit des Textes, da sie dem Text als Wort Gottes autoritativen Charakter beimessen. Progressive Rabbiner dagegen verstehen den Text meist als ein Dokument, das in einer bestimmten Zeit entstanden ist und in eine bestimmte Situation hinein gesprochen wurde. Damit verliert der Text oft seine göttliche Autorität, und es wird möglich, Homosexualität als etwas Positives zu verstehen, das nicht verleugnet oder unterdrückt werden muss. Ein Rabbiner ging Anfang der 1960er-Jahre noch einen Schritt weiter: Rabbi Sherwin Wine und seine Gemeinde in

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