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MUT FÜR ALTERNATIVES

MUT FÜR ALTERNATIVES DAVIDE BEVILACQUA

DER MUTIGE UMGANG MIT TECHNOLOGIE LIEGT HEUTE IN DER STÄNDIGEN SUCHE NACH DEN TOOLS FÜR DIE DIGITALE UNABHÄNGIGKEIT VON MORGEN.

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Wenn wir über die Formen des Mutes in Kommunikationswerkzeugen nachdenken wollen, müssen wir einerseits über die komplexe Mainstream-Landschaft von Plattformen blicken und andererseits Wege finden, ihren Narrativen widerstehen zu können.

Nicht Teil des digitalen Mainstreams mit seinen gängigen Plattformen zu sein, hat ganz konkrete soziale und wirtschaftliche Auswirkungen. Die Karriere junger Künstler*innen ist wesentlich schwieriger, wenn sie ihre künstlerische Arbeit nicht in sozialen Medien veröffentlichen, da viele Kurator*innen ihre Arbeit sonst gar nicht entdecken würden. Wenn Designer*innen eine andere Software verwenden möchten als die geläufige kommerzielle, werden sie womöglich nicht mit dem Rest der Agentur zusammenarbeiten können. Die ausschließliche Verwendung des einen oder anderen Tools kann innerhalb der Digitalisierung spaltend und polarisierend sein und beeinflusst die individuellen Handlungsmöglichkeiten.

Weg vom Mainstream – Mut für die Alternative Wenn wir den Menschen dabei helfen wollen, Entscheidungsfreiheit über die von ihnen verwendeten Tools zu erlangen, müssen wir den gegenwärtigen technologischen Mainstream ändern. Dabei geht es nicht nur darum, den persönlichen Akt des Mutes zu vollziehen, wie den Verzicht auf eine bestimmte Online-Plattform aufgrund unzulänglicher Datenpolitik. Es geht darum, eine Alternative zur gegenwärtigen Narration der Digitalisierung zu entwickeln, die auf der breiten Übernahme weniger Standards beruht, der Idee der Perfektion, die diese Werkzeuge bieten, und der Einfachheit der Anwendung. Eine vielfältige Software-Landschaft zu schaffen, in der sich User*innen freier bewegen können, ist ein sozialer Akt des Mutes, der das Fundament für einen kulturellen Wandel in der Gesellschaft legt.

Obwohl es bereits viele alternative Tools gibt, kehren die User*innen aufgrund der weit verbreiteten Nutzung und des Brandings immer wieder zu den bekannten Diensten zurück. Damit nachhaltige Alternativen zu populärer Software funktionieren, müssen wir zunächst die kulturellen Mechanismen des Brandings und der Sichtbarkeit ändern, die für die Mainstream-Tools erfolgreich sind. Mit der Idee des Mutes als Widerstand gegen die aktuellen technologischen Trends schlagen wir einen neuen Ansatz für digitale Tools vor, der auf den Prinzipien Open Standards, Constant Failure und Curiosity basiert.

Open Standards: Offene Standards für die Demokratisierung Open Standards basiert auf der Idee, dass verschiedene Programme die gleichen digitalen Formate exportieren können. User*innen von verschiedenen Programmen sollten diese Dateien lesen und bearbeiten können. Ein passendes Beispiel dafür sind E-Mails: Es gibt zahlreiche verschiedene Anbieter, aber wir können alle miteinander kommunizieren. Standards können von einer Institution bewusst definiert werden – das offene Dokument-Textformat .odt ist hierfür ein Beispiel – oder durch die Popularität der Verwendung zum Standard werden – wie das bei .doc oder .docx der Fall war. Wenn kommerzielle Produkte durch ihre

verbreitete Verwendung zu Standards werden, bedeutet das, dass sie nicht für alle zugänglich sind. Das etablierte Bildbearbeitungstool Photoshop arbeitet mit .psd-Dateien, die nur mit den Programmen von Adobe bearbeitet werden können. Eine breitere Diskussion über Open Standards würde die Demokratisierung von digitalen Tools im Wesentlichen vorantreiben.

Constant Failure: Digital ist nicht besser als analog Bei Constant Failure geht es um die Ablehnung der „Smartness“- der Annahme, digitale Tools seien immer besser als analoge. Die alternative Narration, dass gerade digitale Werkzeuge öfter versagen als analoge, kann den kritischen Blick der User*innen auf die Technologien schärfen und eine Emanzipation von Mainstream-Software fördern. Die Hemmung, mit Gewohnheiten zu brechen, geht verloren, wenn der Prozess des Erforschens, des Annehmens und Ablehnens von Software als Teil der Nutzung betrachtet wird. Wie Open Standards wirkt dies auch der Idee entgegen, dass eine Lösung von nur einem Tool geleistet werden kann, was heutzutage nicht mehr zutrifft. So sind zum Beispiel Videokonferenzen sind nicht nur über Zoom oder Skype möglich: Es gibt zahlreiche Plattformen, die Videotelefonie ermöglichen und um verschiedene Zusatzfunktionen erweitern.

Curiosity: Selbstbestimmt die Medienlandschaft erkunden Schließlich kann Curiosity – ein neugieriger Verstand – mehr bewirken als jede Softwareänderung. Die Suche nach neuen Tools ist ein mühsamer Prozess – zugleich aber sehr bereichernd und lehrreich, wenn man ihn mit dem richtigen Mindset angeht. Eine Mentalität der Neugier anzunehmen, während man die Medienlandschaft erkundet, kann helfen, sich von den gängigen Software-Lösungen zu lösen, zwischen Alternativen zu differenzieren und dazu ermutigen, eine eigene Wahl zu treffen.

Diese drei Perspektiven Open Standards, Constant Failure und Curiosity, vor allem in Kombination, ermöglichen die Schaffung gesunder, digitaler Ökosysteme im Sinne alternativer Technologien und einer demokratischen und menschlichen Digitalisierung. Der technologische Mut von heute liegt in der ständigen Suche nach den digitalen Tools für die Freiheit von morgen.

Diese Ideen bilden die Grundlage für die digitale Toolbox von servus.at, einem in Linz ansässigen Internetkulturverein. Die Toolbox ist eine wachsende Sammlung von Software für den Alltag, die sich um Datenschutz und Eigentumsrecht der User*innenDaten kümmert und eine Unabhängigkeit von großen kommerziellen Unternehmen durch freie Open-Source-Software ermöglicht. Sie enthält EMail-, Webspace-, Cloud- und Social Networking-, Newsletter- und Umfragetools, aber auch maßgeschneiderte Lösungen für Künstler*innen und Kulturproduzent*innen.

Check it out! → core.servus.at/toolbox

Davide Bevilacqua ist Medienkünstler und Kurator. Er interessiert sich für Netzwerkinfrastrukturen und technologischen Aktivismus sowie für kuratorische und künstlerische Forschung über die Rahmenbedingungen, unter denen künstlerische Praxis präsentiert und dem Publikum vermittelt wird. Er ist Kurator für servus.at, mit dem er das AMRO Art Meets Radical Openness Festival organisiert, er ist Teil des Künstlerkollektivs qujOchÖ und arbeitet mit der Klangkunstgalerie bb15 zusammen. Außerdem arbeitet er am Institut für Interface Cultures der Kunstuniversität Linz. www.davidebevilacqua.com

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