Hafensommer Programmheft 2014

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achselzuckend mit den Gegebenheiten abfindet. Mit dieser im Grund bourgeoisen Geste geben sich Brasiliens gebildetere Stände zufrieden, nicht aber einige Studenten aus dem tropischen Nordosten, aus Bahia. Sie verfolgen die Pop-Sendung „Jovem Guarda“ für die Prols und spüren das Revoltierende in Klang und Körpersprache; sie nehmen aber auch die Bilder von den französischen Studentenprotesten mit dem Spruch „Verbietet die Verbote!“ an Häuserwänden wahr, sie sehen im Kino Godard und Truffaut, sie hören Rolling Stones und Beatles, studieren aber auch Schönberg und Stockhausen, lesen Camus und Sarte und sehnen sich nach einer Ausdrucksform für die eigene Zerrissenheit. Oder wie Caetano Veloso es bald formulieren wird: „Ich komme aus Bahia, und ich bin ein Fremder.“ Die Junta und der hochwillkommene brasilianische Nationalstolz können dies nicht ändern; die Salon-Linke und die wenig glamouröse Polit-Wirklichkeit vor dem Putsch ist auch nicht, wonach diese Jungen Wilden vom Lande suchen. Sie finden zumindest eine künstlerische Metapher in einer Installation des einheimischen Avantgarde-Künstlers Hélio Oiticia: Der stellt eine schäbige Hütte, wie man sie in jeder Favela findet, in eine Galerie, darin ein eingeschaltetes Fernsehgerät, der Generäle liebstes Spielzeug zur Ruhigstellung des Volkes. Die Installation trägt den Namen „Tropicalia“: Gilberto Gil, Tom Zé, Gal Costa und Caetano Veloso nehmen den surrealen Antagonismus auf und erinnern sich an einen alten, 1928 vom Dichter Oswald de Andrade ausgegebenen Kampfbegriff, den Kultur-Kannibalismus des Manifesto Antropófago. Sie versuchen westliche Popmusik, psychedelische Drogen, die reale Armut der heimatlichen Provinz, Samba und Bossa Nova, die Götter des Candomblé hinunterzuschlingen und etwas Neues: zu erbrechen. Zu erzwingen. Mit einem Mal sind – wie auch in London, in Los Angeles, in Paris – die grauen Klamotten aus dem Leben der Menschen verschwunden; die Tropicalia trägt grüne Sci-fi-Kostüme aus Plastik, Schmuck aus Stromkabeln und einen Afro, wem er denn wächst! Dazu spielt eine Horde Außerirdischer, die sich mit vollem Problembewusstsein Os Mutantes nennen und in ihren Songs die kannibalisierten Elemente der Hippiekultur synchronisieren: „Bat Macumba Iê Iê Iê!“ – Bat nach Batman, Macumba nach einer synkretistischen Religion und Iê Iê Iê nach dem Yeah Yeah Yeah der Beatles. Und da das neue Medium der Stunde, da die vielen Fernsehkanäle nach Programm verlangen, bekommen auch die Tropicalia-Wirrköpfe ihre eigenen Shows, obwohl – wie Dylan, wie Hendrix, wie Lennon – die Musiker vom Studiopublikum oft

genug ausgebuht werden, weil sie sich über Konsumgesellschaft, brasilianischen Nationalstolz und linke Selbstgerechtigkeit ebenso lustig machten wie über die Junta, wenn sie als Bühnenhintergrund ein Banner aufhängen, auf dem zu lesen steht, dass in Zeiten wie diesen der Kriminelle ein Held sei. So geschehen 1968, kurz nach Erscheinen des noch heute als Standardwerk der Tropicalia angesehenen Albums „Tropicalia ou Panem et Circensis“ mit seiner Mixtur aus etwas kruder Psychedelik und südamerikanischem Rhythmusgefühl, eher eine Werkschau der Dissidenz als ein politisches oder künstlerisches Statement. Die Tropicalistas als bislang unbehelligte Hofnarren des expandierenden Medienbetriebs haben sich unangreifbar gewähnt, haben übersehen, dass der eben noch treudoofe Landesvater sich angesichts der weltweiten Unbotmäßigkeit der Jugend entschlossen hat, die Daumenschrauben anzuziehen – und dies in ganz realen Folterkellern. Gilberto Gil und Caetano Veloso müssen für ein halbes Jahr im Gefängnis und werden dann nach Großbritannien hinweg komplimentiert. Weniger bekannte Vertreter des brasilianischen Hippie-Stammes verschwinden in der Psychiatrie oder begehen nach Foltersitzungen Selbstmord wie der Dichter Torquato Neto. Es dauert zwei Jahrzehnte, bis späte Fans wie Kurt Cobain oder David Byrne die Tropicalia wieder ins Pop-Gespräch bringen: eine Musik, geboren aus dem Bewusstsein, anders zu sein. Unbeheimatet. Vielschichtig. Uneindeutig. Pop. Und bis die politisch Verfolgten von einst in ihrem Land Verantwortung übernehmen: Tom Zé ist ein Vorreiter im Kampf gegen AIDS in Brasilien und Gilberto Gil akzeptiert 2003 den Posten des Kulturministers unter Präsident Lula und bleibt fünf Jahre im Amt. Sein größtes Anliegen: Jugendlichen in den Favelas den ungehinderten Zugang zur Kulturproduktion zu ermöglichen durch billige Instrumente, Computer und kostenlose Musikdownloads.

Karl Bruckmaier (mit freundlicher Genehmigung des Autors, Abdruck aus der Buchveröffentlichung „The Story of Pop“ – Murmann Verlag, März 2014, Leinen, gebunden, 352 Seiten)

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Karl Bruckmaier moderiert seit vielen Jahren musikjournalistische Sendungen im Bayerischen Rundfunk (Club 16, Zündfunk, Nachtmix). Seit 1981 schreibt er Pop-Kritiken für die Süddeutsche Zeitung u.a. In einem anderen Leben ist der Autor und Übersetzer (Suhrkamp …) auch noch reichlich dekorierter Hörspielregisseur, u. a. ausgezeichnet mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden und dem Deutschen Hörbuchpreis. www.le-musterkoffer.de

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