Gott und ich

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Titelfoto: Barbara Volkmer Softcover, 184 Seiten mit Abbildungen ISBN: 978-3-947292-07-3 Preis: 14,90 Euro (D)

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FĂźr meinen Mann Vincenzo

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Inhalt Vorwort und Danksagung . . . . . . . . . . . . . . 7 Ankunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 An Vertreibung aus dem Garten Eden . . . . . . 21 Im Dornengestrüpp . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Morgendämmerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Der uralte Fluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Visionen, Einsichten und Absichten . . . . . . 63 Härtegrade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Endpunkt, Wunder und Neuanfang . . . . . . 96 Aus Ferne wird Nähe . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Begeisterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Befreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Träume werden Wirklichkeit . . . . . . . . . . . 141 Vom Paradies in die Hölle . . . . . . . . . . . . 156 Aus der Hölle ins Hier und Jetzt . . . . . . . 167

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Vorwort und Danksagung

Das eigene Leben zu erzählen, ist ein seltsames Unterfangen! Denn man lebt ja noch – die Geschichte hat noch kein Ende. Und da ich mich lĂźckenlos an alles erinnere, was ich erlebt habe, seit LFK HWZD YLHU -DKUH DOW ZDU LVW GLH 6WRႇVDPPOXQJ JHZDOWLJ 1DFK welchen Kriterien wählt man aus? Ich danke meinem Freund und Verleger Ralf WĂźrtz, der mir den Titel geschenkt hat: Gott und ich! Dadurch ergab sich die Auswahl wie von selbst. Aber was heiĂ&#x;t „Gott“? Ich glaube nicht, dass irgendjemand auf dieser Welt dies mit Sicherheit weiĂ&#x;. Dennoch ist die Suche nach „Gott“, oder nach dem Ewigen, oder nach irgendeinem hĂśheren Wesen, oder nach einem hĂśchsten Prinzip, sozusagen in unseren Genen verankert – und wer Atheist ist, wurde dies erst nach einer bewussten Entscheidung. Es ist ein spannender Weg ins Unbekannte, den wir alle gehen; ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Und das grĂśĂ&#x;te Unbekannte, nämlich der Tod, wartet auf uns alle – auch wenn das in der heutigen Kultur so gern verdrängt wird. Deshalb freue ich mich, meine Erfahrungen mit Euch zu teilen. Mein Weg war verschlungen, aufregend und oft vĂśllig Ăźberraschend. So war es und nicht anders – ich habe nichts beschĂśnigt, aber natĂźrlich eine Menge weggelassen, denn sonst wäre das Buch zehnmal so lang geworden!

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Ich danke all meinen Freunden, die mich unterwegs begleitet haben, von ganzem Herzen. Es ist ein gewaltiges Privileg, euch zu kennen, und Gott soll euch immer und überall segnen! „Trau nicht deinen Augen, deinen Ohren nicht. Du siehst Dunkel - vielleicht ist es Licht.“ Bertolt Brecht Viel Spaß beim Lesen…

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Kapitel 1

Ankunft

In meiner frĂźhesten Kindheit gab es nur EindrĂźcke, und alle waren ungeteilt. Rhythmische Veränderungen: Licht, Schatten, Freude, Spannung, Mangel, Angst, Genuss, Neugier ‌ Jeder Eindruck stand fĂźr sich, neu und frisch und vĂśllig wertfrei: sinnlich und durchaus auch Ăźbersinnlich, denn diese fatale Unterscheidung gab es damals ebenfalls noch nicht. Jeder einzelne Augenblick OHXFKWHWH YROO XQG UXQG MHGHU $XJHQEOLFN VWDQG I U VLFK XQG Ă€XWHWH LQ PHLQ ZHLFKHV QRFK QDFK DOOHQ 6HLWHQ RႇHQHV *HKLUQ DOV VHL LFK HLQH :DVVHUSĂ€DQ]H GLH VLFK LQ GHQ 6WU|PXQJHQ EHZHJW Noch war nichts in irgendwelche Systeme eingeordnet und alles erschien mir in seiner Ganzheit ‌ bis die Fontanellen meines Säuglingsschädels zuwuchsen und ich allmählich „allein war“. Wahrscheinlich klingt das vĂśllig absurd, aber: jawohl, ich erinnere mich wirklich „irgendwie“ immer noch an diese frĂźheste Zeit. Irgendwie. Lieber Freund und liebe Freundin, die ihr dies lest: spĂźrt doch mal in euch rein, ganz tief – noch viel weiter, als eure Gedanken XQG %HJULႇH KLQDEWDXFKHQ N|QQHQ *DQ] XQWHQ DXI GHP *UXQG liegen Erinnerungen an dieses Damals, als alles noch einfach war - als wir alle noch ganz ungeteilt „wir selbst“ waren. Auch in HXFK OHEHQ KHXWH QRFK GLႇXVH (ULQQHUXQJHQ DQ /LFKW XQG 6FKDWten, rhythmisch und verlässlich, beide Komponenten einer MuVLN GLH PDQ QRFK ODQJH QLFKW EHJULႇ DEHU GHQQRFK GLH )UHXGH

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spĂźrte, und die VerheiĂ&#x;ung, die darin lag - und es gab noch keinen Grund, sich ihr nicht vĂśllig hinzugeben. Selbstverständlich kann ich diese Erinnerung kaum in Worte fassen, denn Worte gab es damals in meinem Leben noch lange nicht! Aber „in Wirklichkeit“ bin ich immer noch dieselbe wie damals und weiĂ&#x; um dieses Licht und um diese Dunkelheit. Es war eine Art subjektives, inneres Wetter, dem ich heute noch unterworfen bin – aber damals vermittelte Licht immer Zuversicht und Ansporn, und das noch monsterlose Dunkel fĂźhrte mich liebevoll in den Schlaf. „Gott“ war da. Auch als es noch keine Worte gab, spĂźrte ich etwas GroĂ&#x;es, das mich liebte und trug. DafĂźr danke ich meiner Kinderfrau Maria Schwager, einer katholischen Bauerntochter, die tief im uralten, bayerischen Boden verwurzelt war. In Marias Adern kreisten die Jahreszeiten: das Bauernjahr mit seinen Festtagen, die man schon feierlich begangen hatte, bevor die RĂśmer kamen. Später, als das Entsetzen des Daseins Ăźber mich herein brach, waren es diese Wurzeln, die mich gerettet haben; und ich bin tief dankbar, dass Gott mir durch Maria diesen Rettungsanker mit auf den Weg gegeben hat. „Ich will euch nichts Schwereres aufbĂźrden, als ihr ertragen kĂśnntâ€Śâ€œ, lautet ein biblisches Versprechen Gottes. 'LHV LVW NHLQH $XWRELRJUDÂżH VRQGHUQ GLH *HVFKLFKWH PHLQHU %Hziehung zu Gott, und deshalb werde ich versuchen, mich auf dieses Thema zu beschränken, statt in allzu viele Details auszuufern, so spannend sie auch sein mĂśgen. Einiges muss dennoch gesagt werden, um mein Umfeld zu vermitteln.

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Mein Vater war ein junger, gefeierter BĂźhnenbildner aus der Schweiz, Ăźberzeugter Atheist, und selten zuhause. Meine Mutter war eine nicht minder gefeierte Schauspielerin, die eher agnostisch dachte. Beide kamen und gingen: sie durchkreuzten meine NOHLQH KHLPHOLJH :HOW ZLH .RPHWHQ GLH XQYHUKRႇW XQG PLW JHwaltigem Glanz vorĂźbergehend das trauliche Halbdunkel erhellten, in dem Maria und ich lebten. Der immer wiederkehrende Trennungsschmerz war gewaltig; vor Allem, was meine Mutter betraf. „Vati“ war von Anfang an eher so etwas wie eine ferne +RႇQXQJ LFK OLHEWH LKQ ZLOG HU ZDU VR VSDQQHQG ZLH HLQ XQEHkanntes, verheiĂ&#x;ungsvolles Land, denn ich kannte ihn kaum. Zu „Mutti“ dagegen hatte ich eine extrem innige Beziehung. Wenn sie da war – sie litt unter unseren Trennungen genau so wie ich – kuschelten wir exzessiv, spielten miteinander, lachten viel und sangen alle mĂśglichen und unmĂśglichen Lieder, die sie mir beibrachte und auf ihrer Ziehharmonika begleitete. Unser Lieblingsspiel war „Hasen“, da lebten wir als Hasenmädchen in einer HĂśhle im Wald, und ich war ihre ältere Schwester! All dies fand meist in ihrem breiten Barockbett statt, denn ich wachte damals extrem frĂźh auf, während Mutti nach ihren Theatervorstellungen naturgemäĂ&#x; spät heimkam und gern ausgeschlafen hätte. Aber sie hat mich immer willkommen geheiĂ&#x;en und absolut alles getan, um mein Leben schĂśn zu machen: alles, was sie selbst als Kind nicht gehabt hatte, sollte ich haben. Davon wusste ich damals natĂźrlich noch nichts. Aber allmählich drangen immer mehr Worte in meine Welt. Es war, als hätte ich bisher unter Wasser gelebt, wohlig eingebunden in die wechselnden StrĂśmungen, geborgen und schwerelos. Wir alle tragen diese genetischen Erinnerungen in uns‌ Erinnert ihr euch, liebe

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Leser, während ihr dies lest? Nicht umsonst sind unsere Tränen salzig! Im Mutterleib haben wir alle den Schutz des umgebenden Wassers erfahren. Aber nun geleiteten mich die Worte Stück für Stück auf den harten Boden des festen Landes unter der gleißenden Sonne. Worte bedeuteten Freiheit: ich spüre immer noch die begeisterte Gänsehaut, die mich überlief, als ich mit drei Jahren zum ersten Mal „allein zum Bäcker ging“ (der Laden war im Erdgeschoss unseres Hauses und der Bäcker kannte mich gut), und laut und deutlich sagte: „Bitte eine Breze“. Ich wusste, dass dies der allererste Schritt in die spannende, gigantische Welt war, die VLFK PLU QXQ |ႇQHWH Mein einziges „Problem“ war das Essen. Allerdings empfand ich es dank Marias Geduld weder als Makel, noch als Stressfaktor, sondern als etwas, mit dem „die anderen“ gefälligst klar zu kommen hatten. Schon unmittelbar nach meiner Geburt hatte ich mich geweigert, an der ekligen Mutterbrust zu trinken. „Die Hebamme hat dich da so brutal hingeschubst“, erzählte Mutti mir oft. „Dabei waren wir beide so erschöpft von der schwierigen Geburt! Und dann musste ich mir die Milch abpumpen, das war vielleicht unangenehm!“ „Essstörungen“ sind ja heute ein bekanntes Problem, aber im Nachkriegsdeutschland gab es noch keine psychologischen Kategorien für solche Dinge. Einmal hatte ich sogar einen Albtraum von einem wunderschönen Eisenbahnzug, den ich geschenkt bekommen hatte. Er war so groß, dass ich neben Maria in der Lokomotive sitzen konnte, und hatte mehrere Anhänger. Ich konnte es kaum erwarten, damit zu spielen – aber zuerst musste ich all den Brei essen, mit dem die Waggons hoch aufge-

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häuft beladen waren! Ich erinnere mich genau an die MutlosigNHLW GLH PLFK  EHUÂżHO DOV LFK HLQHQ ZHLWHUHQ /|ႇHO %UHL VFKOXFNte, den Maria mir in den Mund schob, und mein wehmĂźtiger Blick Ăźber die Breiberge auf den Waggons schweifte, die ich aufessen musste, bevor ich mit dem wunderbaren Zug spielen durfte. Mit etwa vier Jahren hatte ich zwei einschneidende Erlebnisse, die ich hier erzählen mĂśchte, weil sie das Ende meiner „kindlichen Unschuld“ markierten. Das eine war ein weiterer Traum. Wir waren inzwischen in den MĂźnchner Vorort Lochham umgezogen, und Maria fuhr oft mit mir auf dem Fahrrad zum nahen „Pasinger Marienplatz“, wo es eines dieser neuen Kaufhäuser gab. In meinem Traum bot dieses Kaufhaus etwas Neues an: eine kleine Kabine, in die jeweils nur ein einziger Mensch eintreten konnte. Dann wurde ein Vorhang geschlossen und man sah von drauĂ&#x;en nicht, was drinnen passierte. Das Ganze war fast eine Art Massenhysterie, und genau wie alle anderen drängte auch ich mich dazu, obwohl ich gar nicht wusste, was da eigentlich passierte. SchlieĂ&#x;lich war ich an der Reihe und ging hinein. Ganz allein. Und drinnen wusste ich es. Man wurde irgendwelchen Strahlen ausgesetzt, und danach musste man sterben. Nicht sofort – es war eine Art unaufhaltsamer Countdown, der da in Gang gesetzt wurde. Ich spĂźrte die Strahlen, sie gingen durch mich hindurch wie ein tiefes, kaum hĂśrbares DrĂśhnen. Es war nichts $XIUHJHQGHV HV Ă€DPPWHQ NHLQH /LFKWHU DXI HV JHVFKDK  EHUhaupt nichts Besonderes.

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„Wie blĂśd die Leute doch sind, dass sie das alle unbedingt wollen“, dachte ich, „aber ich bin noch viel blĂśder, weil ich das ebenfalls gemacht habe, obwohl ich es nie getan hätte, wenn ich gewusst hätte, was das bedeutet!“ Denn nun dämmerte mir die entsetzliche Erkenntnis dessen, was ich soeben getan hatte. Ich wĂźrde sterben! FĂźr nichts, aus reinem Leichtsinn, aus keinem anderen Grund als dass ich etwas gemacht hatte, nur weil es alle anderen machten! Mich packte ungeheures Grauen und entsetzliche Reue. Aber nun war es zu spät. Als ich aufwachte, wusste ich, dass sich dadurch nichts änderte. Es gab kein ZurĂźck mehr: ich wĂźrde sterben, und ich war selbst daran schuld. Von nun an trug ich dieses Grauen, diese XQEHJUHLĂ€LFKH 6FKXOG GLH VFKOLH‰OLFK XQZHLJHUOLFK GDV 7RGHVurteil nach sich zog, in mir wie eine feindliche Saat, von der ich mich hatte befruchten lassen. Und dennoch trug ich auf einer tieferen, unbewussten Ebene auch die absolute Gewissheit in mir, dass „Gott mich sieht“ und viel besser wusste als ich, was da vor sich gegangen war. Es war ZHGHU HLQ HLQGHXWLJHU *HGDQNH QRFK HLQ GHÂżQLHUWHV .RQ]HSW und es kam mir in meinem Entsetzen nicht ein einziges Mal so deutlich in den Sinn – aber dennoch war es da; ganz tief unten, wo Marias Bauernerde meine Wurzeln barg. Das andere einschneidende Erlebnis hing mit meinem Puppenhaus zusammen. Es war das schĂśnste Puppenhaus der Welt und grĂśĂ&#x;er als ich! Darin wohnte die Familie Hildebrand: Eltern, GroĂ&#x;eltern, Hausangestellte, Kinder. Das Haus stand auf einem niedrigen Regal, sodass es darunter noch eine Art fensterloses Kellergeschoss gab. Darin wohnten „die Armen“: kaputte Biegepuppen, die andere Kinder wahrscheinlich weggeworfen hätten.

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Aber ich kam nie auf die Idee, etwas wegzuwerfen. Für mich hing der Wert meiner (ungezählten) Spielsachen nicht mit ihrer Funktionsfähigkeit zusammen. Jedes Spielzeug hatte seinen speziellen Stellenwert in meinem Leben, irgendwie waren sie mir alle anvertraut worden, und wenn etwas „kaputt ging“, dann bedeutete das nur, dass ich nun andere Dinge damit spielen würde als vorher. Ab und zu wurde meine Familie Hildebrand vom Fernweh gepackt. Dann drehte ich meinen Puppenwagen um, sodass die Räder oben waren, und verwandelte ihn dadurch in ein RaumVFKLႇ $XI LKP YHUOLH )DPLOLH +LOGHEUDQG GLH (UGH XQG ÀRJ LQ GLH Sterne. Die „Armen“ mussten die Räder drehen, denn das „TrietVFKLFN³ ZXUGH RႇHQEDU QLFKW ]XOHW]W GXUFK 0XVNHONUDIW DQJHWULHben. Es kam nie irgendwo an – der Gedanke an ein bestimmtes Ziel kam mir gar nicht. Es ging immer nur um die Reise, um den )OXJ 2ႇHQEDU ODJHQ VROFKH :HOWUDXPDEHQWHXHU GDPDOV WDWsächlich buchstäblich in der Luft, obwohl es in meiner deutschen HU -DKUH .LQGHUZHOW QLFKW GHQ JHULQJVWHQ (LQÀXVV LUJHQGZHOFKHU 6FLHQFH¿FWLRQJHVFKLFKWHQ JDE

Jedenfalls stand ich eines Tages vor dem Puppenhaus und wusste plötzlich ganz genau, dass „ich“ in Wirklichkeit viel, viel größer war als das Kind, das da in seinem Zimmer stand und „durch meine Augen“ das Puppenhaus betrachtete. Ich spürte, dass ich aus dem riesigen Weltall kam und nur vorübergehend in die enge Begrenzung meines jetzigen Lebens geraten war - genau wie die Biegepuppen in das Puppenhaus geraten waren. Eigentlich hatte ich das schon immer gewusst: irgendetwas in mir hatte sich erinnert an etwas viel Größeres, das meine eigentliche Heimat war und in dessen Dimension die Probleme der Erwachsenen keine Tragweite besaßen.

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Darum war ich schon damals, mit vier Jahren, immer beleidigt, wenn man mich wie ein Kind behandelte! Und darum hatte ich so oft das GefĂźhl, viele Dinge letzten Endes besser und tiefer zu begreifen als die Erwachsenen, die mir oft kindisch HUVFKLHQHQ XQG RႇHQEDU HLQHQ DOO]X EHJUHQ]WHQ +RUL]RQW KDWten. Ich wusste: dieses „andere“ war die eigentliche Wahrheit. Allerdings kam es mir nie in den Sinn, jemandem diese Dinge mitzuteilen; nicht einmal meiner Maria. Sie Ăźberstiegen mein Vokabular und fĂźhlten sich an wie duftende, zarte, taufeuchte Wunderblumen, die sofort verwelken wĂźrden, wenn ich sie aus meinem Inneren herausriss und jemandem anvertraute. Aber ich fĂźhlte mich alt; viel älter als meine vier oder fĂźnf Jahre. Irgendwie wusste ich, dass es mich gab: eine Person, die nicht nur ein Kleinkind war; aber ich befand mich in einer Welt ohne Erinnerungen an das „Andere“ - in einer sozusagen gehĂśrlosen Welt, in der ich anscheinend als einzige die dringlichen AlarmtĂśne einer ganz anderen Ebene hĂśrte. Wenn ich meine Biegepuppen packte, sie aus ihrem Puppenhaus herausriss und mitten im Zimmer wieder absetzte, wo sie keine Referenzpunkte hatten und sich ganz neu orientieren mussten, erinnerte mich dieser Vorgang an das, was mir selbst geschehen war. Dann gab es noch den Gott, der in Marias Kirche wohnte – nach dem sehnte ich mich sehr. Aber eigentlich durfte ich nicht an „ihm“ teilhaben, weil ich „evangelisch“ war. Mit dem Einverständnis meiner Mutter nahm Maria mich trotzdem manchmal mit und ich fĂźhlte mich aussätzig und ausgestoĂ&#x;en, weil die ganze zauberhafte Atmosphäre mit Weihrauch und Liturgie nicht mir JDOW Ă„(YDQJHOLVFKÂł ]X VHLQ ZDU RႇHQVLFKWOLFK HLQH $UW 0DNHO  EHU den ich keinerlei Kontrolle hatte.

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Dennoch sorgte Maria dafĂźr, dass die gĂśttliche Gegenwart in meinem Alltag spĂźrbar war – vor allem natĂźrlich in der Adventszeit, wenn wir abends die Kerzen des Adventskranzes eine nach der anderen anzĂźndeten, in ihrem warmen, magischen Flackerlicht saĂ&#x;en und Weihnachtslieder sangen. „Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen, als du lieber Gott allein“, betete ich jeden Abend‌ und wusste doch, dass mein Herz keineswegs „rein“ war. Insofern basierten meine direkten Gebete auf einer schlimmen LĂźge; und ich habe erst vor Kurzem erfahren, dass der Text eigentlich heiĂ&#x;t: „mein Herz mach rein“, was natĂźrlich viel mehr Sinn ergibt. Ich habe keine Ahnung, ob man mir das Gebet falsch beigebracht hat, oder ob ich den Text falsch verstanden hatte. Heute weiĂ&#x; ich, dass ich auch die Sache mit dem „Christkind“ vĂśllig missverstand. FĂźr mich war das Christkind eine eher weibliche Figur, gekleidet in das Ăźbliche, lange Gewand der Rauschgoldengel, und mit blonden Locken. Es war eine Art OberEngel und brachte die Weihnachtsgeschenke. Ich wusste, dass das stimmte, denn wenn meine Eltern mich am Heiligen Abend endlich ins Weihnachtszimmer riefen, standen die Fenster imPHU ZHLW RႇHQ GHQQ GD ZDUHQ GLH (QJHO ZLHGHU KLQDXVJHĂ€RJHQ Wow! Ein Schauer der Gewissheit. Das alles gab es wirklich - ! Aber dass es sich dabei eigentlich um Jesus Christus handelte, entging mir vĂśllig. 2IW PDFKWHQ 0DULD XQG LFK HLQHQ )DKKUDGDXVĂ€XJ QDFK 0DULD Eich, einer kleinen, barocken Wallfahrtskapelle mit einem winzigen ZwiebeltĂźrmchen, mitten im Wald. Ganz bestimmt war dort frĂźher bereits ein uraltes Heiligtum gewesen. Es war ein ganz

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besonderer Ort und man spĂźrt heute noch seine Kraft. Ich saĂ&#x; dann immer auf meinem „Bulldocksitz“, der am Lenker von Marias Fahrrad angebracht war. Der Wald war voller Wunder. Leider hatte man auch hier, wie fast Ăźberall in Deutschland, die ursprĂźngliche Artenvielfalt einer Fichten-Monokultur geopfert. Dennoch lag Ăźber den eintĂśnigen Fichten noch immer der Schleier eines alten Zaubers. Kleine gezimmerte TrĂśge mit Spitzdächern standen unter den Bäumen: FĂźtterungsstationen fĂźr Rehe, die wir im Winter sogar manchmal tatsächlich dort sahen. RĂśtlich schimmerndes „Viehsalz“ hing an manchen Bäumen, an dem die Rehe lecken konnten. Ab und an warnten Schilder an den Baumstämmen: „Hier rauchen nur Brandstifter“. Darauf tanzte ein rotes Feuergespenst gruselig zwischen den Bäumen. Heute kann sich keiner mehr vorstellen, welch tiefes Grauen diese schlichte Illustration in meinem KindergemĂźt hervorrief, denn in meiner Welt gab es noch QLFKW HLQPDO &RPLFV JHVFKZHLJH GHQQ =HLFKHQWULFNÂżOPH RGHU JDU FRPSXWHUJHQHULHUWH 6SH]LDOHႇHNWH Unterwegs spielten wir „die heilige Familie auf der Flucht nach Ă„gypten“. Meine Maria spielte Maria und Joseph, ich war das Jesuskind und unser liebes Fahrrad war das Eselein. Manchmal hielten wir an einem grĂśĂ&#x;eren Stein am Wegrand, auf den ich sprang, um zu predigen. Ich habe keine Ahnung, was ich da alles sagte, aber ich musste nie lange Ăźberlegen: ich wusste ganz genau, was das Jesuskind gesagt hatte! Nach einer Radfahrt von vielleicht einer halben Stunde kamen wir zu der Lichtung mit dem Kirchlein. Rechts von der EingangstĂźr war ein kleiner Schaukasten, genau in der richtigen HĂśhe fĂźr mich, und darin stand eine Miniatur-Nachbildung der

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Maria-Eich-Kapelle: eine magische Verdoppelung. Man warf zehn Pfennige in einen Schlitz - Maria hatte zu diesem Zweck LPPHU HLQ =HKQSIHQQLJVW FN GDEHL XQG GDQQ ÂżQJ GLH ZLQ]LJH *ORFNH LQ GHP 0LQL 7 UPOHLQ DQ ]X OlXWHQ DXI HLQPDO |ႇQHWH sich die kleine FlĂźgeltĂźr, und heraus fuhr das blonde Jesuskind auf einer Schiene! Es kam bis ganz vorne an das Glas und bewegte segnend den rechten Arm auf und ab. Ich sog diesen SeJHQ HLQ ZLH HLQH 3Ă€DQ]H GHQ 5HJHQ XQG GLH 7DWVDFKH GDVV GLHV ein Automat war, tat dem Wunder nicht den geringsten Abbruch. Es kam mir nie in den Sinn zu hinterfragen, warum das Jesulein um den Preis von zehn Pfennigen in dieser Form erschien. Nachdem wir den Segen empfangen hatten, traten wir durch die EingangstĂźr in ein niedriges, romanisches GewĂślbe. In der rechten Mauer war ein Schaufenster eingelassen, in dem eine bestimmte Szene aus der Bibel aufgebaut war; regelmäĂ&#x;ig wechselnd, je nach Kirchenkalender. Wie gespannt ich jedes Mal war, was es diesmal zu sehen gab! Die hĂślzernen Figuren waren etwa so groĂ&#x; wie damals mein Unterarm und trugen lange, orientalische Gewänder. Es gab auch Tiere – vor allem Kamele und Eselein, genau wie unseres! – und kleine, runde Häuser mit Strohdächern, und zweirädrige Karren, und sandige LandstraĂ&#x;en und staubige Palmen, und gemalte HintergrĂźnde, auf denen man die Silhouette einer orientalischen Stadt sah, oder einen See, oder eine Bergkette im magischen Licht. Maria erzählte mir dann jeweils die dazu gehĂśrige biblische Geschichte. Und ich wusste, dass ich wieder einen tiefen Einblick in das GĂśttliche gewonnen hatte.

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„Lieber Vater, die Schule beginnt – leg deine Hand nun auf jedes Kind“, las ich in einem katholischen Bilderbuch für Schulanfänger, denn meine Mutter hatte mir, als ich fünf war, das Lesen beigebracht. – Vater? Ich kannte nur meinen eigenen Vater, eine aufregende Verheißung des Männlichen in meiner Frauenwelt, die immer wieder kurz aufblitzte und nur im Tabakgeruch seiner Kleider etwas länger gegenwärtig blieb. Wieso sollte Vati die Hand auf jedes Kind legen? Wozu sollte das gut sein? Ich stand vor einem Rätsel, aber ich wagte es nicht, jemanden danach zu fragen, weil ich den ungemütlichen Verdacht hatte, dass ich das eigentlich längst hätte wissen müssen. Auf jeden Fall freute ich mich wild auf die Schule und konnte den Schulbeginn kaum erwarten. Und endlich war es soweit.

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