Marshall Islands Odyssey

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Mauricio Abreu gönnt sich eine einsame Feierabend-Session bevor es zurück an Bord geht

_Text ’ John Bilderback

Die Kitesurf-Expedition “The Best Odyssey” führt wechselnde Besatzungen zu exotischen Reisezielen. Diesmal hat die Suche nach Wind und Welle den Katamaran „Discovery“ zu den Marshall-Inseln gelotst. Die ehemalige deutsche Kolonie inmitten des Pazifiks liegt rund 4000 Kilometer westlich von Hawaii. Skipper Gavin McClurg konnte mit Mauricio Abreu, Moehau Goold, Pete Cabrinha und Kristin Boese exzellente Waverider an Bord begrüßen. Und die Crew hatte Glück: Es erwartete sie jeden Tag Wind, an den meisten Tagen gepaart mit Welle. Daran konnte auch eine mysteriöse Flaschenpost, die sie auf einer der 1150 Inseln fanden, nichts ändern.

_Foto ’ Jody MacDonald

_dt. Bearb. ’ Sören Otto


Im Jahr 1979 deklarierte ein Zehntel der weltweit existierenden Korallenatolle ihre Eigenständigkeit, nach jahrzehntelanger kolonialer Abhängigkeit und 4600 Meilen von San Francisco entfernt. “Er hat irgendwas von Marshmallows gesagt“, sagte ich zu meiner Frau, „auf jeden Fall klang er sehr aufgeregt.“ Das war im Jahr 2009, und ich spielte eine Sprachnachricht von Gavin „Iron Sack“ McClurg auf meinem Telefon ab. Die Nachricht kam von seinem Satellitentelefon und wurde leider von lauten Windgeräuschen untermalt oder besser gesagt zerhackt. Nachdem ich die Nachricht zweimal abgespielt hatte, machte mein E-Mail-Briefkasten „ping“. Es war eine E-Mail direkt von Gavins Katamaran „Discovery“. „Komm sofort hier runter!“ Gavin fährt seit elf Jahren zur See; er hat mir in Französisch-Polynesien schon einmal phänomenale Surf-, Kite- und Angel-Bedingungen beschert – und zwar 14 Tage am Stück. Dieser Kapitän weiß, wo die besten Bedingungen zu finden sind. Und er war aufgeregt wie ein kleines Kind, sein neues Ziel: die Marshall-Inseln. Ich nahm auch seine zweite Einladung an und begann, Flüge zu buchen und meine Video-Ausrüstung zu packen. Kurz nach der Landung in Majuro, der Hauptstadt der Marshall-Inseln, warf ich einen Blick auf die Crew. Viele Trips gelingen oder scheitern mit der Stärke oder Schwäche der Mitreisenden. Doch diese Besatzung würde allen Ansprüchen gerecht werden, soviel war sicher: Kristin Boese, vierfache Weltmeisterin, Pete Cabrinha, Waterman und Aushängeschild einer der größten Kite-Marken, Mauricio Abreu, richtungsweisender Gründungsvater des Kitens und Moehau Goold, einer der respektiertesten und sylischsten Fahrer überhaupt. Zu diesen Kite-Pros gesellten sich noch Scott Wisenbaker und Bruce Marks, zwei Anteilseigner von „The Best Odyssey“ (siehe Infokasten). Im wahren Leben sind sie Investment Manager und Arzt, hier leben sie ihre Träume und werden zu modernen Abenteurern. Es ist schwierig, Leute mit einer solchen Einstellung zum Leben nicht zu mögen. So blieb nur eine Unkonstante: das Wetter. Denn Wind und Wellen mussten zusammen kommen für unseren Plan, Kiteboarden und Surfen zusammen zu bringen. Insgesamt lagen 1225 Inseln vor uns, verteilt auf 29 wunderschöne Atolle. Wenn wir an jedem Tag ein Eiland erkunden würden, wären wir drei Jahre und drei Monate unterwegs. Wir hatten leider nur eine Woche. Mit Hilfe von Seekarten und einem GPS-Gerät klügelte Gavin eine Route für unseren 17 Meter langen Katamaran aus. Die Marshall-Inseln wurden übrigens nach dem britischen Kapitän zur See John William Marshall benannt, waren aber bereits 1000 v. Chr. von Polynesiern und Asiaten besiedelt. Doch einige tausend Jahre später fühlte es sich immer noch so an, als wären wir die einzigen Menschen weit und breit. Ein anderer Skipper sah sich auf der „Golden Bear“, 4600 Meilen entfernt, mit einer Meuterei konfrontiert. Zwischen der luxuriösen Ausstattung an Bord der Discovery und der auf der Golden Bear lagen Welten. Ein Matrose bezeichnete es in seinen Aufzeichnungen als eine Art Arbeitslager zur See. Es waren düstere Zeiten. Allem Anschein nach genoss niemand den Ausblick auf kristallklares Wasser und tropische Himmelsformationen, wie er sich uns darbot. Tatsächlich mussten einige Offiziere mit Konsequenzen rechnen, sollte das Schiff nicht schleunigst den Heimathafen San Francisco ansteuern. Und wie Kapitäne es oft tun müssen, betätigte sich der Schiffsführer auch in diesem Fall als Bord-Psychologe und behandelte den aufgebrachten Mob im Rumpfinneren. Mit zehn Knoten Reisegeschwindigkeit stampfte unser Bug durch die aufgewühlte See, ehe wir nach 17 Stunden den ersten Spot erreichten. Hoch empor ragende Palmen und weitläufige Sandstrände säumten das offen48

Das Riff ist im vorderen Bildteil nur zu erahnen, Moe lässt sich aber weder davon, noch von dieser Monsterwelle beeindrucken

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Von ihrem Winterdomizil in Australien hatte Kristin es nicht weit in den Westpazifik

Die aufgeschlossene Inseljugend übt sich im Posen

sichtlich unbewohnte Atoll. Die Crew war fasziniert von der Umgebung. Gavin inspizierte das magische Trio aus Wind, Wellen und deren perfekter Ausrichtung zueinander. Der Wind ließ uns nicht im Stich. Er wehte uns ununterbrochen mit 25 bis 30 Knoten um die Ohren – den ganzen Tag ohne Pause und an zehn Tagen am Stück. Gavin bestätigte, dass es nunmehr seit einem ganzen Monat stürmte und dass sowohl Wetterkarten als auch die Locals für die nächsten Tage einen beispiellosen Windreigen in Aussicht stellten. Wir ankerten in unfassbar klarem Wasser und bekamen frischen Thunfisch aufgetischt. Die Regel, nicht mit vollem Magen ins Wasser zu gehen, vernachlässigten wir geflissentlich und starteten sofort nach dem Essen eine Kite-Session in den hohl brechenden Wellen. Vorher riefen wir Mauricio aber noch seine Kopfverletzung ins Gedächtnis, die er sich an einem tahitianischen Riff während seines letzten Odyssey-Trips zugezogen hatte. Ich ermutigte ihn, einen Helm zu tragen. Doch er lehnte in seiner brasilianisch-lockeren Art ab und sprang „oben ohne“ ins Wasser. Pete, Moe und Scott folgten ihm. Pete, Mauricio und Moe surften backside, nur Scott hatte den Vorteil, den Wellen frontside entgegen treten zu können. Bruce startete seinen Kite hinter der Discovery, in leichter Abdeckung durch die Insel und dadurch in etwas unbeständigen Winden. Er kämpfte sich bis zum Channel hoch und hatte das Recht der ersten Welle. In seiner Heimat Perth muss er sich als Regular Footer, also mit dem linken Fuß vorn, mit links laufenden Wellen herumschlagen, diese also backside surfen. Hier war er im Himmel – und das Grinsen auf seinem Gesicht verschwand ebenso wenig wie der Wind. Nach ihm kam Kristin, die zum ersten Mal seit Jahren wieder rechts laufende Wellen kitete, da sie im Winter ebenfalls in Australien lebt. Ihre Frontside Bottom Turns hatte sie schnell im Griff und die Wellenlippe zerlegte sie mit beeindruckenden Off-the-Lip-Combos. Einige jüngere Crew-Mitglieder hatten eine Flucht über die Reling oder Gewaltanwendung in Betracht gezogen, um der Plackerei zu entkommen. Noch ging der Plan des Kapitäns auf, und das Schiff könnte ohne besondere Vorkommnisse in den sicheren Hafen einlaufen. Der Crew wurde ein Blatt Papier und ein Stift ausgehändigt mit der Aufforderung, etwas darauf zu notieren. Einer nach dem anderen stopfte seine Nachricht in eine Magnum-Weinflasche, die versiegelt und außerhalb des Hafens von San Francisco über Bord geworfen wurde. Man erhoffte sich davon Ablenkung und geistige Abkühlung, es war der verzweifelte Versuch, Ruhe im Schiff herzustellen.

Große Wellen sind kein Problem für Pete Cabrinha – er steht im Guiness-Buch der Rekorde mit der größten je gesurften Welle

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Als die tropische Sonne im türkisfarbenen Ozean versank, warteten wir auf das Beiboot, das uns zur Discovery bringen sollte. Neun Leute plus Kites, Boards und Kameraausrüstung mussten zurück an Bord gebracht werden. Gemeinsam mit Pete Cabrinha beobachtete ich das Farbenschauspiel der untergehenden Sonne. Im Schatten eines exotischen Fruchtbaums nahm ich eine auffallend große Weinflasche im Sand wahr. Optimistisch wie ich bin, stand ich auf und inspizierte sie. Es waren Schriftzeichen zu erkennen.

Die „Discovery“ ist ein luxuriöser Katamaran von 17 Meter Länge


Moe ist kurz davor, in einer Kathedrale aus Weißwasser gefangen zu werden

Eine Nachricht? Welch Mysterium würde sich uns offenbaren? Etwa die Klageworte einer in aussichtsloser Lage befindlichen Crew? Oder die letzten Worte eines Schiffbrüchigen? Niemand traute sich, das Siegel zu öffnen.

Die Kamera von John ragt wie ein Bullauge aus der speienden Wellenlippe, während Mauricio einen sauberen Bottom Turn ins türkisfarbene Nass zirkelt

Der Kapitän der Golden Bear hatte alle sicher nach Hause gebracht. Es hätte so viel schlimmer kommen können. Der Plan, die Ängste und Sorgen der Crew in einer Flasche zu sammeln und damit zu vertreiben, ging auf. Es gab der Crew ein Ventil und erleuchtete ihre Seelen, die so viel hatten ertragen müssen. Pünktlich zum Sonnenaufgang führte uns Gavin zur nächsten rechtslaufenden Welle, eine weitere von Sideshore-Wind verwöhnte Schönheit. Die Wahrscheinlichkeit, dieses Gewässer mit anderen Kitern teilen zu müssen, war verschwindend gering. Deshalb ließen wir das Frühstück ruhig angehen. Doch wenn jungfräuliche Wellen nur wenige Meter neben dir mit ohrenbetäubendem Lärm auf ein Riff krachen, hält Kite-Pros nichts an ihrem Platz. Wir hatten eine weitere, unvergessliche Session, die nur durch gelegentliche Nahrungsaufnahme unterbrochen wurde. Es herrschte Einigkeit darüber, dass wir mit dem Öffnen der Flasche bis zum nächsten Morgen warten würden. Bevor es in den wohl verdienten Schlaf ging, wurden die üblichen kleineren Riff-Verletzungen behandelt und ein opulentes Mal verzehrt. Einige Bewohner der Marshall-Inseln sagen, dass die Toten über den Wasserweg von einer geheimnisvollen Strömung zur Insel Nako geleitet werden. Jene Verstorbenen, die von ihren Sünden eingeholt werden, sinken allerdings auf dem Weg dorthin. Am nächsten Morgen trommelte Gavin die versammelte Mannschaft nach dem Klarschiffmachen zusammen und öffnete die Flasche. Die erste Nachricht lautete: „Genieße es bis zum letzten Tropfen!“ Das passte gut zu unserer Crew aus passionierten Waveridern; die Worte hinterließen nachhaltigen Eindruck bei uns und begleiteten uns während der zahlreichen Turns und Drop-Ins.

Könnte es eine bessere Kulisse für Formations-Cruisen geben? Wer eine kennt, bitte in der Redaktion melden

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Wir zogen weiter und besuchten ein Dorf, in dem wir die lokalen Bräuche kennen lernen durften. Hunderte Kinder stürmten auf uns zu, winkten mit ihren Händen und riefen: “Iokwe, Iokwe!”, es war der typische Willkommensgruß der Insulaner. Ich fragte mich, wo sonst auf der Welt Fremde so offenherzig empfangen werden. Ein Lehrer lud uns auf Kokosnuss-Wasser ein, eine willkommene Abkühlung in der sengenden Mittagshitze. Gavin erkundigte sich bei ihm nach dem größten Problem der Gemeinschaft. Der Lehrer

Da der Wind jeden Tag wehte, hatte die Crew eigentlich keinen Grund, Surfen zu gehen

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Die einheimischen Kids hatten ihre Freude beim Huckepack-Kiten mit dem Tahitianer Moe

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Die Verpflegung an Bord der "Discovery" wird fast ausschließlich selbst gejagt. Mauricio ist ein Mahi-Mahi Thunfisch ins Netz gegangen.

Vom Masttop lassen sich Bilder wie aus dem Helikopter schießen

Gespannt lauschte die Crew den Geschichten aus der Flaschenpost

Mit Sack und Pack zum nächsten Spot., die neu gewonnen Fans im Schlepptau

Offensichtlich hat Mauricio den Schock von seiner Kopfverletzung am Riff überwunden, die er sich beim letzten Odyssey-Trip zuzog

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zögerte kurz, blickte liebevoll zu seiner Frau und dann wieder erheitert zu uns herüber: „Probleme? Wir kennen keine Probleme.“ Zurück auf der Discovery zogen wir die restlichen Notizen mit Spießen aus der riesigen Pulle. Leider fanden wir weder Mysterien noch poetische Meisterleistungen. Vielmehr staunten wir über die Dramen, die sich auf der Golden Bear zugetragen haben müssen. Nach dieser Lektüre wussten wir unseren Trip um so mehr zu schätzen. Bei einer Geschwindigkeit von einem halben Kilometer pro Stunde musste die Flaschenpost für die Wahnsinns-Distanz von 4600 Meilen über anderthalb Jahre gebraucht haben. Sie enthielt etwa 100 Zettel. Die meisten beklagten sich über die Zustände an Bord. Viele ließen dem Unmut über die miese Küche freien Lauf. Andere baten darum, das Mindestalter für die einschlägigen Stripclubs in Honolulu herab zu setzen. Einige waren mit Gekritzel versehen, in dem der Kapitän eine entscheidende Rolle spielte. Wir schoben alle Einträge zurück in die Flasche, versiegelten die Öffnung mit Wachs und übergaben sie dem Meer. An den letzten zwei Tagen beobachteten uns die Bewohner einer kleinen Insel beim Surfen und Kiten. Moe und Mauricio nahmen kleine Kinder auf den Rücken und kiteten mit ihnen durch die Bucht. Die besorgten Eltern schauten sich das Schauspiel im Schatten ihrer Hütten an. Ihre Kinder hatten den wahrscheinlich besten Tag ihres Lebens, zumindest ließen ihre freudigen Gesichter dies erahnen. Der Wind blies wie immer, die Sonne schien und die einzigen Probleme waren dort, wo sie hingehörten: in einer alten Flasche. Der Surf-Nachwuchs von morgen

Ein aufwendiges Video zu diesem Trip findet ihr im Internet unter www.offshoreodysseys.com. Wir danken Continental Airlines und dem Tourismusverband der Marshall-Inseln

\\\Das Konzept „The Best Odyssey“ ist ein Unternehmen, das auf einem TimeShare-Konzept basiert. Durch den Erwerb eines Firmenanteils hat man das Anrecht auf einen zehn- oder vierzehntägigen Trip pro Jahr, je nach Höhe der Einlage. Das Hauptziel der insgesamt fünf Jahre andauernden Kitesurf-Expedition besteht darin, die wenigen unberührt gebliebenen Destinationen unseres Planeten anzusteuern und zu erkunden. Dabei legt Gavin McClurg, Geschäftsführer und Kapitän in Personalunion, viel Wert auf die Umsetzung des Abenteuers. Für den begeisterten Kitesurfer und Wassersport-Fanatiker gehört ein zweiköpfiges Küchenteam auf Weltniveau ebenso dazu wie der Einsatz für den Erhalt unserer Umwelt. Selbst in einer globalisierten Welt gibt es noch Flaschenpost

Kristin hat sich ganz dem Waveriding verschrieben und sogar ein passendes Lehrbuch verfasst

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„The Best Odyssey“ läuft seit Februar 2007. Die geplanten Routen und Details zum Geschäftsmodell gibt es unter www.offshoreodysseys.com.


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